Konferenz
»Der Haupt­feind steht im eigenen Land«

Die jährlich stattfindenden Konferenzen gegen den deutschen Imperialismus sollen den politischen Austausch und die Zusammenarbeit derjenigen revolutionären Kräfte fördern und vorantreiben, die in der Arbeiter- und demokratischen Bewegung für die Linie »Der Hauptfeind steht im eigenen Land« kämpfen wollen.

Braucht das Kapital den Faschismus an der Macht?

Und können Faschisten gegen Kapitalinteressen handeln und sein?

Jürgen Lloyd

Mai 2018

Ob das Kapital den Faschismus an der Macht braucht, ist eine Frage, die sich begründet nur dann beantworten lässt, wenn wir genauer fragen. Nämlich wenn wir fragen, wann, unter welchen Bedingungen die Bourgeoisie oder auch nur bestimmte Teile der Bourgeoisie den Faschismus an der Macht brauchen.

Warum ist das so? Das Kapital hat ein primäres Interesse nur an seiner im Bereich der Ökonomie sich realisierenden Herrschaft. Sein eigenes Interesse richtet sich unmittelbar nur auf seine eigene Verwertung, und sonst nichts. Dass es sich dennoch nicht in seinem Agieren auf den Bereich des ökonomischen Handelns beschränken kann und in der Folge auch an Aspekten der eigenen Herrschaft ein Interesse entwickelt, die nicht mehr im engeren Sinn den Bereich der Ökonomie betreffen, ist erst eine abgeleitete, sekundäre Seite für die Klassenherrschaft des Kapitals. Primär ist und bleibt für das Kapital nur sein Verwertungsinteresse und dabei kann es ihm egal sein – und ist es ihm auch egal – ob es seine Verwertung unter den politischen Bedingungen eines Kaiserreichs, einer bürgerlichen Demokratie oder einer faschistischen Diktatur sicherstellt.

Nachdem wir uns das bewusst gemacht haben, dann können und dann müssen wir allerdings auch fragen, wie die politischen Bedingungen kapitalistischer Herrschaft beschaffen sind und insbesondere auch, wie diese Bedingungen sich entwickeln und verändern.

Wenn wir den deutschen Faschismus und die Entwicklung der Weimarer Republik als Beispiel nehmen, dann lassen sich daran m.E. einige wesentliche Erkenntnisse gewinnen: Die Bourgeoisie hatte sich – mit Hilfe der anti-revolutionären Sozialdemokratie – aus der Novemberrevolution in die Weimarer Republik geflüchtet. Die bürgerlich-demokratische Republik stellte sich für die nach wie vor herrschende Kapitalistenklasse also dar als Ausweg aus der Gefahr, die die Novemberrevolution, die revolutionären, bewaffneten Arbeiter und die Rätebewegung für den Fortbestand ihrer Klassenherrschaft bedeutete. Die Zugeständnisse, die das mit sich brachte und die nötig waren um der Sozialdemokratie den Spielraum zu geben, ihre Aufgabe der Einfriedung der Arbeiterbewegung zu erfüllen, diese Zugeständnisse waren nie beliebt, und zwar waren sie auch bei allen Teilen des herrschenden Großkapitals unbeliebt. Aber spätestens beim ersten Abklingen der revolutionären Welle wurde deutlich, dass die Bereitschaft zu solchen Zugeständnissen unterschiedlich verteilt war.

Natürlich standen im Hintergrund dafür die unterschiedlichen Auswirkungen, die solche Zugeständnisse auf die Verwertungsbedingungen in den einzelnen Kapitalzweigen hatten. Ein kleines Beispiel kann das m.E. gut verdeutlichen: Die Frage der täglichen Arbeitszeit wurde von den Unternehmen des Bergbaus ganz anders betrachtet, als beispielsweise in der Chemieindustrie. Beim Bergbau beginnt und endet der Arbeitstag erst mal mit der relativ langen Prozedur des Ein- und Ausfahrens aus den Gruben. Diese für die Kapitalverwertung unproduktive Zeit war fix. Bei einem 10-Stunden Tag eine Stunde für die Ein- und Ausfahrt der Kumpel in Kauf zu nehmen, stellte eine spürbar bessere Situation für die Kohleindustriellen dar, als diese Stunde bei einem 8-Stunden Tag einkalkulieren zu müssen. Naheliegend, dass diese Industriellen also mit ganz anderem Nachdruck eine Verlängerung des Arbeitstags forderten, als z.B. in der Chemieindustrie. Es gibt noch viele weitere solche Bedingungen, die alle zusammen die unterschiedliche Bereitschaft der jeweiligen Kapitalgruppen zu Zugeständnissen an die Arbeiterklasse (und damit aber auch dafür, der Sozialdemokratie den entsprechenden Spielraum einzuräumen) erklären können.

