Konferenz
»Der Haupt­feind steht im eigenen Land«

Die jährlich stattfindenden Konferenzen gegen den deutschen Imperialismus sollen den politischen Austausch und die Zusammenarbeit derjenigen revolutionären Kräfte fördern und vorantreiben, die in der Arbeiter- und demokratischen Bewegung für die Linie »Der Hauptfeind steht im eigenen Land« kämpfen wollen.

Der deutsche Militarismus nach 1945

Johannes Oehme, Autor

Mai 2014

1. Mit Marx, Engels, Lenin, Liebknecht u.a. gegen Militarismus und deutschen Militarismus

Thema heute ist der deutsche Militarismus nach 1945 – nicht der Kampf gegen ihn. Auch wird kein systematischer Vergleich der Militärdoktrinen der BRD und anderer Länder durchgeführt. Einheit und Unterschied in den Strategien der kapitalistischen Großmächte sollen deutlich werden am historischen Material des deutschen Imperialismus, seiner gewachsenen und tradierten Besonderheiten, seiner besonderen Aggressivität.

Diese gewisse Beschränkung soll keineswegs die allgemeine Tendenz des Imperialismus zu Krieg und Weltkrieg relativieren. Im Gegenteil. Die Kriegsgefahr, die vom Imperialismus als Weltsystem wirklich ausgeht, ist – aus historischen Gründen, die sich wissenschaftlicherweise nicht mal eben wegwaschen lassen – im deutschen Imperialismus geradezu verkörpert und findet hier ihren sinnfälligsten Ausdruck. Die wirkliche Kriegsgefahr im Kapitalismus kann nur erkannt werden, wenn die zwischenimperialistischen Widersprüche analysiert werden, die sich vor allem in Form der Konkurrenz noch stets nationalstaatlich verfasster Großmächte austragen. Und gerade am Begriff und Inhalt des Nationalstaates erweist sich der kleine feine Unterschied zwischen den Großmächten, den die deutschen Ideologen je nach Bedürfnis und Interesse, je nach Bündniskonstellationen wahlweise wegwaschen wollen oder aber besonders herausstellen.

Wenn den anderen Großmächten ihre Verbrechen und ihre Mitverantwortung für die gehabten Weltkriege nachgeschrien werden – »Versailles! Dresden! Potsdam! Nürnberg! Schlafwandelei!« –, greint die deutsche Bourgeoisie, wie grau doch alle bösen Katzen dieser schlechten Welt bei Nacht besehen sind. Und wenn die anderen Großmächte die Bomben für die Freiheit ihres Kapitals zücken, kommen »ehrliche Makler« (Bismarck) mit Aktenkoffern und Kulturaustauschprogrammen des deutschen Sonderwegs und empfehlen sich dem reaktionärsten Abhub aller Länder als besonders sozialverträglicher Seniorpartner gegen die kapitalistische Konkurrenz, als bodenständigere Alternative zum kulturlosen Angloamerikanismus etc.

1.1. Funktion und Form des Militarismus im Allgemeinen

Alle imperialistischen Großmächte intrigieren und wühlen gegeneinander. Alle imperialistischen Großmächte packeln mit Reaktionären gegen die Revolution und bieten ihre Nationalstaatskonzeption als Heilsbringer feil. Alle imperialistischen Großmächte müssen das Mittel des Militarismus pflegen, um entsprechend ihrer ökonomischen Potenz die Aufteilung und Neuaufteilung der Welt zu erzwingen. Bekanntlich gibt es sogar faschistische Bewegungen in ausnahmslos allen imperialistischen Ländern. Und für alle imperialistischen Großmächte gilt die von Karl Liebknecht formulierte strategische Maßgabe des Marxismus-Leninismus: »Der Hauptfeind steht im eigenen Land!« Insoweit gilt auch Lenins Funktionsbestimmung des modernen Militarismus und Liebknechts Beschreibung seiner gesellschaftlichen Dimension für alle imperialistischen Länder.

Lenin zur Funktion des Militarismus: »Der moderne Militarismus ist das Resultat des Kapitalismus. In seinen beiden Formen ist er eine ›Lebenserscheinung‹ des Kapitalismus: als Kriegsmacht, die von den kapitalistischen Staaten bei ihren äußeren Zusammenstößen verwandt wird (›Militarismus nach außen‹, wie sich die Deutschen ausdrücken) und als Waffe, die in den Händen der herrschenden Klassen zur Niederhaltung aller wirtschaftlichen und politischen Bewegungen des Proletariats dient (›Militarismus nach innen‹).«

Liebknecht, Militarismus und Antimilitarismus, 1907, zur Form des Militarismus: »Der Militarismus tritt danach auf: erstens als Armee selbst, sodann als ein über die Armee hinausgehendes System der Umklammerung der ganzen Gesellschaft durch ein Netz militaristischer und halbmilitaristischer Einrichtungen … ferner als ein System der Durchtränkung unseres ganze öffentlichen und privaten Volkslebens mit militaristischem Geiste, wobei auch Kirche, Schule und eine gewisse feile Tendenzkunst, ferner die Presse, ein erbärmliches käufliches Literatengesindel und der gesellschaftliche Nimbus, mit dem ›unser herrliches Kriegsheer‹ wie mit einer Gloriole geschäftig umgeben wird, zäh und raffiniert zusammenwirken.«

1.2. Gründe für Besonderheiten des deutschen Militarismus

Warum nun ausgerechnet dem deutschen nationalstaatlichen Träger des imperialistischen Weltsystems die historische Rolle des besonderen Aggressors und schließlichen Weltkriegsbrandstifters zukommt, und warum hier ein faschistisches Regime errichtet werden konnte, das Georgi Dimitroff schon 1935 veranlasste festzustellen: »Die reaktionärste Spielart des Faschismus ist der Faschismus deutschen Schlages« – darüber geben unter anderem Marx (schon 1844), Engels, Liebknecht 1907, Lenin, Dimitroff 1935, Lukács 1948, Brecht 1952 Auskunft.

Marx 1844: »Die deutsche Geschichte schmeichelt sich einer Bewegung, welche ihr kein Volk am historischen Himmel weder vorgemacht hat noch nachmachen wird. Wir haben nämlich die Restaurationen der modernen Völker geteilt, ohne ihre Revolutionen zu teilen. Wir wurden restauriert, erstens, weil andere Völker eine Revolution wagten, und zweitens, weil andere Völker eine Konterrevolution litten, das eine Mal, weil unsere Herren Furcht hatten, und das andere Mal, weil unsere Herren keine Furcht hatten. Wir, unsere Hirten an der Spitze, befanden uns immer nur einmal in der Gesellschaft der Freiheit, am Tag ihrer Beerdigung.«1

Der historische Grund für die besondere Aggressivität des deutschen Imperialismus ist die Errichtung des Kapitalismus ohne erfolgreiche bürgerliche Revolution, von Staatsgnaden, unter der Ägide der Junker.

Engels 1870: »Die deutsche Bourgeoisie hat das Unglück, daß sie nach beliebter deutscher Manier zu spät kommt. Ihre Blütezeit fällt in eine Periode, wo die Bourgeoisie der andern westeuropäischen Länder politisch schon im Niedergang begriffen ist. […] Bei der so unendlich gesteigerten Wechselwirkung der drei fortgeschrittensten europäischen Länder ist es heutzutage nicht mehr möglich, daß in Deutschland die Bourgeoisie sich die politische Herrschaft gemütlich einrichtet, wenn diese sich in England und Frankreich überlebt hat. [1848] erschrak die deutsche Bourgeoisie […] nicht so sehr vor dem deutschen wie vor dem französischen Proletariat. […] Sie suchte Bundesgenossen, sie verhandelte sich an sie um jeden Preis – und sie ist auch heute noch keinen Schritt weiter. Diese Bundesgenossen sind sämtlich reaktionärer Natur. Da ist das Königtum mit seiner Armee und seiner Bürokratie, da ist der große Feudaladel, da sind die kleinen Krautjunker, da sind selbst die Pfaffen. Mit allen diesen hat die Bourgeoisie paktiert und vereinbart, nur um ihre liebe Haut zu wahren, bis ihr endlich nichts mehr zu schachern blieb. Und je mehr das Proletariat sich entwickelte, je mehr es anfing sich als Klasse zu fühlen, als Klasse zu handeln, desto schwachmütiger wurden die Bourgeois.«2

Deutschland wurde von der Konkurrenz wie widerwillig zur Einführung des Kapitalismus genötigt. Seither ist es bestrebt, sich mit den reaktionärsten Kreisen aller Länder gegen das Proletariat und die kapitalistische Konkurrenz zu verschwören, zumal da sein jung-dynamisches ökonomisches Potential ihm das Streben nach Neuaufteilung der Welt diktiert.

Über die entsprechende Besonderheit der deutschen Bewusstseinsgeschichte hat Georg Lukács 1948 ausgeführt:

»Dieser Prozess [die Zerstörung der Vernunft], dessen Anfänge im feudal-restauratorischen, reaktionär-romantischen Kampf gegen die Französische Revolution zu suchen sind, und dessen Aufgipfelung … in der imperialistischen Periode des Kapitalismus erfolgt, ist keineswegs bloß auf Deutschland beschränkt. Sowohl seine Ursprünge, wie seine Hitlersche Erscheinungsform, wie sein Weiterleben in unserer Gegenwart haben ökonomisch-sozial internationale Wurzeln, und die irrationalistische Philosophie tritt deshalb ebenfalls international auf. Wir haben jedoch in der Einleitung sehen können, dass sie nirgends jene teuflische Wirksamkeit erreichen konnte, wie eben im Deutschland Hitlers, dass sie mit sehr seltenen Ausnahmen nirgends jene Hegemonie erlangte, wie schon vorher in Deutschland, und zwar nicht nur im deutschen, sondern auch im internationalen Maßstabe. Darum war es notwendig, in diesem Kapitel jene gesellschaftlich-geschichtlichen Tendenzen kurz aufzuzeigen und zu analysieren, die aus Deutschland eine solche Heimat, ein solches Zentrum der Vernunftfeindlichkeit gemacht haben. …

Aus der Lektion, die Hitler der Welt gab, sollte jeder Einzelmensch wie jedes Volk versuchen, etwas für sein eigenes Heil zu lernen. Und diese Verantwortung besteht besonders zugespitzt für die Philosophen, die verpflichtet wären, über Existenz und Entwicklung der Vernunft nach Maßgabe ihres realen Anteils an der gesellschaftlichen Entwicklung zu wachen. (Damit soll ihre reale Bedeutung in der gesellschaftlichen Entwicklung nicht überschätzt werden.) Sie haben diese ihre Pflicht innerhalb und außerhalb Deutschlands versäumt, und wenn sich auch bis jetzt die Worte von Mephistopheles über den verzweifelten Faust:

›Verachte nur Vernunft und Wissenschaft, / Der Menschen allerhöchste Kraft, / So hab ich dich schon unbedingt‹

nicht überall verwirklicht haben, so bedeutet dies – wenn keine Wendung erfolgt – für kein anderes Land der imperialistischen Ökonomie, für keine andere bürgerliche Gedankenkultur im Zeichen des Irrationalismus die geringste Garantie dagegen, dass sie morgen nicht von einem faschistischen Teufel geholt werden, gegen den selbst Hitler vielleicht nur ein stümperhafter Anfänger gewesen ist. Die Beschränkung der Analyse auf die deutsche Entwicklung, auf die deutsche Philosophie will also gerade dieses ›discite moniti‹ unterstreichen.«3

1.3. Zur besonderen Aggressivität des deutschen Imperialismus

Ein Ausdruck der besonderen Aggressivität des deutschen Imperialismus ist die systematische Verwendung der blutsrechtlich begründeten Volksgruppenpolitik und der Kriegswaffe des Antisemitismus, mit dem ein Krieg gegen West und Ost, gegen »Plutokratie« und »Proletariat« gerechtfertigt werden kann. Solang und sofern mit den Westmächten ein Auskommen ist, gibt man sich hierzulande (»neo«)liberal. Doch die latente und immer offenere Drohung mit der völkischen Option der Außenpolitik ist ein ständig vorhandenes besonderes Kampfmittel auch gegen westliche Konkurrenten und »volksfeindliche Interessengruppen« wie zum Beispiel Gewerkschaften.

