Konferenz
»Der Haupt­feind steht im eigenen Land«

Die jährlich stattfindenden Konferenzen gegen den deutschen Imperialismus sollen den politischen Austausch und die Zusammenarbeit derjenigen revolutionären Kräfte fördern und vorantreiben, die in der Arbeiter- und demokratischen Bewegung für die Linie »Der Hauptfeind steht im eigenen Land« kämpfen wollen.

Klassenversöhnung und faschistische »Volksgemeinschaft«

Ringo Ehlert, Gewerkschafter und Vertrauensmann

Mai 2012

Im Folgenden möchte ich referieren über die Unterschiede, Gemeinsamkeiten und Übergänge zwischen der Burgfriedenspolitik und der sogenannten »Volksgemeinschaft«. Also zum einen über den Zustand, in dem die Sozialdemokratie noch die soziale Hauptstütze des Kapitals in der BRD stellt, und zum anderen letztlich über die Verhältnisse im Faschismus. Mit Sozialdemokratie ist nicht nur ihre stärkste Strömung in der BRD, die SPD gemeint, sondern auch die Gewerkschaften, auf die die SPD den größten Einfluss hat.

Zwischen beiden Zuständen wirken Übergänge. Wenn diese hier beschrieben werden, scheint es, als könnte man von einem »Ab jetzt …« und einem »Bis dann …« sprechen, doch sind sie immer nur als Momentaufnahme einer Entwicklung zu verstehen, die die Sozialdemokratie in verschiedenen Ausprägungen immer durchschreitet. Der Verweis auf diese permanente Entwicklung soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass es prägnante Meilensteine auf dem Weg dieser ständigen Drift gibt. So sei zum Beispiel das Godesberger Programm von 1959 genannt. Damals verabschiedete sich die SPD auch offiziell vom Charakter einer sozialistischen Arbeiterpartei, um nunmehr Volkspartei zu sein. Auch die »Landesverteidigung« hielt, trotz aller Erfahrungen der SPD mit ihrem »Vaterland«, von da an wieder Einzug in die Programmatik. Doch bekanntlich hat die SPD auch damit ihr Ich nicht verlassen – denken wir nur an den ersten deutschen Angriffskrieg nach 1945 auf Jugoslawien unter der Schröder-Regierung oder an die Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914 usw.

Das Ich der Sozialdemokratie ist eben dieses früh etablierte Streben, immer für »Harmonie und Frieden« sorgen zu wollen. »Harmonie und Frieden« in der Burg, sprich im Staat, gegenüber dem Burgherren, sprich gegenüber der Bourgeoisie. Wobei der Klassenkampf für die Sozialdemokratie immer mit Destabilisierung dieser Situation und damit der eigenen Position gleichgesetzt wird. Frieden in der Burg, eben auch aus tiefster Überzeugung, dass es am Ende doch noch irgendwie möglich wäre, den Kapitalismus zu zähmen und es irgendwie doch noch allen Recht zu machen. Erstaunlicherweise wurde und wird die für die Sozialdemokratie vom Faschismus ausgehende Gefahr gleichbleibend selbstmörderisch unterschätzt, der Angst vor der proletarischen Revolution jedoch wird alle Gewichtung gegeben. Auf tausenderlei Arten wird deswegen der Klassenkampf der Arbeiterklasse erdrosselt. Man denkt, damit die eigene Existenz sichern zu müssen. Unbewusst bekämpft die Sozialdemokratie mit dieser Bekämpfung des Klassenkampfes den Todfeind der faschistischen Diktatur. Sie bekämpft also den Todfeind ihres tatsächlichen eigenen Todfeindes und setzt damit die eigene Existenz immer aufs Spiel.

Das Ich der Sozialdemokratie ist es auch, ständig zerrieben zu werden im unlösbaren Widerspruch, sich um beste Bedingungen für die Ausbeuter und damit um die eigenen Pfründe kümmern zu müssen, also alles gegen den Sozialismus zu unternehmen. Dabei aber möchte man auf keinen Fall die eigenen Wurzeln in der Klasse der Ausgebeuteten, also den potentiellen Errichtern des Sozialismus, ausreißen. Denn die soziale Basis der Sozialdemokratie, die Arbeiter, sind letzten Endes ihre Existenzberechtigung. Oder mit anderen Worten, den Platz zwischen den Stühlen Sozialismus oder Barbarei meint die Sozialdemokratie unbefristet besetzen zu dürfen, wobei sie, mit den Worten von Peter Hacks, mit einer Arschbacke immer auf dem rechten hockt.

Je weniger die Arbeiterklasse in diesen Prozess eingreift und die bürgerliche Demokratie als die weitaus bessere Klassenkampfplattform als den Faschismus gegen jene Kräfte verteidigt, die bewusst oder unbewusst der Errichtung der »terroristischen Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals«1 den Weg bahnen, desto massiver, desto schneller sorgt die Sozialdemokratie auf ihrer Rechtsdrift für Quantitäten, die sie als soziale Hauptstütze mehr und mehr überflüssig und ungeeignet machen. Wohlgemerkt Quantitäten, denn eine kontinuierliche Entwicklung hinein in den Faschismus, sprich eine schleichende Faschisierung, gibt es nicht. Am Ende der Mehrung der Quantitäten steht ein qualitativer Umschlag, der Austausch der sozialen Hauptstütze durch das Kapital, der letztlich immer mit der Errichtung des Faschismus im Zusammenhang steht.

Dem Aufzeigen der angekündigten Unterschiede, Gemeinsamkeiten, Übergänge und Quanti- wie Qualitäten im Raster zwischen Burgfrieden und »Volksgemeinschaft« soll eine kleine Definition der Begrifflichkeiten vorausgehen.