Der Kapp-Putsch 1920 markiert einen ersten Versuch eines Teils der Bourgeoisie, die sich um den Alldeutschen Verband scharte, und der mit ihnen verbündeten reaktionären Großgrundbesitzer, mit den nicht mehr gewollten Zugeständnissen und der verhassten Republik ein Ende zu machen.

Spätestens in den Jahren 1928/29 setzte erneut das Streben der Großbourgeoisie nach einer Abkehr von den Zugeständnissen und der bürgerlich-demokratischen, vor allem durch die reformistische Sozialdemokratie transportierten, Einbindung der Masse der Arbeiterklasse hinter die Herrschaftspraxis der Bourgeoisie ein. Das imperialistische Monopolkapital sah sich wieder ökonomisch auf einen Stand der eigenen Stärke gekommen, dass es diese auch von den Beschränkungen befreien wollte, die in Folge der Novemberrevolution und durch die Niederlage im Ersten Weltkrieg ihm Schranken auferlegte. Auch hier waren wieder Differenzen zwischen einzelnen Kapitalgruppen vorhanden, die mit unterschiedlichem Nachdruck auf einen Abbau der Errungenschaften der bürgerlich-demokratischen Republik drängten. Aber sowohl im sogenannten Luther-Bund (= Bund zur Erneuerung des Reiches), im Januar 1928 gegründet, der auf eine reaktionäre Änderung der Verfassung (natürlich zum Zwecke der besseren und effektiveren Verwaltung) orientierte, als auch im Reichsverband der Deutschen Industrie, der 1929 mit seiner Denkschrift „Aufstieg oder Niedergang“ deutlich machte, dass er nun eine geänderte Politik wollte – und dafür auch eine andere Form der eigenen Herrschaft anstrebte –, als auch in den dann folgenden Regierungen Brüning, Papen, Schleicher fanden sich (manchmal einander abwechselnd) Vertreter unterschiedlicher Kapitalfraktionen, denen aber alle gemeinsam das Wollen war, die Schranken für eine erneute Machtausdehnung auf dem Weltmarkt und die Zugeständnisse im Innern an die Arbeiterklasse zu überwinden. Sie waren sich auch einig, dass sie hierzu die einsetzende Weltwirtschaftskrise in ihrem Sinne nutzen müssten.

Weil die imperialistische Bourgeoisie auf die Durchsetzung ihrer Ziele nicht mehr verzichten wollte oder auch weil sie meinte, nicht mehr darauf verzichten zu können, und weil sie aber auch zu der Einschätzung kam, diese in ihren Augen unverzichtbaren Ziele seien nicht mehr mit den Möglichkeiten der parlamentarisch-liberalen Form der eigenen Herrschaftsausübung durchzusetzen, deswegen entschied sie sich, dass sie den Faschismus an der Macht benötigte.

Bzw. um es wenigstens noch ein wenig genauer zu beschreiben: Deswegen entschied sie sich erst mal, die Möglichkeiten der Bevölkerungsmehrheit für die Artikulation anderer Interessen als derjenigen der herrschenden Monopolbourgeoisie einzuschränken. Das Regieren ohne eigene Basis im Parlament war ein erster Schritt und konnte sich in der Kanzlerschaft von Brüning noch auf die Duldung durch die Sozialdemokratie stützen, die solche Praxis als angeblich kleineres Übel der eigenen Basis verkaufte. Dann wurde der Art 48 der Reichsverfassung hervorgeholt und es begann das Regieren mit Verordnungen und Notstandsrecht. Auf diesem Weg wurde schrittweise die offene faschistische Diktatur vorbereitet und schließlich installiert. Und ich finde es schon ein Ausdruck bedauerlicher Ignoranz, wenn heute von Antifaschisten wieder mit der Logik des „kleineren Übels“ die eigene Strategie schmackhaft gemacht wird, von der wir doch wissen können, dass genau diese Logik des kleineren Übels, der Akzeptanz und Duldung jeglicher sich noch eskalierender Zumutung, die von der SPD als Begleitmusik des Wegs hin zum Faschismus in der Weimarer Republik bereits mit verheerender Wirkung praktiziert wurde, den Faschismus nicht verhindert hat, sondern ihn stattdessen (auch gegen den wohlmöglich ehrlichen Willen der Akteure) letztendlich mit vorbereitet hat.