Diesen völkischen, präbürgerlich verbrämten Weg nationalstaatlicher Entwicklung schlug die deutsche Reaktion auf die Französische Revolution ein und entfaltete die entsprechenden ideologischen Potentiale und Rechtfertigungszusammenhänge im 19. Jahrhundert. Ein Artikel von Friedrich Engels aus dem Jahr 1859 gibt Aufschluss über die Reife jener fixen Ideen der deutschen Bourgeoisie. Die Phrase von der »Verteidigung Deutschlands am Hindukusch« kursiert demnach in der Form »Verteidigung des Rhein am Po« schon 1859. Auch wird Frankreich bereits 1859 als »Erbfeind« apostrophiert (also von Engels in spöttelnde Anführungszeichen versetzt). Vor allem aber konzipieren gewisse Europastrategen schon 1859 an einer Volksgruppenpolitik als Mittel zur Erringung der Hegemonie über jegliche europäische – tatsächliche wie potentielle – Konkurrenten.

Engels 1859: »Zu einem mit wahrem Fanatismus verteidigten Glaubensartikel aber wird diese Ansicht [Italien müsse von Deutschland beherrscht werden] in der Augsburger “Allgemeinen Zeitung”, die sich zum Moniteur der deutschen Interessen in Italien aufgeworfen hat. Dies christlich-germanische Blatt, trotz seines Hasses gegen Juden und Türken, ließe eher sich selbst beschneiden als das ›deutsche‹ Gebiet in Italien. Was von den politisierenden Generälen schließlich doch nur als eine prächtige militärische Position in den Händen Deutschlands verteidigt wird, das ist in der Augsburger ›Allg[emeinen] Zeitung‹ ein wesentlicher Bestandteil einer politischen Theorie. Wir meinen jene ›mitteleuropäische Großmachtstheorie‹, die aus Östreich, Preußen und dem übrigen Deutschland einen Bundesstaat unter Östreichs vorwiegendem Einfluss errichten, Ungarn und die slawisch-rumänischen Donauländer durch Kolonisation, Schulen und sanfte Gewalt germanisieren, den Schwerpunkt dieses Länderkomplexes dadurch mehr und mehr nach Südosten, nach Wien verlegen und nebenbei auch Elsaß und Lothringen wiedererobern möchte. Die ›mitteleuropäische Großmacht‹ soll eine Art Wiedergeburt des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation sein und scheint unter andern auch den Zweck zu haben, die weiland östreichischen Niederlande sowie Holland sich als Vasallenstaaten einzuverleiben. Des Deutschen Vaterland wird ungefähr zweimal so weit reichen, als jetzt die deutsche Zunge klingt; und wenn das alles in Erfüllung gegangen ist, dann ist Deutschland der Schiedsrichter und Herr Europas. […] Der einzige Stamm, der sich noch sittliche Kraft und historische Befähigung bewahrt hat, sind also die Germanen, und von diesen sind die Engländer auch so tief in insularen Egoismus und Materialismus versunken, dass man ihren Einfluss, ihren Handel und ihre Industrie durch kräftige Schutzzölle, durch eine Art rationellen Kontinentalsystems vom europäischen Festland entfernt halten muss. Auf diese Weise kann es dem deutschen sittlichen Ernst und der jugendlichen mitteleuropäischen Großmacht gar nicht fehlen, dass diese letztere binnen kurzem die Weltherrschaft zu Wasser und zu Lande an sich reißt und eine neue geschichtliche Ära einweiht, bei der Deutschland seit langer Zeit endlich einmal wieder die erste Violine spielt und die übrigen Nationen nach ihr tanzen.«4

Aus der materiell begründeten Bereitschaft, den Kapitalismus ohne und gegen die bürgerliche Revolution ins Werk zu setzen, entspringt die Nicht-Übersetzbarkeit des deutschen Wortes »Volk«. Daher der Unterschied der bürgerlich-revolutionären und der blutsrechtlich-völkischen Nationalstaatskonzeptionen: Hier die Nation als Gefäß für das Glück des Einzelnen und das Recht der Interessengruppen, dort die Nation als Gefäß zur Erdung und Beerdigung des Klassenzwists und der bürgerlich-proletarischen Freiheiten und Verantwortungslosigkeiten. Daher aber auch der außerordentliche politische Stellenwert der deutschen Militaristen, der »politisierenden Generäle«, jener Staatsbürger in Uniform, die berufen sind, auch jene politischen Geschäfte zu besorgen, die andernorts die Bourgeoisie selbst erledigt.

Die Beschränkung auf den deutschen Militarismus wird also nicht nur der strategischen Maßgabe Karl Liebknechts – »Der Hauptfeind steht im eigenen Land!« – methodologisch gerecht. Sie ermöglicht es ferner, jene historisch tradierten Bedingungen in Rechnung zu stellen, die Deutschland zum Beispiel zwei Weltkriege anzetteln und 1990 als einziges imperialistisches Land sein Territorium vergrößern ließen, und zwar durch eine Annexion.

1.4. Annexion, Kriegsgefahr, Weltkrieg bei Marx/Engels

Mit Blick auf die Annexion der DDR lohnt es sich, Erkenntnisse von Marx und Engels in Erinnerung zu rufen, zum Beispiel die, die sie schon 1870 zur Auswirkung deutscher Annexionen und Friedensdemagogie niederschrieben und propagierten:

»Die Militärkamarilla, Professorschaft, Bürgerschaft und Wirtshauspolitik gibt vor, die Annexion Elsass-Lothringens sei das Mittel, Deutschland auf ewig vor Krieg mit Frankreich zu schützen. Sie ist umgekehrt das probateste Mittel, den Krieg in eine europäische Institution zu verwandeln.«5

1875 statuiert Engels dann schon lapidar:

»Nicht Frankreich, sondern das Deutsche Reich preußischer Nation ist der wahre Repräsentant des Militarismus.« 6

Und nicht später als 1888 antizipiert Engels den Zwang Deutschlands, einen 1. Weltkrieg vom Zaun zu brechen, aus dem Grunde, den Lenin später als imperialistische Aufteilung der Welt und daraus resultierende Weltkriegsgefahr beschreiben wird.

Engels 1888 zum deutschen Pragmatismus und zur Weltkriegsgefahr: »Deutschland wird Verbündete haben, aber Deutschland wird seine Verbündeten und diese werden Deutschland bei erster Gelegenheit im Stich lassen. Und endlich ist kein andrer Krieg für Preußen-Deutschland mehr möglich als ein Weltkrieg, und zwar ein Weltkrieg von einer bisher nie geahnten Ausdehnung und Heftigkeit. 8 bis 10 Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen und dabei ganz Europa so kahlfressen, wie noch nie ein Heuschreckenschwarm.«7

2. Einblicke in Militärstrategien des deutschen Imperialismus 1938-1945

2.1. Zur militaristisch-faschistischen Opposition gegen Hitler

Im Zuge der Vorbereitung der deutschen Aggression gegen die Tschechoslowakei kommt es zu einer grundlegenden Reorganisation der Wehrmacht. Im Januar 1938 werden der Kriegsminister von Blomberg und der Oberbefehlshaber des Heeres von Fritsch unter fadenscheinigen Vorwänden verabschiedet (damals noch nicht Doktortitel oder Handyverträge, sondern Ehe mit Prostituierter und Homosexualität). Im Februar wird das Reichswehrministerium aufgelöst und das Oberkommando der Wehrmacht unter dem Oberbefehl Hitlers gebildet. Im August schließlich wird General Ludwig Beck der Abschied gegeben.

Hintergrund dieser Maßnahmen war ein seit 1918 schwelender strategischer Widerspruch in der junkerlichen Militärkaste, die die Armee dominierte.

So repräsentiert Erich Ludendorff den »hep!«-faschistischen Teil der Reichswehroffiziere, für die eine Republik auch mit solch rechten Sozialdemokraten wie Noske immer noch völlig unakzeptabel, links und verjudet ist. Außenpolitisch will er entsprechend möglichst rasch mit der Achse gegen den Rest der Welt ziehen.

Hans von Seeckt (ehem. DVP) hingegen, maßgeblicher Betreiber der heimlichen Aufrüstung der Reichswehr in den 20er Jahren, hält die Ziele des deutschen Imperialismus zumindest zeitweilig auch mit Republik für realisierbar. Er schlägt 1923 den Münchener Hitler-Ludendorff-Putschversuch nieder. Außenpolitisch steht er für ein strategisches Bündnis mit England und Italien. Neben seiner politischen Konzeption trennt ihn zumindest in den 20er Jahren auch Offiziersdünkel um ein gutes Haarbreit von der »Nazi-Kanaille«.

Die deutsche Militärdoktrin schaltet ab 1937 auf Bruch zuerst mit England – Angriff auf den Westen durch Einnahme der CSR und Polens – Stundung des Ostfeldzuges. Dabei murrt ein Teil der Generalität über die Hast, mit der der andere Teil inklusive Hitler Deutschland in den Krieg gegen England zu treiben droht. Eine Gruppe von »Septemberverschwörern« will Hitler stürzen. Beck, Schüler von Seeckts, tritt sogar offen gegen Hitler auf, versucht die Generalität zum geschlossenen Rücktritt zu bewegen.