Der Burgfrieden

Aus dem Feudalismus kommend, handelt es sich dabei um eine Vereinbarung, die besagt und regelt, innerhalb einer umfriedeten Burg oder Stadt Streitigkeiten nicht auf gewaltsame Art auszutragen. Was nicht weiter aufregend scheint, doch im übertragenen Sinne jene Politik der Sozialdemokraten und sozialdemokratisch geprägten Gewerkschaften in Deutschland bezeichnet, auf die Führung und Durchführung des Klassenkampfes gegen den Hauptfeind im eigenen Land bewusst zu verzichten – was wiederum sehr aufregend ist!

Wie das überaus hilfreiche, in der DDR erschienene Kleine politische Wörterbuch zusammenfasst, ist die Burgfriedenspolitik letzten Endes eben die Gleichschaltung der Interessen der deutschen Arbeiterklasse mit der imperialistischen Kriegspropaganda. Diese Politik, die den Kampf gegen den deutschen Imperialismus völlig lähmte und heute nicht minder lähmt, seine Aggression nach außen gegen die imperialistische Konkurrenz aktiv mittrug und heute nicht minder mitträgt, ist geradezu das perfekte Gegenmodell zu der von Liebknecht verfochtenen Lehre, die auch dieser Konferenz den Namen gab: Der Hauptfeind steht im eigenen Land und heißt deutscher Imperialismus.

Da während der Vorbereitung und während des Wütens des ersten Weltkrieges, aber auch während des Gegensteuerns Liebknechts und seiner Leute die deutsche Burgfriedenspolitik besonders unmissverständlich, von allen Nebeln der Verklärung befreit dastand, wird sie gern mit diesem Zeitabschnitt gleichgesetzt und als historisch angesehen. Das ist falsch. Die Burgfriedenspolitik ist ein bleibendes, die Sozialdemokratie ständig begleitendes, ureigenes Element.

Zum Begriff der »Volksgemeinschaft«

»›Volksgemeinschaft‹ war bereits um 1900 ein häufig gebrauchter Begriff. Als Gegenbild zur modernen, von Konflikten und sozialen Gegensätzen geprägten Gesellschaft war er für die verschiedensten politischen Gruppierungen, völkische und konservative, aber auch liberale und christliche, attraktiv. Insbesondere in der romantisch geprägten Jugendbewegung des Wandervogels wurde die Volksgemeinschaft als Ideal der künftigen Gesellschaft propagiert. […] Großen Einfluss hatte der Soziologe Ferdinand Tönnies. Mit seinem erstmals 1887 erschienenen Buch ›Gemeinschaft und Gesellschaft‹ prägte er wesentlich die Diskussion bis in die Weimarer Zeit. Tönnies konstatiert, dass sich das Individuum in der modernen Gesellschaft immer in zwei Typen sozialer Bindung befindet. Zum einen in einer Verbindung, die durch gewachsene Strukturen und Zugehörigkeitsgefühl geprägt ist: Familie, Nachbarschaft, Volk. Diesen Typus nennt Tönnies ›Gemeinschaft‹. Dagegen steht die ›Gesellschaft‹, ein Bindungstyp, der vor allem durch Nutzenüberlegungen bestimmt wird: Ökonomische und politische Verbindungen, Vereine und Versammlungen. Was von Tönnies als soziologische Beschreibung der modernen Welt gedacht war, entwickelte sich in der politisch zerrissenen Situation nach dem 1. Weltkrieg zu einem politischen Kampfbegriff: Gegen die anonyme, von ökonomischen Nutzenüberlegungen, egoistischem Individualismus und Parteienstreit bestimmte ›Gesellschaft‹ sollte die Gemeinschaft des Volks verwirklicht werden.«2

Die in diesem Zitat des bürgerlichen Wissenschaftlers Bernd Kleinhans enthaltene Beschreibung des Gegenmodells zur »Volksgemeinschaft« – er spricht von einer »von Konflikten und sozialen Gegensätzen geprägten Gesellschaft« – kann hier getrost als bürgerliche Umschreibung der Klassenwidersprüche verstanden werden. Bemerkt sei auch, dass der bürgerliche Wissenschaftler Tönnies weniger »prägte«, sondern vielmehr dem Marxismus etwas entgegenstellen wollte, und dass er natürlich mehr behauptet als konstatiert. Doch Tönnies ist nicht Thema dieses Referates.

Ähnlich wie bei der Burgfriedenspolitik sollen auch in der »Volksgemeinschaft« alle Widersprüche im Staate schweigen. Im Unterschied zur Burgfriedenspolitik jedoch, in der sehr wohl von der Existenz der Klassen ausgegangen wird, sozusagen aus allerlei Gründen eine Pause des Kampfes zwischen ihnen erbeten wird, soll mit dem Konstrukt der »Volksgemeinschaft« die Existenz der Klassen als eine Art falsche Idee vollständig negiert werden.

Wenn alles im Staat seine Individualität negierend als eine Gemeinschaft fungiert, lässt sich diese scheinbare Gemeinschaft aller Klassen und Schichten vortrefflich in den Dienst der herrschenden Klasse stellen. In den Dienst der Bourgeoisie, die den Teufel tut, sich im Brei einer »Volksgemeinschaft« aufzulösen. Auch deswegen passte den deutschen Kapitalisten die Truppe um Hitler, die mit ihrer »Volksgemeinschaft« den Klassenkampf zum Schweigen brachte und die Klassenkämpfer ausradierte, perfekt in den Kram. Auch deswegen flossen die Millionen in die NSDAP. Auch deswegen wird heute, trotz der Pleite mit dem tausendjährigen Reich, die faschistische Sammlungsbewegung jederzeit in der Rückhand des Kapitals, durch das Kapital in Funktion gehalten.