Also: Braucht das Kapital den Faschismus an der Macht? – Ja, es braucht ihn. Es braucht ihn unter bestimmten Bedingungen – nämlich dann, wenn es Ziele verfolgt und deren Durchsetzung für unverzichtbar ansieht, die sich nicht mehr mit der auf Integration setzenden und ein Mindestmaß an Zugeständnissen erforderlich machenden Form der eigenen Herrschaftsausübung erreichen lassen.

Historisch war ein solches Ziel (es war nicht das einzige aber sicherlich eines mit maßgeblicher Bedeutung) – historisch war dieses Ziel die Vorbereitung und Durchführung des neuen Kriegs, mit dem die Ergebnisse des gescheiterten ersten Griffs zur Weltmacht revidiert werden sollte. Dieser Krieg war gerade mal ein Jahrzehnt nach dem Ende des Ersten Weltkriegs in der deutschen Bevölkerung mit den Mitteln der Integration (und mithin gestützt auch auf die Sozialdemokratie) nicht durchsetzbar.

Und wie sieht es heute aus?

Anscheinend ist heute die Durchsetzbarkeit jeglicher Zumutung und jeglicher Sauerei auf dem Weg der Integration, der „freiwilligen“ Zustimmung einer ausreichend großen Basis in der Bevölkerung, nahezu grenzenlos. Der nächste Krieg, der von Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg geführt wurde, der Jugoslawienkrieg benötigte keinen Faschismus an der Macht. Das war unter rot-grün durchsetzbar. Der Angriff auf die Errungenschaften der Arbeiterbewegung und der Gewerkschaften, der mit den Hartz-Gesetzen durchgeführt wurde, benötigte auch keinen Faschismus an der Macht, sondern einen SPD-Kanzler. Das Beispiel Stuttgart 21 demonstriert m.E. ganz gut, wie geschickt und erfolgreich die Bourgeoisie inzwischen in der Lage ist, Interessen, die Widerstand und Protest hervorrufen, dennoch durchzusetzen: Es war ja nicht der brutale Polizeieinsatz mit vielen Verletzten, der die Proteste beendete, sondern es war schließlich das Spielchen mit einer netten Gesprächsrunde unter dem Vermittler Heiner Geißler, das ausreichte, den Widerstand so weit einzubinden, dass alles wieder prima war im Ländle.

Es sieht also wirklich so aus, als wäre heute die Bourgeoisie gar nicht mehr vor das Problem gestellt, Interessen durchsetzen zu wollen, für die sie einen Faschismus an der Macht benötigten.

Doch auch wenn wir die Stärke und die Fähigkeiten der Integrationsstrategien des Monopolkapitals realistisch als sehr hoch einschätzen müssen, wäre es m.E. ein fataler Fehler, deswegen heute Entwarnung vor einer faschistischen Gefahr auszusprechen. Die historischen Entwicklungen können sehr schnell und in Sprüngen sich vollziehen.

Das zentrale Herrschaftsprojekt des deutschen Imperialismus nach dem Zweiten Weltkrieg, die EU, welche sich bislang als ungemein erfolgreich und geeignet gezeigt hat, dem deutschen Imperialismus in eine Position zu bringen, die er mit zwei Weltkriegen nicht hat erreichen können, dieses zentrale Herrschaftsprojekt könnte auch scheitern. Wie kann die Monopolbourgeoisie darauf reagieren? Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass sie bereit wäre, die erreichten Positionen kampflos aufzugeben und nicht alles aufzubieten, was ihr zweckmäßig erscheint: Eingeschlossen Krieg und Faschismus.

Das ist nur ein Feld, auf dem ich mir auch in relativ knappen Zeitperioden dramatische Entwicklungen vorstellen kann. Das Ringen mit und gegen die USA ist einerseits eng mit der Strategie der kapitalistischen europäischen Integration verbunden, kann aber andererseits auch selber eine Dynamik erhalten, bei der m.E. Faschismus als mögliche Option eine Rolle spielen kann. Und nicht zuletzt sollte uns die zunehmende rasante Rechtsentwicklung – ich brauch ja nur das neue bayerische Polizeigesetz zu nennen – vor Augen führen, dass die Monopolbourgeoisie anscheinend nicht so sicher ist, jegliche zukünftige Entwicklung mit den bisherigen Herrschaftsmethoden und im Rahmen der bisherigen Form ihrer Herrschaft meistern zu können.