Goerdeler (ehem. DNVP) ist Wirtschaftsmann (u.a. Bosch), repräsentiert eine den kleineren Monopolen entsprechende etwas langsamere Gangart der deutschen Außen- und Kriegspolitik. Abwehr-Leiter Canaris ist durch Oster über die Verschwörungen von 1938/1944 im Bilde. Stülpnagel, verantwortlich für 30.000 Geiselerschießungen in Frankreich, verhaftet 7/1944 1.500 SD-/SS-Leute, lässt sie aber später wieder frei. Von Brauchitsch führt bis Ende 1941 den Ostfeldzug. Halder ist 1944 nicht mehr bei den Verschwörern dabei, konzipiert nach 1945 die Remilitarisierung mit. Die »Septemberverschwörung« zielt auf eine Militärregierung aus Faschisten und Konservativen.

Das Münchener Abkommen zerstreut diese militaristische Opposition schlagartig und bindet die Generalität fester denn je an ihren auserkorenen Führer.

Die erst politischen, dann militärischen Erfolge des Westfeldzuges des deutschen Imperialismus sind die Konsensklammer, die den Verlust einiger militärischer Adelsprivilegien mit Ruhm und Ehre versüßt. Organisierte Signale einer militaristischen Opposition gegen Hitler finden sich nach den Auseinandersetzungen von 1938 erst wieder 1941, nach der Schlacht vor Moskau.

Zu den »Septemberverschwörern« treten 1941-44 eine Reihe jüngerer Militärs hinzu, u.a. von Stauffenberg, von Tresckow, von Schlabrendorff. Von Hassell und von Neurath repräsentieren den West-Rückversicherungsflügel der faschistischen Diplomatie, Popitz die entsprechende Beamtenschaft. Hjalmar Schacht, BIZ-Gründer, Bankier und Nazi-Finanzminister bis 1939, ist Ministerkandidat. Dietrich Bonhoeffer ist Kopf der antifaschistischen Bekennenden Kirche.

Die 1944er Verschwörung ist entsprechend der Frontentwicklung ideologisch etwas breiter aufgestellt, zum Teil republikanisch. Neben rechten Sozialdemokraten wie Noske und Dahrendorf werden ab Mitte 1944 auch linke Sozialdemokraten wie Julius Leber und Wilhelm Leuschner in die Regierung eingeladen und Kommunisten in den Putschplan eingeweiht - wobei letztere daraufhin eher die Alarmglocken läuten ob der Gefahr einer faschistischen Ersatzregierung.

Bis Mai 1945 werden ca. 200 »Walküren« hingerichtet.

Doch die über 100 Hinrichtungen und Tausende Verhaftungen, die im Juli 1944 nach dem berühmten Attentat Stauffenbergs allein auf die Militärs der »Walküre«-Verschwörung kommen, sollten nicht darüber hinwegtäuschen, wie sehr auch jenseits der Opposition zunehmend nach einer Art »Frieden« gelechzt wird.

2.2. Zur Separatfriedensstrategie des deutschen Imperialismus

Die Ausmaße und die Qualität der Westkontakte deutscher Militärs, Politiker, Diplomaten und Wirtschaftsführer in den Jahren 1941-1945 beweisen, dass der deutsche Imperialismus unmittelbar nach seiner ersten verlorenen Schlacht im 2.Weltkrieg seine Strategie wieder flexibilisiert. Die Verschärfung der Westkonfrontation durch Kriegserklärung an die USA am 11.12.1941 ist nur die Kehrseite stets zunehmender Bemühungen hochrangiger deutscher Faschisten und mehr oder weniger hitlerkritischer Militaristen um einen Ausgleich mit England und den USA. Immer verzweifelter ringt der deutsche Imperialismus um einen Waffenstillstand, einen Separatfrieden, eine antisowjetische Allianz und schließlich sogar eine Teilkapitulation im Westen.

Rudolf Heß landet schon im Mai 1941 in England und versucht einen Frieden auszuhandeln. Er sitzt lebenslänglich in Berlin-Spandau ein.

Joachim von Ribbentrop (als Hauptkriegsverbrecher hingerichtet) beauftragt 1942 u.a. den Großgrundbesitzer Max zu Hohenlohe, der mit dem englischen Hochadel versippt ist, England für eine Allianz gegen die Sowjetunion zu gewinnen.

Ernst von Weizsäcker billigt 1941 Sondierungsreisen des Verschwörers Trott zu Solz in die USA. 1950 wird der im Wilhelmstraße-Prozess verurteilte Kriegsverbrecher und Vater des späteren Bundespräsidenten Richard v.W. amnestiert und publiziert seine Erinnerungen.

Heinrich Himmler bemüht sich zunehmend seit 1942, an Hitler vorbei über Schweden (Wallenbergs-Churchill) und die Schweiz (A.Dulles) Kontakte für Friedensverhandlungen mit England und den USA zu knüpfen.

Am 4. Mai 1945 gelingt es Hitlers Nachfolger Karl Dönitz, mit dem britischen Marschall Bernard Montgomery eine Teilkapitulation zu vereinbaren. Sie ermöglicht flächendeckende Ruhe im Nordwesten und vereinfacht der Wehrmacht den bewaffneten Rückzug aus dem Osten einschließlich Zivilbevölkerung. Einen Versuch, bei US-Marschall Dwight Eisenhower teilzukapitulieren, lehnt dieser ab.

Am 7.Mai lässt die »Reichsregierung Dönitz« General Jodl eine Gesamtkapitulation der Wehrmacht zum 8.Mai, 23 Uhr, unterschreiben – allerdings in Reims bei Eisenhower, mit dem klaren Ziel, den Krieg im Osten doch noch fortsetzen zu können. Westdeutsche und andere Historiker geben sich bis heute viel Mühe, nicht zu begreifen, dass die zu diesem Zeitpunkt noch kämpfende Rote Armee dieses Papier nicht mal in der Pfeife rauchen kann. Die Sowjetregierung bestellt daher, wie es sich unter rechtschaffenen Weltbürgern gehört und von selbst verstehen sollte, alle Alliierten und die Oberbefehlshaber der Teilstreitkräfte des OKW (Heer, Luft, Marine) zum 8.Mai nach Berlin-Karlshorst, wo am 9.Mai, 0.16 Uhr, eine ordentliche Militärische Kapitulationsurkunde unterschrieben wird, die rückwirkend ab dem 8.Mai, 23.01 Uhr gilt. Erst mit diesem Akt ist die Separatfriedensstrategie des faschistischen deutschen Imperialismus endgültig gescheitert.

3. Der deutsche Generalstab im 1. Nürnberger Kriegsverbrecherprozess

Die Nürnberger Prozesse sind eine der bedeutendsten antifaschistischen Erscheinungen des gesellschaftlichen Überbaus im Deutschland der Jahre 1945-49. Rote Fahnen auf dem Reichstag und entlarvende Broschüren aus dem Osten z.B. verfangen bekanntlich im ideologischen Kampf nicht unbedingt bei allen Klassen. In Nürnberg aber wird der deutsche Faschismus nicht »nur symbolisch« oder »nur personalistisch« zu Grabe getragen. Dank Nürnberg können wir mit archivalisch bestens gesichertem Wissen die Struktur, die Arbeitsweise und die Widersprüche des deutschen Imperialismus der Phase 1933-45 analysieren.

Zugleich erdichten dort die Verteidiger und gewisse Kommentatoren die wesentlichen Motive des profaschistischen Geschichtsrevisionismus, die sich genau um die Anklagevorwürfe gruppieren. Sämtliche apologetischen Märchen der Nachkriegszeit, die auch heute noch neben der modernen Form »Nicht trotz, sondern wegen Auschwitz« kursieren, werden in Nürnberg ausgearbeitet: von direkter Leugnung des KZ-Systems und »Siegerjustiz«-Vorwürfen über Schuldzuweisungen an diesen oder jenen Alliierten (Stichworte: »Präventivkrieg gegen die SU«, »Chamberlain hat uns reingetrieben«) bis zu den Klassikern »Das habe ich nicht gewusst« und vor allem der Aufbauscherei taktischer Differenzchen zu strategischen oder gar weltanschaulichen Gegensätzen a la: »Der verrückte Hitler ließ die besonnenen Militärs nicht machen.« Die letzte faschistische Verteidigungsstellung ist daher zugleich eine neue Angriffslinie im allerdings noch nie so zurückgeworfenen Weltmachtstreben des deutschen Imperialismus.

»Die letzte faschistische Verteidigungsstellung«, Karikatur vom sowjetischen Graphikertrio Kukryniksy, 1946

In Nürnberg wird von den Alliierten gemeinsam dokumentarisch erwiesen und von den Angeklagten bezeugt, dass die Wehrmacht als Ganzes, insbesondere aber der Generalstab als Schöpfer und Säule des deutschen Faschismus an allen Planungen und Ausführungen aggressiver und völkermörderischer Handlungen maßgeblich beteiligt war. Kein Krieg, kein Eroberungsplan, kein KZ, keine Geiselerschießung – kein Hitlerismus ohne Wehrmacht, ohne Generalstab. In Nürnberg gestehen verantwortliche Militärs, dass der Generalstab Hitler zu Invasionen antrieb, dass er Menschenversuche für Militärforschung in Auftrag gab und SS-Leute beim Führer denunzierte, wenn Ergebnisse nicht schnell genug einkamen. Naziführer kennzeichnen den Ostfeldzug als reine Angriffshandlung etc.

3.1. Der deutsche Generalstab – »keine verbrecherische Organisation«?

»Die Autorität, auf die das deutsche Volk so oft und mit so unglücklichen Folgen reagierte, war in Wirklichkeit nicht der deutsche Kaiser von gestern oder der Hitler von heute, sondern der deutsche Generalstab. […] Der deutsche Militarismus wird, wenn er wiederkommt, nicht unbedingt unter der Ägide des Nazismus auftreten. Die deutschen Militaristen werden sich mit jedem Mann oder mit jeder Partei verbünden, die ihnen eine Wiedergeburt der deutschen bewaffneten Macht verspricht.«

Das stammt nicht aus einem FDJ-Flugblatt oder einer Ulbricht-Rede, sondern aus der Schlussrede des US-Generals Telford Taylor, dessen Haltung mit der Deklaration von Jalta vollauf übereinstimmte, in der es heißt: »Es ist unser unbeugsamer Wille, den deutschen Militarismus und Nationalsozialismus zu zerstören und dafür Sorge zu tragen, dass Deutschland nie wieder imstande ist, den Weltfrieden zu stören. Wir sind fest entschlossen, alle deutschen Streitkräfte zu entwaffnen und aufzulösen; den deutschen Generalstab, der wiederholt die Wiederaufrichtung des deutschen Militarismus zuwege gebracht hat, für alle Zeiten zu zerschlagen; …« [Hervorhebung vom Autor]

Die Generalstäbler wählten sich ihren Hitler für ihren Weltkriegsplan, so die Anklage der vier Alliierten, der eine »Liste 131« aller 131 Oberbefehlshaber der Wehrmacht beigefügt war.