Die deutschen Faschisten machten aus der »Volksgemeinschaft« einen der wichtigsten propagandistischen Kampfbegriffe ihrer Bewegung. Das Konstrukt »Gemeinschaft aller gegen die Gesellschaft mit ihren Widersprüchen zwischen Klassen und Schichten« fügte sich nahtlos in die angebetete, mit Terror geschmiedete Gemeinschaft der dahergesponnenen »arischen Rasse« ein, möglichst zusammengeschweißt durch eine bis zum Erbrechen herbeifabulierte Bedrohung von außen. Mit ihrer »Volksgemeinschaft« fanden die Faschisten im Kleinbürgertum mit seiner Abneigung gegen Großproduktion, Massenorganisation der Arbeiter, Übermacht der Monopole und seiner Vorliebe für den »harmonischen Familienbetrieb« einen mächtigen Fanklub.

Doch all der Terror, auch der Schmalz der rassisch reinen Gemeinschaft, die keine Klassen kennen will, kann die Existenz der Klassen bestenfalls und mehr schlecht als recht leugnen und nur mit Gewalt und großem Aufwand verstecken. Denn die Klasse ist eine ökonomische Kategorie, weiter gefasst eine Kategorie der gesellschaftlichen Produktion. Lenin beschreibt sie wie folgt:

»Als Klassen bezeichnet man große Menschengruppen, die sich voneinander unterscheiden nach ihrem Platz in einem geschichtlich bestimmten System der gesellschaftlichen Produktion, nach ihrem (größtenteils in Gesetzen fixierten und formulierten) Verhältnis zu den Produktionsmitteln, nach ihrer Rolle in der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit und folglich nach der Art der Erlangung und der Größe des Anteils am gesellschaftlichen Reichtum, über den sie verfügen. Klassen sind Gruppen von Menschen, von denen die eine sich die Arbeit der anderen aneignen kann infolge der Verschiedenheit des Platzes in einem bestimmten System der gesellschaftlichen Wirtschaft.«3

In diesem Zusammenhang, und weil man es gar nicht oft genug erwähnen kann, sei auf den Grundwiderspruch der beiden Klassen hingewiesen. Auf den Widerspruch zwischen der privaten Aneignung des durch die Arbeiter geschaffenen gigantischen Reichtums und der dieser privaten Aneignung gegenüberstehenden und nicht in Einklang zu bringenden Produktion des Reichtums in gesellschaftlicher Dimension.

Auf diesen antagonistischen Widerspruch zwischen der Arbeiterklasse und der Bourgeoise sei hiermit unbedingt hingewiesen, denn es ist genau dieser, der von der Sozialdemokratie in Abrede gestellt wird. Auch und vor allem daraus erwächst das geradezu gierige Bestreben, am Krankenbett des Kapitalismus zu harren in guten wie in schlechten Zeiten. In der Krise hoffend auf bessere Zeiten zum Wohle der Wirtschaft, die »unsere« Wirtschaft ist. Und in besseren Zeiten, nach bzw. zwischen den Krisen, mit Verweis auf das Bisschen mehr an Krümeln unterm Tisch der Herrschenden die Reformierbarkeit des Kapitalismus bestätigt zu sehen.

Doch zurück zum Begriff der »Volksgemeinschaft«, deren Marktschreier und Anstreicher die Klassen so gern in nichts aufgelöst sehen möchten. Es geht nicht! Denn Bewusstsein wie Willen der Menschen haben keinen Einfluss auf die Existenz von Klassen. Dass diese niemals existiert hätten bzw. mit der »Volksgemeinschaft« verschwänden, wie es sich jedenfalls die Jünger der »Volksgemeinschaft« erträumen, ist und bleibt eben nur ein Traum, eine Illusion.

Allein aus diesem Grund verbietet sich die Benutzung des Begriffs, schon gar als eines wissenschaftlichen, zur Beschreibung des realen Zustands damals oder heute. Im Kontext des deutschen Faschismus ist aus diesem die »Volksgemeinschaft« überhaupt nicht mehr zu lösen, ist der Begriff »Volksgemeinschaft« immer ein propagandistischer Kampfbegriff der Faschisten und gehört als solcher behandelt und in Anführungszeichen.

Brecht beschrieb die Illusion vom Verschwinden der Klassen in einem seiner Hitler-Choräle sinnfällig und zutreffend:

»Doch wenn der Hitler kommt
Der ist uns ein Anstreicher!
Bleibt jeder, was ihm frommt
Als Armer oder Reicher!
Er macht, das Klassen sind
Jedoch kein Klassenhass,
Er macht, das Regen rinnt
Doch wird ihm keiner nass.«4

Die angekündigte Analyse bzw. Gegenüberstellung der zu betrachtenden Burgfriedenspolitik und der Verhältnisse im Faschismus und seiner angestrebten »Volksgemeinschaft« ist an vielen Kategorien anzusetzen, die sich noch dazu untereinander in der Untersuchung überlagern und stellenweise nicht klar abzugrenzen sind. So waren manche Kategorien leicht mit den nötigen Zusammenhängen zu füllen, andere jedoch gehen vielleicht nicht über einen Analyseansatz hinaus und sollten auch so verstanden sein. Gerade die Beschäftigung mit der neuesten Entwicklung der Sozialdemokratie, aber auch mit konkreten Zusammenhängen wie z.B. dem Verhältnis der Sozialdemokratie zu den Unterschichten der Gesellschaft, offenbarte große Lücken bezüglich schon geleisteter Analysen. Kommen wir zu einer dieser Kategorien.