Also: Ja, auch heute braucht das Kapital den Faschismus an der Macht – wenn auch aktuell noch nicht als realisierte Herrschaftsform, so doch als mögliche Option einer Herrschaftsform für die möglicherweise auch nicht so ferne Zukunft.


Nun noch – und ich werde mich dabei viel kürzer fassen – etwas zur zweiten Frage: Können Faschisten gegen Kapitalinteressen handeln und sein?

Ich kann mir das ganz einfach machen und sagen: Antwort: Nein, können sie nicht.

Aber ich will das doch wenigstens begründen und dabei auch ein Missverständnis ausräumen:

Wenn wir von einzelnen Faschisten sprechen oder auch von kleinen Grüppchen, dann ist es natürlich so, dass Menschen in dieser Gesellschaft individuell zu allen möglichen kruden Ideen kommen können und auch dementsprechend handeln. Und da kann es natürlich auch vorkommen, dass Faschisten entgegen Kapitalinteressen handeln können.

Wenn wir aber in dieser Frage auf das gesellschaftlich und historisch wirksame Handeln von Faschisten Bezug nehmen, dann bleibe ich bei meiner Antwort, dass sie nicht gegen die Interessen des Kapitals handeln und es auch niemals können. Zur Begründung könnte ich anführen, dass es kein historisches Beispiel gibt, wo es so etwas jemals gegeben hätte. Aber auf diese Argumentation möchte ich mich gar nicht beschränken. Ich sehe diese Antwort, dass Faschisten nicht gegen Kapitalinteressen handeln können, auch auf Grundlage unseres Geschichts- und Gesellschaftsverständnisses begründet. Wenn wir Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen begreifen, den Kampf um die Durchsetzung von Klasseninteressen also als das grundlegende Geschehen betrachten, auf dem sich geschichtswirksame Erscheinungen erst entwickeln, dann ist kein Platz für die Annahme, Faschisten könnten gegen Kapitalinteressen handeln. Und ich meine dabei natürlich nicht bloß individuelle partikulare Interessen einzelner Kapitalisten oder einzelner Kapitalgruppen, sondern es geht um Klasseninteressen. Denn das Klasseninteresse welcher Klasse könnten die Faschisten denn sonst zur Durchsetzung bringen? Ein eigenes Klasseninteresse des Faschismus existiert nun mal nicht.

Wir können aber sehen, wessen Klasseninteresse die Faschisten stets zur Durchsetzung gebracht haben, ab der Minute an der sie in die entsprechende Machtposition gehoben wurden. Es war das Interesse der Monopolbourgeoisie oder der Fraktion der Monopolbourgeoisie, die sich gerade im Machtkampf durchsetzen konnte genau weil ihre Interessen am weitesten mit dem allgemeinen Klasseninteresse der Monopole übereinstimmten. Und ich gehe jetzt nicht extra darauf ein, ob der Faschismus an der Macht etwa die Diktatur des Kleinbürgertums, des Lumpenproletariats oder irgend einer anderen Schicht, die sich in der Anhängerschaft der Faschisten wiederfand, gewesen sei. Solche Theorien sind schlichtweg – auch wenn sie immer noch und immer wieder auftauchen und beliebt sind – durch die reale Politik, die jeder installierte Faschismus historisch an den Tag gelegt hat, wiederlegt und nicht haltbar.

Also: Ich bleibe bei meiner schlichten Antwort: Nein, Faschisten können nicht gegen die Interessen des Monopolkapitals handeln!


Ich komme zum Abschluss: Wenn es so ist, dass der Faschismus an der Macht weder autonom im eigenen Namen handelt, noch die Interessen einer anderen Klasse als die der Monopolbourgeoisie durchsetzt, dann stellt das für uns auch eine konkrete theoretische Herausforderung: Wir müssen dann auch in der Lage sein, die Praxis des Faschismus an der Macht so zu erklären, dass erkennbar wird, wie diese Praxis sich aus den jeweiligen Klasseninteressen der Monopolbourgeoisie bzw. einer Fraktion unter den jeweiligen Bedingungen ihrer Herrschaftsdurchsetzung erklären lässt. Es gibt – jedenfalls wenn es um die relevante, geschichtswirksame Praxis geht – keinen Platz für Unerklärliches oder Irrationales. Das ist aber – davon bin ich überzeugt – eine leistbare, und in sehr großen Zügen auch bereits geleistete Aufgabe marxistischer Geschichtswissenschaft.