»Liste 131« der vier Anklagevertreter (UdSSR, USA, GB, F)

  • die 4 obersten Führer des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW)
  • die 6 obersten Führer des Oberkommandos des Heeres (OKH)
  • die 5 obersten Führer des Oberkommandos der Marine (OKM)
  • die 6 obersten Führer des Oberkommandos der Luftwaffe (OKL)
  • 84 Oberbefehlshaber der Heeresgruppen und Armeen
  • 15 Oberbefehlshaber der Kriegsmarine
  • 11 Oberbefehlshaber der Luftwaffe

Das Urteil kennzeichnete jedoch den Generalstab und das OKW nicht als verbrecherische Organisationen und empfahl individuelle Aburteilungen.8 Der sowjetische Richter Nikitschenko, der deswegen dem Urteil eine »abweichende Stellungnahme« beifügte, die diesen Punkt bemängelte, durfte sich noch anhören, er wolle wohl die antifaschistische Eintracht stören. 10 Jahre später prägte die Mehrheit der Überlebenden der »Liste 131« die Bonner Politik.

Dennoch sollte die auch langfristige politische Wirkung der Nürnberger Prozesse besonders auf die deutschen Militaristen und ihren Aktionsspielraum nicht unterschätzt werden.

Nebenbei: Dass die US-Hauptankläger Jackson und Taylor keine naiven Idealisten waren und die »Dimitroff-Formel« nicht so abschätzig wegsophisterten wie heute manche deutsche Linke, zeigen eine ganze Reihe höchst aufschlussreicher Stellungnahmen, deren prägnanteste wohl von Taylor stammt: »Ohne die IG Farben wäre der 2.Weltkrieg nicht möglich gewesen.«9

4. 1945-1950

4.1. Die wichtigsten Stationen für die deutschen Militaristen im Zeitraum 1945-1951

Im Mai und Juni 1945 wird insbesondere in der britischen Zone die Auflösung der Wehrmacht verschleppt. In einem Wehrmachtstab Nord koordinieren Wehrmachtoffiziere Arbeitseinheiten, z.B. Minenräumverbände der deutschen Marine, die im Rahmen der britischen Flotte eingesetzt werden. Auf Protest der SU wird der Wehrmachtstab Nord im November 1945 in Deutsches Hauptquartier Nord umbenannt und 1947 in zivile Verwaltung überführt. Teile dieses Wehrmachtstabes werden in die britischen Dienstgruppen übernommen.

Ab September 1945 werden solche Dienstgruppen bei den alliierten Streitkräften überwiegend aus nicht aufgelösten Wehrmachteinheiten gebildet und offiziell mit Arbeitsdiensten zur Auflösung der Wehrmacht betraut.

Neben den Dienstgruppen wird in der US-Zone ab Mai 1946 eine Industriepolizei vorwiegend aus Wehrmachtangehörigen gebildet. Das sind kasernierte Einheiten, die offiziell im Auftrag der USA den Länderpolizeien bei der Beschlagnahme, Sicherung und Wartung von Technik und Waffen helfen sollen.

Truppenstärken der Wehrmachtreste in den drei westlichen Besatzungszonen 1945-1950

Dienstgruppen und Industriepolizei sind offiziell Abrüstungsinstitutionen, zugleich aber wichtige Bewährungsorte für Wehrmachtoffiziere, um Beflissenheit gegenüber den West-Alliierten an den Tag zu legen. Durch Aufhebung des Kriegsgefangenenstatus für Dienstgruppen ab 1.8.1947 werden Spezialisteneinheiten der Wehrmacht auf Freiwilligenbasis erhalten. 1948 umfassen die deutschen Dienstgruppen bei der US-Armee 16.000, die Industriepolizei 14.000 Mann.

Im Juni 1946 wird erstmals die Tätigkeit kriegsgefangener Generale und Generalstäbler der Wehrmacht in der Deutschen Gruppe in der deutschen Sektion bei der Historischen Abteilung des Hauptquartiers des US-Heeres in Europa verkündet. Offiziell wertet man dort den Weltkrieg aus, zusätzlich aber konzipieren Generale wie Franz Halder und Heinz Guderian aus ihren »Sonderkriegsgefangenenlagern« heraus Remilitarisierungs- und Ostfeldzugspläne.

Auch die zunächst der US-Army unterstellte Organisation Gehlen ist zu nennen.

Bis 1951 entstehen zahlreiche selbständige deutsche Militärorganisationen, so die Bruderschaft, das Geopolitische Zentrum, das Kameradenwerk und die Zentrale für Heimatdienst beim Bundeskanzleramt. In Bad Godesberg findet 1949 ein organisiertes Generalstäblertreffen statt.

4.2. Gründung des westdeutschen Separatstaates der Monopole und Militaristen

In Artikel 26 des Grundgesetzes heißt es:

»Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig.«

Das klingt in der Tat löblich, ja beruhigend. Der 1. Entwurf sprach jedoch noch von »Führung eines Krieges«. Im Parlamentarischen Rat wird der Antrag des KPD-Abgeordneten Renner, aus der hessischen Landesverfassung »Ächtung des Krieges« zu übernehmen, ohne Debatte abgelehnt. Der spätere Innenminister Lehr lehnt sogar die Verwendung des Begriffes Krieg ab. Der Rat beschließt das Verbot des Angriffskrieges und legalisiert damit implizit schon 1948 den »Verteidigungskrieg«.10

Wegweiser in Westberlin, 1960

Der Vorgang wirft ein bezeichnendes Licht auf die politische Entwicklung, die zur Gründung des westdeutschen Separatstaates führte. Die BRD war zwar vom ersten Tag an ein aggressiv militaristischer und revanchistischer imperialistischer Staat. Dies konnte aber 1949 noch nicht in aller Offenheit der Welt kundgetan werden. Der Präsident des Parlamentarischen Rates der Trizone Adenauer gibt seine Gutachten bei »Militärberatern« wie Hans Speidel noch im Geheimen in Auftrag. Teile der SPD ringen noch zusammen mit Kommunisten um die Stärkung bürgerlich-demokratischer Grundrechte. Und neben der Stärke des sozialistischen Lagers und der antimilitaristischen Massenstimmung in Westdeutschland muss die deutsche Bourgeoisie auch Vorbehalte der westlichen Alliierten berücksichtigen.

Die deutsche Bourgeoisie, die die ökonomische Krise von 1929 mit der Hitleroption löste, löst die militärische und politische Krise von 1945 mit der Adenaueroption. Und wie die Person Hitler nur eine Metapher und Marionette für die deutschen Weltkriegsbrandstifter ist, so die Person Adenauer für deren Wiederbewaffnung nach 1945. Die Ideologen dagegen, die Adenauer als großen Staatsmann verklären und mit Bismarck oder Ulbricht vergleichen, waten den Sumpfweg einer Personenglorifizierung, die auch Kritiker des Adenauer bedienen, wenn sie die an sich demokratische Bundesrepublik vom doch etwas zu schwarz-braunen Adenauer unterscheiden wollen. Kein Adenauer und keine BRD ohne die Herren der IG Farben, ohne den deutschen Generalstab, ohne Figuren wie Gehlen, Blank, Strauß, Oberländer, Globke oder den »PR-Berater« Jahn – aber auch kein Adenauer, keine BRD ohne strategische Reserven bei offenen »Jetzt!«-Faschisten.

Reinhard Opitz hat die Notwendigkeit einer faschistisch- antiwestlichen Option des deutschen Imperialismus nach 1945 unter anderem wie folgt begründet:

Weder war mit absoluter Gewissheit Verlass darauf, dass die in den Anti-Roosevelt- Kreisen der USA und im Londoner Kreis um Churchill früh ins Auge gefasste und nun deutlicher angestrebte Umorientierung der Westmächte auf den Bruch der Antihitlerkoalition und die Strategie offensiver Westpaktbildung zwecks Zurückdrängung der Roten Armee aus Osteuropa auch tatsächlich vollzogen würden.

Noch auch ließ sich abschätzen, ob daraus dann, wie man hoffte, ein baldiger gemeinsamer Westmächtefeldzug unter Einschluss deutscher Truppen zur ›Befreiung Osteuropas‹ und zur Niederwerfung des kriegsausgebluteten Sowjetrussland selbst oder vielleicht nur ein langwierig an den Grenzen der deutschen Besatzungszonen stagnierender Stellungskrieg – als eine dem heißen Krieg vorgeschaltete Phase der Rüstung für ihn – folgen würde.

Noch auch bestand Klarheit – und folglich auch keine Einigkeit – darüber, ob ein solcher, in der Sicht der Alt-SSler und überzeugtesten Hitlergeneräle den Westmächten nun nicht erspart bleibender eigener Endkampf mit dem »Bolschewismus« in Europa angelegt und geführt werden solle als ein Kampf um eine aus ihm hervorgehende vereinigte Weltmacht Europa oder als ein Kampf um die Ausweitung des Einflusses der ›atlantischen‹ Weltmacht und neuen westlichen Führungsmacht USA nunmehr auch auf das östliche Europa.«11

4.3. Zwei Taktiken der Regierung Adenauer: Die Europa-Wehrmacht-Op(posi)tion

Ein plastisches Beispiel für die Ausmittelung der realistischsten Remilitarisierungstaktik der deutschen Bourgeoisie liefert der Umgang Adenauers mit der bis 1950 zur »größten Geisterarmee Europas« angewachsenen Europäischen Bruderschaft Deutscher Nation, die seit 1945 aus der britischen Besatzungszone heraus Kader für den Aufbau einer von den USA möglichst unabhängigen Wehrmacht sammelt. Sie repräsentiert in etwa die militärpolitische Taktik Ludendorffs: »Faschismus jetzt gegen alle Feinde«, also die Option gegen jede Form der »Westintegration«, in einer ideologisch dürftig modernisierten Variation nordmystischer, nationalrevolutionärer und jungkonservativer Anschauungen.

Als Adenauer Ende 1949 den Panzergeneral und Pferdmenges-Angestellten Hasso von Manteuffel (FDP) in trauter Heimlichkeit empfängt, um sich über die Einbindung der Bruderschaft in die aufzustellende Bundeswehr beraten zu lassen, enttarnen die USA die Bruderschaft in der internationalen Presse und geben damit Adenauer zu verstehen, dass er sich seine Remilitarisierungskader woanders suchen solle. Adenauer dementiert beflissen jedes Wissen und jeden amtlichen Kontakt zur Bruderschaft – eifrig flankiert vom britischen Agenten Rudolf Augstein, der die Bruderschaft im Spiegel zum Splittergrüppchen abkocht.12 Diese Reservearmee wird aber nicht etwa zerschlagen, sondern zerfällt ab 1951 an inneren Widersprüchen angesichts der Fortschritte der EVG-/NATO-Lösung.

Auch die Verhaftung des Gauleiter-Kreises um den Goebbels-Nachfolger Werner Naumann im Jahr 1953 geht ausschließlich auf Initiative der britischen Besatzungsbehörden zurück.

»Das System der Verbindungen des Amtes Blank (1950-1955)«

So viele Fakten und bitter nötige Optionen und strategische Reserven schaffen und so wenig Karten aus der Hand geben wie möglich – mit dieser Taktik deckt die Adenauerregierung neben dem späteren NATO-Personal eine ganze Landschaft offen faschistischer, antisowjetisch-antiamerikanischer Kreise, so weit es unter den Besatzungsmächten nur geht.