Die Klassen

Die konkreten wissenschaftlichen Bezeichnungen für die Hauptklassen, Proletariat und Kapitalistenklasse, wurden gerade durch die starke sozialdemokratische Strömung in den Gewerkschaften durch »Arbeitnehmer« und »Arbeitgeber« ersetzt, nicht ohne Absicht – auch das ist Verhinderung des Klassenkampfes –, aber auch nicht ohne Gegenwehr. Noch 1973 zitiert man im Handbuch der Vertrauensleute der IG Metall zu den Begrifflichkeiten »Arbeitnehmer und Arbeitgeber«, den übrigens typisch deutschen Begrifflichkeiten, den Kollegen Friedrich Engels wie folgt:

»Engels schrieb 1883 in einem Vorwort zum ›Kapital‹ von Karl Marx: Es konnte mir nicht in den Sinn kommen, in das ›Kapital‹ den landläufigen Jargon einzuführen, in welchem deutsche Ökonomen sich auszudrücken pflegen, jenes Kauderwelsch, worin zum Beispiel derjenige, der sich für bare Zahlung von anderen Arbeit geben lässt, der Arbeitgeber heißt, und Arbeitnehmer derjenige, dessen Arbeit ihm für Lohn abgenommen wird.«5

Wie weit man hinter diese klugen Sätze im eigenen Handbuch zurückgefallen ist, zeigt die heutige Anbetung der »Sozialpartnerschaft« durch SPD und Gewerkschafts-Spitzen. Die sogenannte »Sozialpartnerschaft« bietet sich förmlich an zur Darstellung der Widersprüchlichkeit der Sozialdemokratie, fasst sich mit der »Sozialpartnerschaft« doch das gleichzeitige Moment der unbedingten Leugnung des Klassenwiderspruches bei krassem Widerspruch der Burgfriedenspolitik zum Stadium einer propagierten »Volksgemeinschaft« auf engstem Raum zusammen.

Zum Inhalt und Wesen der »Sozialpartnerschaft« schreibt das Kleine Politische Wörterbuch:

»Die beiden Hauptklassen der kapitalistischen Gesellschaft, die Kapitalistenklasse und die Arbeiterklasse, werden als Sozialpartner bezeichnet, die wechselseitiges Verhältnis zwischen ›Arbeitgebern‹ (Kapitalisten) und ›Arbeitnehmern‹ (Lohnarbeitern) verbinden soll. Diese Klassenzusammenarbeit im Grundsätzlichen kann nach Meinung der imperialistischen Ideologen durchaus von ›unterschiedlichen Auffassungen‹ der ›Partner‹ über einzelne Fragen des gesellschaftlichen Lebens begleitet sein; ›Sozialpartnerschaft‹ schließe, so sagen sie, auch partielle Konflikte, zum Beispiel im Lohn- und Tarifkampf, nicht aus. Damit ist der Hauptinhalt dieser Theorie die Leugnung des antagonistischen Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit und die Leugnung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Die politische Absicht dieser theoretischen Auffassung liegt darin, die Notwendigkeit des Klassenkampfes zu bestreiten und stattdessen die Zusammenarbeit der Bourgeoisie und Arbeiterklasse zu propagieren. Die Theorie der ›Sozialpartnerschaft‹ steht im Zusammenhang mit der opportunistischen Theorie von der evolutionären Transformation des Kapitalismus in eine ›neue Gesellschaft‹.«6

Blumig besungen wird der Schlamassel von der anderen Seite, in einem Lexikon der Wirtschaftsethik. Demnach enthält das Konzept der Sozialpartnerschaft

»Prinzipien der Katholischen Soziallehre (Gemeinwohlorientierung, Person-, Solidaritäts- und Subsidiaritätsprinzip) und ist eng mit den Strukturelementen einer freiheitlichen Wirtschaft- und Gesellschaftsordnung sowie der sozialen Marktwirtschaft verbunden.«7

Doch kaum schöner versinnbildlicht ist die »Sozialpartnerschaft« auf Chemie-Sozialpartnerschaft.de! Was hier von den Best Friends, dem Ausbeuterverbund BAVC und der Gewerkschaft der Ausgebeuteten IG BCE geboten wird, ist Harmonie bis zum Würgereiz. So erklärt man sich und allen anderen:

»Sozialpartnerschaft – Ein Chemie-Markenzeichen! Durch den kontinuierlichen Aufbau und die Intensivierung des gegenseitigen Vertrauensverhältnisses hat sich zwischen IG BCE und BAVC in mehr als drei Jahrzehnten eine besondere Form der Zusammenarbeit entwickelt: Aus Konfliktparteien wurden Kooperations- und schließlich Sozialpartner, die, unter Wahrung der jeweiligen Interessen, immer auch die gemeinsame Verantwortung für eine nachhaltige Gestaltung der Chemiebranche und der Gesellschaft insgesamt vor Augen haben. Die in der chemischen Industrie heute praktizierte Sozialpartnerschaft ist die effizienteste und für die jeweiligen Mitglieder mit dem größten Nutzen verbundene Form des Umgangs zwischen den Tarifvertragsparteien.«8

Warum steht die »Sozialpartnerschaft« nun gleichzeitig für Klassenversöhnung und strikte Abgrenzung von den Verhältnissen der sogenannten »Volksgemeinschaft«?

Auf der einen Seite möchte man mit der »Sozialpartnerschaft« das genau Gegenmodell zum antagonistischen Widerspruch zwischen Proletariat und Kapitalistenklasse aufstellen, auf der anderen Seite jedoch, bei aller Propagierung vom gemeinsamen Backen des gemeinsamen Kuchens im gemeinsamen Sandkasten, leugnen die Apologeten der »Sozialpartnerschaft« nicht die Existenz der Klassen, sondern nur deren Antagonismus. Die Partner bleiben eben nur Partner, zwei Parteien, nicht identisch. Die Notwendigkeit getrennter Organisationen wird eben genau so nicht bestritten. Dies macht einen entscheidenden Unterschied zur »Volksgemeinschaft« aus.

Mit dem Auswechseln der sozialen Hauptstütze kommt es zum brachialen konterrevolutionären Akt, mit dem eine neue Qualität entsteht. Jetzt geht es um die komplette Leugnung der Klassen, und vor allem setzt jetzt die im offenen Terror versinkende Verhinderung des Klassenkampfes ein.

Dies offenbarte sich tödlich auch für SPD und das sozialdemokratische Führungspersonal der Gewerkschaften – nicht erst mit der Machtübergabe an die Faschisten.

So bleibt festzuhalten: Diese mit dem Ausrufen der sogenannten »Volksgemeinschaft« versuchte komplette Leugnung der Klassen, die nun mit offenem faschistischem Terror in allen Bereichen der Gesellschaft durchgesetzt wird, ist etwas völlig anderes als die wachsende Verschleierung und Verkittung des Klassenwiderspruchs und auch etwas anderes als Anbiederung auf höchstem Niveau in Form der »Sozialpartnerschaft«. Es bleibt im Burgfrieden der Sozialdemokratie die Akzeptanz der Klassen und die Akzeptanz der Organisierung der Arbeiter in einer eigenen Organisation, eben jener Gewerkschaft, die im Faschismus, in der »Volksgemeinschaft«, zerschlagen wird. Damit ist dieses Thema nicht erschöpft, aber aus Zeitgründen kommen wir zur nächsten Kategorie:

Zum Verhältnis der Sozialdemokratie zum Staat

Die heutige Sozialdemokratische Partei Deutschlands ist das Ergebnis eines zähen und langen Kampfes um den Einfluss in dieser im besten wie im ironischen Sinne Arbeiterpartei zu nennenden politischen Kraft. Ein Kampf, der anfangs geführt wurde von bedeutenden Vertretern proletarischer, revolutionärer Positionen, darunter auch Marx und Engels, geführt in der anfangs stärksten revolutionären Partei Europas, der späteren SPD. Viele Stationen säumen diesen Kampf. Eine davon ist die 1875 durchgeführte und notwendige Vereinigung der Anhänger Lassalles mit den »Eisenachern«, den Marxisten wie Bebel, Wilhelm Liebknecht usw. Obwohl diese Vereinigung die Arbeiterbewegung erst mal massiv stärkte, verstärkte sich damit auch der Einfluss der kleinbürgerlichen Positionen auf die Arbeiterbewegung, etwa durch die Staatsillusionen Lassalles. Im Gegensatz zu Marx, der den Staat als Unterdrückungsorgan der herrschenden Klasse erklärte, sah Lassalle den Staat als positive Organisationsform der Gesellschaft, die als neutrale Bühne zu erobern sei.

Zu viele Zugeständnisse machte man für die Einheit auf Kosten der Klarheit. Bebel wurde dies später auch von Marx und Engels hart vorgeworfen. Engels in einem Brief an Bebel:

»Solange die Partei in Deutschland ihrem proletarischen Charakter treu blieb, haben wir alle anderen Rücksichten beiseite gesetzt. Jetzt aber, wo die kleinbürgerlichen Elemente, die man zugelassen, offen Farbe bekannt haben, liegt die Sache anders. Sobald ihnen erlaubt wird, ihre kleinbürgerlichen Vorstellungen stückweise in das Organ der deutschen Partei einzuschmuggeln, wird uns dadurch dieses Organ einfach verschlossen.«9

Zur Staatsfrage weiter:

»Weder eine ›Diktatur des Proletariats‹ als Stadium proletarischer Herrschaft noch ein ›Absterben des Staates‹ als Sinnbild einer fortgeschrittenen sozialistischen Gesellschaft waren im sozialdemokratischen Staatsdenken reale Größen. […]

Während der Weimarer Republik verfestigte sich das bereits in der Zeit des Kaiserreichs ausgeformte sozialdemokratische Staatsverständnis. ›Die Voraussetzungen für eine positive Einstellung der Arbeiterschaft zum Staate‹ galten nunmehr, durchaus im Einklang mit den früheren Überlegungen. […]

Ein ›dem Staatssystem immanenter Gegensatz zwischen Staat und Arbeiterschaft, zwischen politischer Gewalt und Gewerkschaften‹ schien nicht mehr zu bestehen. Durch die Errichtung der parlamentarisch-demokratischen Ordnung war der Staat quasi […] Gemeinwesen geworden, ›eine über allen Einzelnen stehende öffentliche Körperschaft, die einen Gemeinwillen ausdrückt‹. [Man] hielt den Marxschen Staatsbegriff für die Gegenwart schon deshalb nicht mehr für uneingeschränkt anwendbar, weil seine wesentliche Voraussetzung, die Existenz der Klassengesellschaft, nicht mehr ohne weiteres gegeben sei und die Gesellschaft sich bereits im Übergangsstadium vom Kapitalismus zum Sozialismus befinde.«10

Doch von da bis zum uneingeschränkten Sieg des mit dem entstehenden Imperialismus einsetzenden und heute absolut dominierenden Revisionismus in der SPD war es ein langer Weg, auf dem die Vertreter proletarischer, revolutionärer Positionen noch große Siege einfuhren und gewaltige Aktionen der späteren SPD gegen die deutschen Kapitalisten in die Geschichte der Arbeiterbewegung eingingen.