Kaum bekannt ist der 1950 gegründete Friedrich-Wilhelm-Heinz-Dienst beim Bundeskanzleramt, der 1950-53 in Konkurrenz zur Organisation Gehlen politische und Rüstungsinformationen sammelt. Er steht entgegen den Besatzungsstatuten außerhalb Alliierter Kontrolle. Ihm wird die Zentrale für Heimatdienst angegliedert, aus der dann das Amt Blank und spätere Verteidigungsministerium hervorgeht.

Theodor Blank im Londoner »Morning Star«, 1954: »Meine Dienststelle hat die Pläne fertiggestellt für die Aufstellung der deutschen Divisionen. Über diese Dienststelle werden häufig falsche Vorstellungen verbreitet. So wird behauptet, dass hier ein neuer Generalstab im Entstehen sei. Das ist nicht der Fall. Selbstverständlich arbeiten in meiner Dienststelle ehemalige deutsche Offiziere. Das ist kein Geheimnis. Es sind etwa 150 Männer, die sorgfältig ausgesucht worden sind. Denn zur Vorbereitung der Aufstellung einer Truppe braucht man Soldaten, die Erfahrung in diesen Dingen haben. Bei ihrer Auswahl habe ich besonders darauf geachtet, dass niemand eingestellt wird, der Nazi gewesen ist oder sich irgendwelcher Verbrechen schuldig gemacht hat.«

5. 1950-1959

5.1. Aus der Chronik der Remilitarisierung Westdeutschlands 1950-60

Zwei Karikaturen von Jean Effel

1949/11 Petersberger Abkommen, Remilitarisierung offiziell »ausgeschlossen«

1950/5 Auf dem Petersberg beauftragen die Alliierten Adenauer mit der Remilitarisierung – noch vor Ausbruch des Koreakrieges

1950 Dienstgruppen kaserniert, mit Industriepolizei vereinigt, 200.000 Mann

1950/8 »Zentrale für Heimatdienst« beim Bundeskanzleramt = Generalstabskeim

1950 Himmeroder Denkschrift: Generale mahnen zu Verteidigung gegen Osten, nehmen den Korea-Krieg zum praktischen Anlass

1950/10 Amt Blank + Führungspositionen für Heusinger, Speidel, Kielmannsegg

1951 Mit dem 1. Strafrechtsänderungsgesetz (auch »Blitzgesetz« genannt, weil sogar die CDU-Parlamentarier sich überrümpelt fühlten) werden die Straftatbestände »Hoch- und Landesverrat« wiedereingeführt, und, noch über die faschistischen Justizgrundlagen hinaus, die sogenannte »Staatsgefährdung«

1951 Millionen-Soldauszahlungen an Kriegsverbrecher auf Basis des §131 GG

1951 BGS-Gründung (10.000) als Kaderreservoir der Bundeswehr

1952 Generalvertrag und EVG-Vertrag (bis 500.000 Bundeswehr) unterzeichnet

Der EVG-Vertrag, der die Aufstellung westdeutscher Divisionen vorsieht, rauscht 1954 in der französischen Nationalversammlung und im italienischen Parlament durch. Die deutschen und amerikanischen Militaristen sehen, dass momentan besonders auf Frankreich kein Verlass ist und arbeiten die WEU/NATO-Lösung aus.

1953 Erste offizielle Rüstungsgüterexporte der BRD. Empfängerland: Spanien

1954 BGS 15.000 Mann, Amt Blank wirbt Spezialisten aus Dienstgruppen ab

1954 »Pariser Verträge« unterzeichnet: BRD »weitgehend souverän«, WEU/NATO

1954 »Arbeitskreis Rüstung des Bundes der deutschen Industrie« gegründet

1955 Aufnahme der BRD in die NATO auf Grundlage der WEU

1955 »Amt Blank« wird Verteidigungsministerium, Strauß wird Atomminister

1956 900 Traditionsverbände. Stahlhelm 1956: 100.000. HIAG 1959: 15.000

1955-56 Rahmengesetzgebung Bundeswehr als Kaderarmee und Massenarmee

900 militaristische Traditionsverbände in der BRD von 1956

1956 offizielle Gründung der Bundeswehr

1959/9 NASA-Offizier Wernher v. Braun besucht die BRD, berät Atombombenbauer

1959 135 Organisationen des politischen Klerikalismus allein in Erzdiözese Köln

Erster Auslandseinsatz der Bundeswehr, Agadir 1960

1960 1. Auslandseinsatz des Bundeswehr nach einem Erdbeben in Agadir

5.2. Der politische Klerikalismus als Instrument der Kriegsvorbereitung

Bei den 900 Traditionsverbänden ist der politische Klerikalismus nicht berücksichtigt.13 Wo der Faschismus desavouiert ist, bietet er alternative Möglichkeiten für Mittelalteranleihen im Dienst des Militarismus. Der »satanische Osten« müsse durch »Gottes Zuchtrute«, den Atomkrieg, ausgeschaltet werden – so lässt sich der theologische Naturrechtsaufguss zusammenfassen, mit dem die reaktionären Vertreter des deutschen Klerus beider Konfessionen die Remilitarisierung forcieren.

»Wissenschaftliche Konferenz der Humboldt-Universität zu Berlin über das Wesen des militaristisch-klerikalen Regimes in Westdeutschland vom 26. bis 28. Oktober 1959«

In Hirtenbriefen an die deutschen Bischöfe treibt Papst Pius XII. als einer der ersten Staatsmänner überhaupt den Kampf gegen die Oder-Neiße-Grenze an, fordert z.B. am 1.3.1948, die »Vertreibung von 12 Millionen Menschen« rückgängig zu machen. Der »deutsche katholische Osten« wird wehmütig erinnert, die von Deutschland überfallenen Völker aber sollen sich »großmütig genug erweisen, die Vergangenheit zu vergessen«. 1939 gab Pius kein kritisches Wort zum Überfall auf Polen von sich.

Der Vatikan erkennt die seit 1950 vom polnischen Episkopat eingesetzten Bischöfe nicht an:

»Im ›Annuario Pontificio‹ von 1959 steht u.a geschrieben, dass Carl-Maria Splett, wohnhaft in Düsseldorf, bis heute Bischof von Gdansk ist. Diesen Splett kennt das polnische Volk nur zu gut: 1946 wurde er von einem Sondergericht in Gdanks wegen schwerer Verbrechen gegen die polnische Bevölkerung zu 8 Jahren Gefängnis verurteilt.«14

In Westdeutschland kommen die Reaktionäre beider Konfessionen bei ökumenischen Konzilen gegen den Osten einander näher.

Aus einem Gebetbuch von 1960

Der Deutschbanker Hermann Josef Abs, seit 1950 Ritter des Ordens zum heiligen Grabe, und Robert Pferdmenges, »evangelischer Kirchenältester« seiner Gemeinde, betreiben Milliardengeschäfte mit dem hohen Klerus. Wichtiger Geschäftsbereich sind Eigenheim- und Wohnungsbauten, die laut einer wüst-eklektisch modernisierten katholischen Soziallehre als »fruchtbarer Nährboden für Widerstandskraft gegen den gottlosen, satanischen Osten« beworben werden.

Der Klerus mischt sich in gewerkschaftliche Angelegenheiten ein, gründet berufsständische Organisationen, die SPD und DGB als bolschewistisch verschreien. Entproletarisierungskonzepte sprießen, z.B. die von Abs mit angeregte Volksaktienkampagne der CDU von 1958: »Eigentum für alle«, »Volkskapitalismus« nebst Förderung von »Spargedanke, Konsumverzicht, Verantwortungsbewusstsein« statt »Proletarisierung« etc.

Mit solchen Maßnahmen fördert der Klerus Hand in Hand mit Bankiers wie Abs und Pferdmenges die Kapitalkonzentration für die Aufrüstung und errichtet planmäßig Hypothekenhügel und Sozialillusionen.

»Monopolverbindungen des Kanzlermachers H.J. Abs«

Soziale Beschwichtigung korreliert politischem Aktionismus: Vor den Landtagswahlen 1958 geben die deutschen Bischöfe einen Hirtenbrief aus: »Kein gläubiger Christ kann sich der Verpflichtung zur Stimmabgabe entziehen, ohne sein Gewissen zu belasten.« Pius nennt die Nichtausübung des Wahlrechts eine »schwere Sünde« – gewiss nicht der SPD zuliebe. Auch Bischof Dibelius treibt seine Sprengel mit allen ideologischen Mitteln zur Wahl der CDU/CSU an.

Die Tage der Innerlichkeit sind bei Gott gezählt. Der Personalschematismus der Erzdiözese Köln von 1959 zählt 135 Vereinigungen, darunter neben Familienverbänden, Eheberatungsstellen und »Häusern der Begegnung« auch Sonderseelsorgen für Vertriebene und Polizisten, Schützenbruderschaften, Umzugskassen, Ostpriesterhilfen usw.

Adenauer und Strauß werden Ehrenritter des neugegründeten Deutschen Ordens.

Als Karl Barth 1959 einen entspannten Brief in die DDR schreibt, greift die FAZ ihn an: Er »will die Kirche vom Kämpfen abhalten.« (17.1.1959)

»Es fehlt eine allseitige marxistische Analyse der Adenauer-CDU als dem wichtigsten Instrument des politischen Klerikalismus. Diese Partei entstand als angeblich überkonfessionelle Sammlungsbewegung und knüpfte nicht nur an die sich nach dem Krieg vollziehende Hinwendung vor allem des Kleinbürgertums zur Religion an, sondern nutzte zum Beispiel auch die Teilnahme einiger Vertreter des Klerikalismus an der Generalsverschwörung vom 20.7.1944 aus, um sich als ›antifaschistisch‹ zu tarnen.«15

5.3. Zur näheren Regelung des § 131 GG über Angehörige des öffentlichen Dienstes

Artikel 131 des Grundgesetzes lautet:

»Die Rechtsverhältnisse von Personen einschließlich der Flüchtlinge und Vertriebenen, die am 8. Mai 1945 im öffentlichen Dienste standen [z.B. Soldaten aller Art und allerlei Schreibtischtäter], aus anderen als beamten- oder tarifrechtlichen Gründen [z.B. Krieg] ausgeschieden sind und bisher nicht oder nicht ihrer früheren Stellung entsprechend verwendet werden [weil sie z.B. Kriegsgefangene sind], sind durch Bundesgesetz zu regeln. Entsprechendes gilt für Personen einschließlich der Flüchtlinge und Vertriebenen, die am 8. Mai 1945 versorgungsberechtigt waren und aus anderen als beamten- oder tarifrechtlichen Gründen keine oder keine entsprechende Versorgung mehr erhalten.«

Bis 1955 wurde dieser Artikel durch Bundesgesetzgebung wie folgt näher geregelt:

  1. Man darf wegen des Gleichheitsgrundsatzes keine Sonderrechte für Beamtengruppen schaffen: Kriegsverbrecher = Soldaten.
  2. Offiziere müssen ihrer früheren Stellung entsprechend vergütet werden: Soldaten ≠ Offiziere.
  3. Für Gefangene muss tagweise Gefängniszuschlag ausgezahlt werden.
  4. Auch wer noch im Gefängnis sitzt, muss Jahressold in Höhe des zuletzt in der Wehrmacht erhaltenen Solds beziehen dürfen.
  5. Planstellen im öffentlichen Dienst sind für »131er« freizuhalten.