Noch jahrzehntelang entsprach die revolutionäre Aktivität der späteren SPD nicht den sich immer mehr im Programm einschleichenden opportunistischen Inhalten. So wurde sie zur stärksten Kraft im Reichstag inmitten einer erzreaktionären Umgebung, trotz Bismarcks Sozialistengesetz, dem Generalangriff, trotz aller Bollwerke der Bourgeoisie gegen den gesellschaftlichen Fortschritt. Ein Aufstieg, der die gewaltige revolutionäre Kraft der deutschen Arbeiterklasse als der sozialen Basis der SPD und ihrer Vorgänger aufzeigt. Davon zeugen die unzähligen Massenstreiks, deren Teilnehmerzahlen jenseits von allem lagen, was wir heute in diesem Staat erleben müssen, und deren Forderungen weit hinausgingen über die üblichen kleinlichen ökonomischen Forderungen heutiger Gewerkschaften.

Der Kampf um diese SPD, der Kampf um den Einfluss auf die Arbeiterklasse tobte. Allein das 1877/1878 von Engels mit dem Anti-Dühring geführte Gefecht gegen das in der damaligen sozialistischen Arbeiterpartei schon verbreitete kleinbürgerliche Gedankengut und die Kritik des Gothaer Programms von Karl Marx 1875 zeigen auf, dass dieser Kampf lange Zeit nicht entschieden war.

Dass Lenin große Stücke auf die deutsche Sozialdemokratie hielt und betonte, dass bis zur vollständigen Herausbildung des Imperialismus das revolutionäre Marxistische in dieser Partei eindeutig überwog, ist aktenkundig. Selbst beim Bekanntwerden des Verhaltens der SPD am Vorabend des 1. Weltkrieges dachte Lenin zuerst an eine Lüge der Reaktion, und dies dachte er nicht aus lauter Einfältigkeit.

Die gespannten Hoffnungen der Genossen weltweit zeigen auf, wie scharf die Auseinandersetzung der Lager in der SPD war und wie diese bis zuletzt von den Hoffnungen vieler Revolutionäre begleitet wurde. Und selbst nach jener Zäsur von 1914 in der Geschichte der SPD fasste die II. Internationale, in der die SPD eine starke Sektion stellte, so revolutionäre Beschlüsse wie den zur Umwandlung eines nicht mehr zu verhindernden imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg gegen den Hauptfeind im eigenen Land. Auch dass sich allen vorweg die SPD – wie der Rest der Mitglieder der II. Internationale – an diesen Beschluss nicht hielt, ändert nichts an der Vielschichtigkeit der SPD zu dieser Zeit.

Mit der Herausbildung des deutschen Imperialismus und der Erlangung immer größerer Extraprofite des deutschen Kapitals schafft sich die Bourgeoisie einen Fonds, aus dem sie massiv für die Bestechung bestimmter Teile der Arbeiterklasse schöpfen kann. Auch die Zahl der Arbeiterfunktionäre wächst sprunghaft. Lenin dazu:

»Es ist klar, dass man aus solchem gigantischen Extraprofit (denn diesen Profit streichen die Kapitalisten über den Profit hinaus ein, den sie aus den Arbeitern ihres ›eigenen‹ Landes herauspressen) die Arbeiterführer und die Oberschicht der Arbeiteraristokratie bestechen kann. Sie wird denn auch von den Kapitalisten der ›fortgeschrittenen‹ Länder bestochen – durch tausenderlei Methoden, direkte und indirekte, offene und versteckte.

Diese Schicht der verbürgerten Arbeiter oder der ›Arbeiteraristokratie‹, in ihrer Lebensweise, nach ihrem Einkommen, durch ihre ganze Weltanschauung vollkommen verspießert, ist die Hauptstütze der II. Internationale und in unseren Tagen die soziale (nicht militärische) Hauptstütze der Bourgeoisie. Denn sie sind wirkliche Agenten der Bourgeoisie innerhalb der Arbeiterbewegung, Arbeiterkommis, der […] wirkliche Schrittmacher des Reformismus und Chauvinismus. Im Bürgerkrieg zwischen Proletariat und Bourgeoisie stellen sie sich in nicht geringer Zahl unweigerlich auf die Seite der Bourgeoisie.«11

Die Illusionen über den Staat als klassenneutrale Ordnungsmacht, die mit Lassalle und anderen schon vor der Herausbildung des Imperialismus in das Programm der deutschen Sozialdemokratie Einzug gehalten hatten, übernahm die Arbeiteraristokratie jetzt als Untermauerung ihrer revisionistischen Positionen.

Der Übergang von der Ansicht, dass der Staat eine über den Klassen stehende Ordnungsmacht sei, in dem man sich, will man was erreichen, auf parlamentarischem Weg einfach an die Macht wählen lässt, hin zur aktiven Unterstützung dieses kapitalistischen Staates war fast schon ein automatischer.

1929 wurde dies mit dem Angriff auf die Demonstration der KPD am 1. Mai in Berlin, der später als »Blutmai« in die Geschichte eingehen sollte, in aller Schrecklichkeit deutlich. Denn dieser Angriff wurde vom SPDler und Polizeipräsidenten Zörgiebel befehligt und von der SPD-Führung toleriert. Die Polizei ermordete an diesem Tag 30 Genossen, viele wurden verletzt.

Die Nähe zum kapitalistischen Staat, seine Unterstützung bis zum Arbeitermord, die Tolerierung der Nazis bis zum Halten ihres Steigbügels erschütterte die Sozialdemokratie wie die Linke überhaupt. Die Unterscheidung zwischen den Faschisten und der SPD, zwischen den Organisationen der Bourgeoisie und der Arbeiter vernebelte sich durch den massiven Rechtsruck der Sozialdemokratie. Theoreme wie die Sozialfaschismus-These, die Faschisten und Sozialdemokratie auf eine Stufe stellt, bekamen Auftrieb und wirken in ihrer Schädlichkeit bis heute. Denn auch heute ist die Unterscheidung zwischen den ständig von der SPD produzierten Quantitäten und den beim Austausch der sozialen Hauptstütze entstehenden neuen Qualitäten nicht einfach. Doch eines der wichtigsten Unterscheidungsmerkmale beider Zustände zieht sich als unantastbarer roter Faden durch die Entwicklung der SPD: Es ist ihre soziale Basis, die Arbeiterklasse. Dies ist auch der Punkt, warum wir die Sozialdemokratie nicht rechts liegen lassen dürfen.

Nicht erst mit dem Austausch der sozialen Hauptstütze, schon in der bürgerlichen Demokratie zeigt sich, dass sich die Bourgeoisie über ihren Staat keine Illusionen macht wie die SPD. Der Staat ist das Machtorgan einer Klasse, der bürgerliche Staat ist das Machtorgan der Bourgeoisie in der bürgerlichen Demokratie wie auch im Faschismus, in dem der Staat zum unverhüllten Terrorinstrument nach innen und außen wird.

Sozialdemokratie und Standortlogik

Das Einrichten im Staat, der nicht mehr anzugreifen ist, weil er keiner Klasse dient, sondern nur die mit demokratischen Mitteln zu erobernde Bühne für Auseinandersetzungen darstellt, sowie die Angst um die eigenen kleinen Vergünstigungen und die viel bessere Belohnung als die Kollegen in den Unterschichten der Gesellschaft und im Ausland, die Angst vor dem sozialen Abstieg in diese Gefilde sorgt für Sorge um das Morgen, in dem sich etwas ändern könnte. Aus dem Arbeitsplatz wird der »eigene« Arbeitsplatz, und der zum »eigenen« Betrieb, aus dem die »eigene« Wirtschaft wird. Laufende Motoren, laufende Wirtschaft, dafür muss man obenauf sein im Wettbewerb gegen das konkurrierende Ausland. Dem Ausland, das mehr und mehr nicht Arbeitsplatz der Klassengenossen ist, sondern Arbeitsplatz der Konkurrenten, die das eigene erträgliche Auskommen gefährden. Nicht dieser Entwicklungsprozess der sozialdemokratisch geprägten Arbeiter, doch der Entwicklungsprozess des Bewusstseins bei den bestochenen, bessergestellten Arbeitern, der im Imperialismus entstehenden Arbeiteraristokratie, ist geschildert in einem alten Text von Sidney Webb, einem der bekanntesten englischen Gewerkschaftsführer:

»Es macht sich (beim besoldeten Gewerkschaftsbeamten) eine bewusste Voreingenommenheit geltend. Während die strittigen Punkte aufgehört haben, seine eigenen Einnahmen und Arbeitsbedingungen zu beeinflussen, vermehrt jeder Streitfall zwischen Mitgliedern eines Vereins und ihren Arbeitsherren seine Pflichten und Plackereien. Das formale Gefühl für die Entbehrungen und die Abhängigkeit, die das Leben des Arbeiters begleiten, verblasst allmählich in ihm, und mehr und mehr erscheinen ihm alle Klagen derselben als verkehrt und unvernünftig. […]

Der bezahlte Beamte eines großen Vereins wird heutzutage von bürgerlichen Elementen umworben und umschmeichelt. Sie laden ihn bei sich zum Essen ein, und er wird ihre wohleingerichteten Häuser, ihre schönen Teppiche, das Behagen und die Üppigkeit ihres Lebens bewundern. […] Die Bemerkungen seiner Frau und ihrer Angehörigen, seine eigenen Betrachtungen, die zunehmenden Jahre, der wachsende Wunsch nach einer festen Existenz und einer gesicherten Zukunft für sich und seine Kinder, und vielleicht auch ein Anflug von Neid auf seine Freunde aus der Bourgeoisie, dies alles beginnt denn auch nach und nach hinterlistig […] einen Wechsel in seiner Lebensauffassung zu bewirken. Er bezieht ein kleines Haus in einem der Vororte, wo kleine Bourgeoisie logiert. Der Umzug führt dazu, dass der Verkehr mit seinen Freunden aus der Arbeiterklasse aufhört, und seine Frau wechselt ihren Bekanntenkreis. Mit der Lebensweise seiner neuen Nachbarn nimmt er unmerklich mehr und mehr von ihren Gesinnungen an. […]

Nach und nach gerät er in Gegensatz zu seinen Gewerkschaftsgenossen, die seinen Vorschlägen nicht mehr mit der alten Bereitwilligkeit zustimmen. […] Er schreibt den Bruch dem Einfluss einer Clique Unzufriedener, oder vielleicht den wilden Anschauungen der jüngeren Generation zu. Sie finden ihn […] übervorsichtig, ja gleichgültig in Angelegenheiten des Gewerbes. Sein Umgangston den gewöhnlichen Mitgliedern und besonders den Arbeitslosen gegenüber, die um Unterstützung einkommen, wird ein anderer. Er fängt an, auf alle als ›gewöhnliche Arbeiter‹ herabzusehen, die Arbeitslosen speziell aber verachtet er als Leute, die durch eigene Schuld Schiffbruch erlitten haben.«12