Die sowjetischen Militärrichter und Teilnehmer an den Nürnberger Prozessen Arkadi Poltorak und Jewgeni Saizew kommentieren:

»Auf diese Weise erhielten die Kriegsverbrecher je 40.000 bis 60.000 Mark, abgesehen von der laufenden Monatsrente von 1.500 bis 2.500 Mark. / Im Gefängnis von Landsberg setzte nach diesen ›Reformen‹ eine ›Bereicherungsepidemie‹ ein. Die Kriegsverbrecher, die von heute auf morgen mit der Entlassung rechneten, schafften sich Villen an, die ihrem ›Rang und ihren Gewohnheiten‹ entsprachen.«16

Mit solchen Summen nach der Währungsreform von 1948 war manche Existenzgründung möglich.

Zahlreiche Militaristenbiographien verlaufen sich auch auf Basis von Raubgut- und Pensionskapitalisierung in die Wirtschaft. General Walther Wenck, der noch im Mai 1945 den Sowjets zu schaffen machte, weil er über 100.000 Soldaten und Zehntausende Zivilisten um jeden Preis nur den Amerikanern ausliefern wollte, ist als Beispiel insofern von besonderem Interesse, als er 1957 von Strauß zum Generalinspekteur der Bundeswehr vorgeschlagen wurde. Doch Wenck lehnte ab. Er war inzwischen zum Generaldirektor des traditionsreichen17 und international operierenden Rüstungskonzerns Diehl avanciert und konnte Vaterland und Familie auf diesem Posten am besten dienen.

5.4. Zur Militarisierung der Wirtschaft Westdeutschlands 1945-1960

Die ersten offiziellen Rüstungsexporte der BRD gehen ab 1953 nach Spanien. Allerdings hatten deutsche Konzerne zwecks Umgehung von Rüstungsbeschränkungen schon ab 1945 Konstruktionsbüros bei ausländischen Rüstungskonzernen eröffnet.

»Der faschistische Flugkonstrukteur Messerschmitt beispielsweise entwickelte bei der spanischen Firma ›Hispano Aviacion‹ mehrere moderne Flugzeuge, darunter einen modernen Überschalljäger. Auch der berüchtigte Wehrwirtschaftsführer und Flugzeugkonstrukteur Dornier gründete 1945 in Spanien ein Konstruktionsbüro. Bezeichnend ist, dass die von Dornier hier entwickelten Flugzeugtypen heute in Westdeutschland gebaut und in der Bundeswehr eingesetzt werden.«18

1952 wird beim Bundesverband der deutschen Industrie ein Arbeitskreis für Rüstungsfragen beschlossen und bis 1955 zu einem Ausschuss für verteidigungswirtschaftliche Angelegenheiten mit 27 Arbeitsgruppen entfaltet. Neben bundeseigenen Konzernen decken vor allem die IG-Farben-Gruppe, Siemens, AEG, Degussa, Telefunken, Heinkel, Messerschmitt (MBB) und die Flick-Gruppe den westdeutschen und zunehmend den internationalen Rüstungsbedarf.

Aufstieg der BRD zum achtgrößten Waffenexporteur der Welt 1950-1960 anhand Zahlen von SIPRI.org

1959 deckt die BRD ihren Rüstungsgüterbedarf zu 60% aus eigener Produktion und ist 8.-größter Waffenexporteur der Welt (nach den 5 Alliierten, CSSR, Kanada).

Die von Adenauer und Strauß ab 1955 öffentlich immer vehementer eingeforderte und vom Bundestag 1958 beschlossene Atombewaffnung der Bundeswehr führt zu einer weiteren Konzentration der Rüstungsmonopole. So organisieren Krupp, Siemens und Flick bereits ab 1954 über eine Physikalische Studiengesellschaft Düsseldorf mbH Milliardenbeiträge für Grundlagenforschung, Reaktorentwicklung und Uranproduktion. 1958 wird die eigene Kriegsproduktion offen in Angriff genommen. Wernher von Braun besucht im September die BRD. Infolge alliierter Vorbehalte wird die nukleare Rüstungsproduktion nach 1960 zunehmend über Auslandsfilialen der deutschen Konzerne weiter vorangetrieben.

Importeure bzw. Lizenznehmer bundesdeutscher konventioneller Rüstungsgüter 1950-1960 anhand Zahlen von SIPRI.org

5.5. Zur Rahmengesetzgebung für den offiziellen Aufbau einer Kaderarmee

Das Freiwilligengesetz vom 23.7.1955 ermächtigt das Verteidigungsministerium, Freiwillige zu sammeln, bevor die Frage der Spitzengliederung der Streitkräfte überhaupt parlamentarisch erörtert wurde, nach bewährtem Prinzip: »Schon mal einsammeln, was nur rumliegt, und die anderen vor vollendete Tatsachen stellen«.

Das Personalgutachterausschussgesetz vom gleichen Tag dient der Legitimierung der Auswahl der höheren Offiziere. Zu den 24 zivilen Mitgliedern des Ausschusses, darunter 4 Sozialdemokraten, gesellen sich 14 Offiziere der Wehrmacht. Er lehnt bis zum Ende seiner Tätigkeit 1957 ganze 51 Bewerber ab, bestätigt aber 470 Bewerber (32 hatten zurückgezogen). Als Ablehnungsgründe gibt wikipedia an: »Generale und Obersten der Waffen-SS und Angehörige des« – Überraschung? – »ehemaligen Nationalkomitee Freies Deutschland durften nicht eingestellt werden.« Da der Ausschuss zwecks Wahrung von Persönlichkeitsrechten sehr geheim arbeitete, war nicht zu ermitteln, wie viele Bewerber nun wegen NKFD-Verbindung abgelehnt wurden. Diverse Offiziere der Waffen-SS allerdings wurden nach der Wahl des Ausschusses ohne Prüfung, nämlich direkt vom »Verteidigungsminister« rekrutiert und Adolf Heusinger gegen den Willen des Ausschusses zum Generalinspekteur der Bundeswehr ernannt.

Die Arbeitsweise des Ausschusses beschreiben Poltorak/Saizew:

Der Spiegel grübelt 1956 mit, ob Wehrpflichtigen- oder Berufsarmee effektiver sei.

»Wie wurde die Arbeit praktisch durchgeführt? Wurden die Archive der Entnazifizierungsausschüsse herangezogen? [›Nein.‹] … Ein Ausschussmitglied setzt sich in sein Auto und besucht den betreffenden Herrn General oder den Herrn Oberst in seinem Landhaus. In kameradschaftlichem Gespräch klärt er alle Fragen, die den Ausschuss interessieren. Allerdings macht man es auch anders, sagte Dr. Rombach [Vorsitzender] wörtlich. Man trifft sich mit dem Bewerber auf ›gesellschaftlicher Ebene‹: im Klub, bei einem 5-Uhr-Tee, einer Cocktailparty oder einem eigens arrangierten einfachen Sektfrühstück.«19

Das Eignungsübungsgesetz vom 20.1.1956 wird amtlich wie folgt kommentiert: »Eignungsübungen sollen dazu dienen, aus dem Kreis der Bewerber die geeigneten Führer und Ausbilder für die neuen Streitkräfte auszuwählen.« Die DDR-Juristen Kühlig/Schwarz kommentieren: »Demnach handelt es sich um eine Wiederholung des Reservistensystems der Wilhelminischen Ära und der Ausbildungsmethoden, die beim Aufbau der Reichswehr angewendet wurden.«20

5.6. Zur Rahmengesetzgebung für den Aufbau der Bundeswehr als Massenarmee

Die Wehrverfassung vom 19.3.1956 ist das Ergebnis des parlamentarischen Streits um die Frage, ob für den Ausbau der Streitkräfte weitere Ergänzungen des Grungesetzes notwendig seien. Die Adenauer-Koalition, die seit 1953 mit Zwei-Drittel-Mehrheit regierte, hielt das nicht für nötig, die Restopposition um so mehr. Mit 14 Änderungen des Grundgesetzes wird dem Ausbau der Bundeswehr zur Massenarmee eine legale Grundlage übergeholfen. Durch Ausnahmeregelungen wie im neuen Artikel 17a wird für Kriegsdienstverweigerer (ein Grundrecht laut Art.4 GG) das Grundrechte auf freie Berufswahl und für Kriegsdienstleistende das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung und Versammlung abgeschafft. Einen »Wehrbeauftragten des Bundestages« torpediert die Adenauer-Regierung so lang, bis sie ihn selber wählen kann – per Verfügung, dass zu seiner Bestallung eine einfache, zur Abberufung jedoch eine 2/3-Mehrheit erforderlich ist. So verkehrt die deutsche Beamtenkasuistik noch jedes demokratische Gesetz in sein Gegenteil.

Bundeswehr-Organigramm für Wikipedia-Leser

Ebenfalls am 19.3.1956 wird das Soldatengesetz verabschiedet, in dem es zum Beispiel heißt, dass »das Recht der freien Meinungsäußerung seine Schranken an den Grundregeln der Kameradschaft[!] findet«. Die Wählbarkeit von Zeit- und Berufssoldaten wird geregelt, die von Wehrpflichtigen nicht. § 33 dekretiert »staatsbürgerlichen Unterricht«. Bundeswehroffiziere werden zum Beispiel zwecks politischer Bildung mit Mitteln des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung zu Tagungen der Arbeitsgemeinschaft demokratischer Kreise, die vom ehemaligen NS-Führungsoffizier und »Heimatvertriebenen« Hans Edgar Jahn geleitet wird, abkommandiert. (Welt/Andere Zeitung, März 1957)

Das Wehrpflichtgesetz vom 21.7.1956 dekretiert u.a. die Wehrpflicht für alle deutschen Männer ab dem 18. und bis zum 60. Lebensjahr – nach Gebietsstand von 1937. § 24 regelt ferner die »Wehrüberwachung«, zu der eine rigide Meldepflicht gehört.

Weitere Gesetze wie die Musterungsverordnung vom 25.10.1956, die Wehrbeschwerdeordnung vom 14.12.1956 und die Wehrdisziplinarverordnung vom 21.2.1957, letztere mit 123 Paragraphen und ausgeklügeltem Geldstrafen- und Degradierungssystem, überschütten besonders wehrpflichtige Soldaten mit Verordnungen und Verpflichtungen, die selbst für deutsche Juristen kaum verständlich, geschweige beurteilbar sind.

Bundeswehr-Organigramm für Diplom-Verwaltungsspezialisten

So ist dann auch die Wehrverfassung und Streitkräftestruktur der BRD grober oder feiner darstellbar - für den einfachen Wikipedia-Leser oder für den Diplom-Verwaltungsweltmeister.

Ausweislich der 18. Auflage eines amtlich geförderten »Taschenbuchs für Wehrpflichtige« wird der Grundbestand an politischer Bildung, sprich revanchistischer Verhetzung des »Staatsbürgers in Uniform« jedenfalls in einprägsamere Formen gebracht.

Amtlich gefördertes Bildungsmaterial: Aus der 18. Auflage eines »Taschenbuchs für Wehrpflichtige«

6. Zu den außenpolitischen Strategien der deutschen Militaristen

1957 erklärt Strauß seinen Willen, die Bundeswehr atomar aufzurüsten. »Jeder Verteidigungsminister, der das nicht tut, gehört vor ein Kriegsgericht.« Jedoch weist das Militärgeschichtliche Forschungsinstitut der DDR auf die Widersprüche hin, die sich über dieser Frage entzünden:

»Nirgendwo trat jedoch die ganze Widersprüchlichkeit der NATO offener zutage als gerade in dieser Frage. […] Sowohl die herrschenden Kreise der USA als auch die Englands und Frankreichs waren sich darüber im klaren, dass Kernwaffen in der Hand westdeutscher Generale nicht nur ihre eigenen Positionen in der NATO schwächen würden […]. Sie waren auch nicht bereit, sich wegen der besonders aggressiven westdeutschen Ziele der Gefahr eines vernichtenden atomaren Gegenschlags von Seiten der Streitkräfte der sozialistischen Staaten auszusetzen.«21

Diese Situation ist der Hintergrund der so unterschiedlichen Reaktionen der Imperialisten auf den 17.6.1953, die Abriegelung Westberlins am 13.8.1961 oder den Start des ersten künstlichen Erdtrabanten »Sputnik« im Oktober 1957. Während manche US-Militärstrategen auf den Sputnik nachdenklich bis panisch reagieren, wird in der BRD dem »Sputnikschock« Paroli geboten, um die »Vorwärtsstrategie« nicht zu gefährden. So titelt Bild am 7.10.57: »Deutsche Raketen starteten künstlichen Mond« und beruhigt ihre antisowjetisch verhetzte Öffentlichkeit damit, dass die UdSSR den Sputnik deutschen Spezialisten verdanke.

Die NATO-Strategie des »flexible respond«, die ab 1964 bei unverminderter Aggressivität das sowjetische Militärpotential realistischer einschätzt, wird von Heusinger mitentwickelt. Von ihm sind auch militärpolitische Überlegungen dokumentiert, die die NATO als Instrument der westdeutschen Annexionspläne betrachten. Die deutschen Militaristen planen, im Fahrwasser des Antikommunismus ihre besonderen Ziele zu erreichen, die über die Annexion der DDR weit hinausgehen.

Remilitarisierungs-Spitzenkader Adolf Heusinger in Schrift und Bild

Zur außenpolitischen Strategie der Adenauerregierung gehört von Anfang an das Ausspielen der jeweils reaktionärsten Vertreter der Westalliierten gegeneinander. Mit Frankreichs Kollaborateuren schmiedet die BRD die Montanunion gegen England, mit Englands Diplomaten das Wehrmachtoppositions-Komplott gegen die USA, mit den US-Militaristen die Wiederbewaffnung gegen Frankreich. Sind auch die USA in der Zeit 1949-59 der außenpolitische Hauptpartner der deutschen Militaristen, wird mit äußerstem Pragmatismus nach Bündnismöglichkeiten gesucht, die die »politische Unabhängigkeit Deutschlands« befördern. Das zeigt besonders die Stärkung der Achse Bonn-Paris nach dem Antritt de Gaulles 1959.

7. Kurzbiographien der ranghöchsten Spitzenkader der Bundeswehr

Adolf Heusinger (1897-1982): Berufssoldat seit 1915, seit 1937 im Generalstab des OKH, Ostfeldzugplaner, Partisanenbekämpfer-Stratege, »Volkssturm«-Erfinder. Nach dem 20.7.1944 verhaftet, denunziert er sich bald wieder frei, genießt uneingeschränktes Vertrauen Hitlers, wird noch im März 1945 mit dem Aufbau eines »Wehrmacht-Kartenwesens« betraut. 1945-48 unter alliierter Kontrolle Aussagen in Nürnberger Prozessen, ab 1948 Organisation Gehlen, ab 1950 Berater Adenauers, Verhandlungsführer gegenüber den Alliierten. 1956-61 1. Generalinspekteur der Bundeswehr, aufgrund des Einspruchs des Personalausschusses »ohne Befehlsgewalt«. Gründer des »Soldatenhilfswerks«. 1961-64 Vorsitzender des NATO-Militärausschusses. Mitinitiator der »flexible response«-Strategie.

Adolf Heusinger, Theodor Blank, Hans Speidel – Amtsantritt

Dr. Hans Speidel (1897-1984): Im 1.Weltkrieg Leutnant, in Weimar »Theoretiker«, ab 1930 Militärgeheimdienst, 1932 nach Paris, Mitorganisator des Attentats in Marseille 1934, übergibt 1940 Paris an Hitler (Photos: Hitler und Speidel auf dem Eifelturm, Hitler und Speidel am Grab Napoleons etc.). 1943 Ostfront. 1944 Paris. Verbindet Rommel mit der »Walküre«, verrät ihn dann, wird nach dem 20.7.44 bis Kriegsende inhaftiert. Ab 1948 Berater Adenauers, ab 1950 Sachverständiger im Amt Blank, Vertreter der BRD bei EVG-/NATO-Verhandlungen. 1957-63 Oberbefehlshaber der NATO-Landstreitkräfte in Mitteleuropa. Auf Druck de Gaulles 1963 aus der NATO geschieden. 1964 erster Präsident der Stiftung Wissenschaft und Politik.

Friedrich Ruge bei einer Marineinspektion

Friedrich Ruge (1894-1985): Im 1.Weltkrieg Bootskommandant, bricht Waffenstillstandsabkommen (beteiligt an der Schiffs-Selbstversenkung bei Scapa Flow, um den Briten nichts ausliefern zu müssen). In Weimar Berufs-Marineoffizier mit Studienjahren. Nach 1933 Spionageabwehr. Nimmt als Chef der Minensuchboote an Invasionen in Polen, Frankreich, Italien teil. 1943 Vizeadmiral. 1944 Marine-Konstruktionschef. Freund Rommels. Nach 1945 »Theoretiker«, ab 1955 Amt Blank, 1. Inspekteur und Chef des Führungsstabes der Bundesmarine. Präsident der »Gesellschaft für Wehrkunde«.

Josef Kammhuber (1896-1986): Im 1. Weltkrieg Leutnant. Verweigert 1923 den Befehl, gegen den Hitler-Ludendorff-Putsch vorzugehen. 1933-39 Reichsluftfahrtministerium, koordiniert Bau von Bomberstaffeln. Führt am 10.5.1940 den Luftangriff auf Freiburg (47 Tote) aus, der den Vorwand für den totalen Luftkrieg und Überfall auf Luxemburg, Belgien, Holland und Frankreich liefert. 1941-43 Generalstab Luftwaffe. Nach 1945 Freund Strauß’ und Kesselrings, 1. Inspekteur der Luftwaffe 1956-62, dann Berater.

Friedrich Foertsch (1900-1976): 1918-33 Reichswehr. Bis ‘35 Generalstabsausbildung. Ab 1943 Generalstabschef an der Ostfront (18. Armee, Kurland). Belagerer Leningrads, wo er u.a. die Bombardierung explizit nicht-militärischer Ziele (z.B. der Eremitage) befiehlt. In der SU verurteilt zu 25 Jahren, 1955 in die BRD entlassen. 1956 Generalmajor der BW. 1959-61 SHAPE. 1961 2. Generalinspekteur der Bundeswehr bis 1963.

Josef Kammhuber (mitte) mit seinem Adjutant Adam von Gliga (rechts), der 1960 in die DDR geht und die Aufrüstung der Bundeswehr enttarnen hilft

Bedeutende Beratertätigkeit ohne aktiven Dienst leisten die Panzergenerale Heinz Guderian und Franz Halder, der Luftwaffenoffizier Albert Kesselring (Schöpfer des Worts »coventrieren«, »ohne SS keine Bundeswehr«, Stahlhelm-Führer) sowie Generalfeldmarschall a.D. Erich von Manstein.

Friedrich Foertsch - Titelbild der Spiegel-Ausgabe vom 8.Oktober 1962, die den Anlass für die sogenannte »Spiegel-Affäre« bildete

Von Manstein lehnt 1944 eine Teilnahme bei der “Walküre”-Verschwörung ab (= denunziert sie aber nicht!). Seit 1945 als Kriegsgefangener bzw. -verbrecher einsitzend und 1953 aufgrund eines Augenleidens entlassen, begleitet er die Remilitarisierung als »informeller Berater«, Militärtheoretiker und Memoirenschreiber. Die westdeutsche Historiographie beruhigt sich, er sei der einzige Generalfeldmarschall und ranghöchste Offizier aus der Weltkriegszeit, der nach 1945 in der BRD aktiv wird.

Hitlers Nachfolger Karl Dönitz verbüßt bis 1956 seine Strafe, schreibt dann Memoirenliteratur, gründet die »Reichsdeutschen«, hat aber keinen direkten Einfluss auf die Remilitarisierung und hinterlässt 1975 sein »Führeramt« Bundespräsident Karl Carstens.

8. Ursache und Wirkung der Grenzbefestigung vom 13.8.61 auf die Imperialisten

Zur Erinnerung: 1939 war der Überfall auf Polen auch »aus der Bewegung einer Militärübung heraus« erfolgt und mit der Provokation von Gleiwitz nur garniert worden. Die Militärübungen vom Schlage »Shape X«, »Fallex 61« und »Wintex 61«, die im Sommer 1961 die BRD prägten, fielen in der Tat mit sich häufenden Provokationen in Berlin zusammen.

Zusätzlich veröffentlichte der Forschungsbeirat für Fragen der deutschen Wiedervereinigung am 7.7.1961 ein neues, wie nie detailliertes Annexionsprogramm. In Westdeutschland schossen die Aktien 1961 eben nicht nur aufgrund des Zustroms an ausgebildeten Arbeitskräften aus dem Osten in die Höhe, sondern auch aufgrund der immer aggressiveren Vorbereitung eines von der NATO gedeckten Einmarsches der strukturellen Angriffsarmee Bundeswehr in die DDR und, den bekannten Planstudien zufolge, darüber hinaus.

Wie der deutsche Überfall auf Polen 1939 ein Überfall auf die westlichen Imperialisten war, zieht die Befestigung der Grenzen der DDR zur Freien Stadt Westberlin am 13. August 1961 auch eine Mauer zwischen die Westalliierten und die BRD – einen präventiv antifaschistischen Schutzwall im viel weiteren Sinne als gemeinhin angenommen. Sie erhöht das Risiko für den Weltimperialismus, über die westdeutschen Lösungsversuche der Berlinfrage in einen Weltkrieg zu geraten. Sie treibt einen Keil insbesondere zwischen die Großmächte USA, Großbritannien und BRD. In den USA halten auch die reaktionärsten Kreise spätestens ab dem 13. August eine Vorwärtsstrategie zunehmend für aussichtslos, während die Bundesregierung schäumt und zetert, dass die Alliierten die Gelegenheit für einen »Befreiungskrieg« ruhigen Gewissens verstreichen lassen.

Das Regierungspersonal Adenauers erweist sich in der folgenden Zeit nicht als flexibel genug, das Klasseninteresse der deutschen Bourgeoisie in eine weiche Politik des »Wandels durch Annäherung« umzusetzen. Es braucht noch Jahre, bis die deutschen Militaristen das 1961 offenkundig werdende vollständige Fiasko der NATO-Vorwärtsstrategie und der besonders aggressiven deutschen Weltkriegspläne zu realistischeren Konzeptionen verarbeiten. Und wie aus der deutschen Geschichte sattsam bekannt, überwinden die realistischen Militaristen von heute die militärpolitischen Krisen nur dadurch, dass sie die allseitigeren und gewaltigeren Kriegsabenteuer von morgen etwas gründlicher vorbereiten.

9. Ausblick

9.1. Einige offene Strukturfragen zu den 60er Jahren

  • Analyse der Gliederung der Streitkräfte (Grob- und Feinschema)
  • Struktur und Funktion der Reservisten(verbände)
  • Wehrpflichtarmee als Millionenarmee konzipiert
  • Schulen, Akademien, Offiziers-/Generalstabsschulen, Führungsakademien
  • Beispiel MGFA/ZmSBw (Standorte Freiburg, Potsdam, Straußberg)
  • Das Prinzip der Inneren Führung (+Arzt,Psych,Jurist,Pfaff,Verwalter, internalisier Führerprinzip) + Exportversuche
  • Bundeswehr nur Hauptinstitiution des deutschen Militarismus (Bundesnachrichtendienst, Länderpolizeien, Bundesgrenzschutz, Zoll, Verfassungsschutzbehörden des Bunds und der Länder …)

9.2. Einige offene historische Fragen zur Zeit 1961-1990

  • Reaktionen der Westalliierten auf die Grenzbefestigung zu Westberlin
  • BRD einziger Staat in Europa mit Territorialforderungen: Hauptkriegstreiber (Hitler 1935: keine Gebietsforderungen, Heusinger 1960: an 4 Länder, Kaiser: an 8 Länder)
  • 1968 ff.: Militärstrategien des deutschen Imperialismus nach den Ostverträgen
  • BRD und Franco, Pinochet, Apartheid
  • Das öffentliche Rekrutengelöbnis von 1980, seine Funktion
  • Das Rekrutengelöbnis im Betrieb Keiper 1981, seine Funktion
  • Einsätze vor 1990, ihr Charakter
  • Bundesdeutsche Rüstungswirtschaft bis 1990

9.3. Einige offene Fragen zur Zeit ab 1990

  • 1990: Annexion der NVA
  • 1990: Bundeswehr in Leningrad
  • Wehr-Ausbildungskooperationen mit osteuropäischen Ländern
  • Weißbücher des »Verteidigungsministeriums«
  • 1991-1999: Jugoslawien und die Widersprüche zwischen den Imperialisten
  • NATO obsolet?
  • 2001, Irak 2003, Afghanistan – Deutscher Frieden?
  • Europäische Streitkräfte, GASP und die Kongo-Einsätze
  • Bundesdeutsche Rüstungswirtschaft seit 1990
  • ZIMIK heute
  • Generalstab heute: EFKs und FüSK
  • Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe
  • Die Föderalismusreform und die Bundeswehr
  • Die Bundeswehr-Reform von 2010
  • Wie kriegseinsatzfähig ist die Bundeswehr aktuell? (siehe Spielmann)
  • Funktion der zeitweiligen Aussetzung der Wehrpflicht

  1. MEW 1, 379 f. 

  2. MEW 16, 396 f. 

  3. Lukács: »Die Zerstörung der Vernunft«, Berlin 1954, S.73 f. 

  4. MEW 13, S. 228 f. 

  5. MEW 17, 268 

  6. MEW 18, 583 

  7. MEW 21, 350 

  8. Aus dem Urteil vom 30.9.1946: »Generalstab und Oberkommando der Wehrmacht. Die Anklagevertretung hat auch verlangt, dass der Generalstab und das Oberkommando der deutschen Wehrmacht als verbrecherische Organisation erklärt werden. Der Gerichtshof ist der Anschauung, dass im Falle des Generalstabs und Oberkommandos keine Erklärung, dass diese eine verbrecherische Organisation seien, abgegeben werden solle. Ist auch die Anzahl der beschuldigten Personen größer als im Falle der Reichsregierung, so ist sie doch so klein, dass Einzelprozesse gegen diese Offiziere den hier verfolgten Zweck besser erreichen würden als die verlangte Erklärung. Aber ein noch zwingenderer Grund ist nach der Meinung des Gerichtshofs darin zu sehen, dass der Generalstab und das Oberkommando weder eine ›Organisation‹ noch eine ›Gruppe‹ im Sinne der im Artikel 9 des Statuts gebrauchten Bezeichnungen sind.« 

  9. General T. Taylor, US-Hauptankläger in 12 Kriegsverbrecher-Nachfolgeprozessen in Nürnberg: »Durch das Schütteln der vergifteten Frucht vom Baume wird nur sehr wenig erreicht werden. Es ist viel schwieriger, den Baum mit der Wurzel auszureißen, aber nur das wird auf die Dauer von Nutzen sein. Der Baum, der diese Frucht trug, ist der deutsche Militarismus.« Richard H. Jackson, US-Hauptankläger im 1. Kriegsverbrecherprozess in Nürnberg: »Die Großindustriellen Deutschlands sind im gleichen Maße wie seine Politiker, Diplomaten und Soldaten der in dieser Anklageschrift enthaltenen Verbrechen schuldig. […] Der Nazipartei wäre die Kontrolle über Deutschland nicht gelungen, wenn sie nicht die Unterstützung der Industrie […] erlangt hätte.« IMG Bd.12, S.625 »Darüber kann wohl kein Zweifel bestehen, dass ein neues Nazitum großgezogen würde, wenn lediglich ein paar höhere Führer bestraft würden, dieses Netz von Organisationen mitten in der Nachkriegszeit jedoch bestehen bliebe. […] Diese Organisationen sind es, die das Ansteckungsgift des rücksichtslosen Angriffskrieges von dieser Generation auf die nächste übertragen. […] Wenn sie hier entlastet würden, würde das deutsche Volk den Schluss ziehen, dass sie nichts Unrechtes getan haben; es wäre dann ein Leichtes, das deutsche Volk in wiedererrichteten Organisationen unter neuem Namen, aber mit dem alten Programm zusammenzufasssen.« IMG Bd.8, 415 

  10. Kühlig/Schwarz: Bundeswehr hinter Paragraphengittern, Berlin 1957, S. 12 

  11. Opitz: Faschismus und Neofaschismus, Bonn 1986, S.189 f. 

  12. Siehe Jens Daniel (Augstein-Pseudonym): »Ergebenster v. Manteuffel«, Spiegel vom 2.3.1950, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-44447455.html. Wie Otto Köhler (junge welt, 4.6.2014) aus Augsteins »Erinnerungen an Adenauer« von 1978 aushebt, hatte Augstein schon 1948 Kontakt zwischen Adenauer und einer weiteren Armeekader-Organisation unter General Schnez hergestellt. 

  13. Die Fakten und Zusammenhänge in diesem Abschnitt sind im Wesentlichen entnommen aus: »Die militaristisch-klerikale Herrschaft des westdeutschen Imperialismus«, Berlin 1960 

  14. Die militaristisch-klerikale Herrschaft des westdeutschen Imperialismus, S.118 

  15. ebenda, S. 193 

  16. Poltorak/Saizew: »Nürnberg mahnt!«, Moskau o.J. (ca. 1960), S.293 

  17. Aus Diehls Firmenchronik (www.diehl.com/de/diehl-gruppe/unternehmen/tradition-geschichte/firmenchronik.html): “1938 wird Diehl als kriegswichtiger Betrieb eingestuft. … 40er: Während des Krieges kommen Kriegsgefangene, später auch Zwangsarbeiter zum Einsatz, um die von den Reichsbehörden diktierten Stückzahlen fertigen zu können. … 50er: Die Aufstellung der Bundeswehr und die Nachfrage nach Wehrtechnik aus heimischer Produktion läßt Diehl an seine kriegsbedingten Erfahrungen in der Zünderherstellung anknüpfen und eine Partnerschaft begründen, die neben der Bundeswehr bald auch die Streitkräfte verbündeter Staaten umfaßt. … 70er: Aufbau erster Auslandsstandorte, beispielsweise in Brasilien und den USA. … 80er: Vor dem Hintergrund neuer Technologien einerseits und veränderter Bedrohungsszenarien andererseits erfolgt bald die Hinwendung zur sogenannten intelligenten Munition, um den Rückgang des klassischen Munitionsgeschäfts durch neue Betätigungsfelder zu kompensieren. Durch die Aufnahme der automatisierten Montage des Artillerieraketensystems MLRS in Mariahütte wird Diehl zu einem Systemanbieter mit internationaler Reputation. Die Übernahme der Bodenseewerk Gerätetechnik in Überlingen, einem führenden Hersteller von Luftfahrtausrüstung und Generalunternehmer für das europäische Produktionsprogramm des Luft-Luft-Flugkörpers Sidewinder AIM-9B, baut diese Position weiter aus und macht Diehl überdies zu einem anerkannten Anbieter von Flugzeugavionik. … 90er: verschiedene Übernahmen im Ausland, aber auch großzügige Erweiterung der heimischen Produktionskapazitäten. Umfirmierung des Unternehmens in eine Familien-Stiftung zur Sicherung der weiteren Unabhängigkeit und Eigenständigkeit.” 

  18. Maier u.a.: »Die Militarisierung der Wirtschaft Westdeutschlands«, Berlin 1960, S.38 

  19. Poltorak/Saizew: »Nürnberg mahnt!«, S.241 

  20. Kühlig/Schwarz: Bundeswehr hinter Paragraphengittern, Berlin 1957, S. 47 

  21. Zeimer u.a.: Bundeswehr – Armee für den Krieg – Aufbau und Rolle der Bundeswehr als Aggressionsinstrument des westdeutschen Imperialismus, Berlin 1968, S.189