So benannte und andere Mechanismen münden auch in eine verschärfte Standortlogik, in Verabschiedung von jedem Internationalismus und in einen aus Angst um die eigene Haut gespeisten Drang, die Wettbewerbsfähigkeit der »eigenen« Wirtschaft zu wahren, auf dass nur alles wenigstens so weiter gehen möge wie bisher – auch wenn es das nie tut. So wird alles getan für die »eigene Wirtschaft«, für die Rettung der eigenen Haut. Denn der wirkliche, der einzige Weg, die eigene Haut und die der Klassengenossen zu retten, der durch den Kampf gegen die herrschende Klasse und ihren Staat, ist vergessen, ausgeredet, verboten.

Die Extraprofite des deutschen Imperialismus dienen, wie bereits von Lenin beschrieben, zur Bestechung eines Teils der Arbeiterklasse, um diesen an die Bourgeoisie zu binden und gegen die Klassengenossen im In- und Ausland in Stellung zu bringen. Da wird es klar, dass die Arbeiteraristokratie in SPD und sozialdemokratisch geprägten Gewerkschaften kein Interesse an einem Versiegen dieser Existenzgrundlage hat. Bewusst oder unbewusst – schon aus diesem Grunde zerbricht man sich in Gewerkschafts- und SPD-Funktionärsetagen den Kopf der Kapitalisten und sorgt sich um den Standort Deutschland und die Effizienz der deutschen Wirtschaft. Da bietet man sich an, macht Vorschläge an die herrschende Klasse, wie die Krise zu meistern sei, und steckt zurück für die »eigene Wirtschaft«.

Diese komplette Einstellung des Kampfes gegen die Konkurrenz zwischen den Arbeitern verschiedener Nationen erzeugt und fördert die Darstellung des Klassengenossen, der im anderen Land in den Fabriken der imperialistischen Konkurrenz schuftet, als Dieb der begehrten Aufträge, der so blöd ist, für diesen oder jenen schlechten Stundenlohn schuften zu gehen. Der Klassengenosse der anderen Nationalität, der für weniger schuften muss, ist in der Wahrnehmung eben dann der Billigarbeiter, der den Preis versaut. Der Klassengenosse im Nachbarland wird zu einem die eigene Stellung bedrohenden Objekt.

Der Raum des Verhältnisses der Sozialdemokratie zur Nation füllt sich so auf mit Nationalismus, Rassismus, Chauvinismus. Das schafft ein offenes Ohr für die Kriegstreibereien der Herrschenden und bereitet den Faschisten den Boden.

Was Standortdenken und Aufgeben des Kampfes gegen die Konkurrenz unter den Arbeitern live hervorbringt, ist nirgends besser ablesbar als am Beispiel des berühmten Kampfes der ostdeutschen Kalikumpel in Bischofferode. Als hier im Zuge der Annexion der DDR der überaus profitable Abbau des Kalisalzes K60, das wegen seiner Einmaligkeit weltweit gefragt war, gestoppt und die DDR-Grube dicht gemacht werden sollte, um der BASF einen mächtigen Konkurrenten vom Halse zu schaffen, rebellierten die Kumpel. Sie streikten dermaßen unüberhörbar und konsequent, dass sie wie eine Welle große Teile des Ostens erfassten und selbst über die ökonomischen Forderungen hinaus zum Sinnbild des Widerstandes gegen die Annexion wurden. Die Losung »Bischofferode ist überall!« wehte mehr und mehr in den Demonstrationen gegen Abwicklung und Liquidierung der Kombinate der annektierten DDR.

Die Rolle der großen Westgewerkschaften bei diesem Streik, der zu Betriebsbesetzung und Hungerstreik ausgeweitet wurde, konnte nicht schmachvoller sein. Mit ganzseitigen Anzeigen riefen Westgewerkschaften zum Abbruch des Hungerstreiks der ostdeutschen Kaliarbeiter auf, ließen sie im Stich, verweigerten ein unabhängiges Gutachten, das die Wirtschaftlichkeit des Thomas-Müntzer-Schachts beweisen sollte, usw.

Besser hätten die Westgewerkschaften der Chemiebranche nicht für »ihren Chemiestandort Westdeutschland« einspringen können, schmachvoller hätten sie die ostdeutschen Kalikumpel nicht verraten können. Viele dieser Skandale und die enttäuschten Hoffnungen in die Macht der Gewerkschaften, doch noch ihre Betriebe und Kombinate zu retten, sorgten für Gewerkschaftsaustritte im Osten in nie dagewesener Größenordnung. Aus ihrem FDGB, der Einheitsgewerkschaft der DDR, konnten die Arbeiter der DDR nicht mehr austreten, denn er wurde im Zuge der Annexion mit strammem Gewehr bei Fuß vom DGB mit zerschlagen.

Außerdem möchte ich auf die Reaktion der Westgewerkschaften auf den Streik für die 35-Stundenwoche im Osten hinweisen. Auch hier: Anstatt solidarisch mit ihren Kollegen im Osten gleiche Rechte und Arbeitsbedingungen für alle zu erkämpfen, maulte man lieber über die Produktionsstopps in den Westwerken, weil von den bestreikten Ostwerken keine Zulieferungen mehr kamen. Der Streik um die 35-Stundenwoche im Osten scheiterte, nicht nur, aber auch deswegen.

Sozialdemokratie und Krieg

Betrachten wir eine andere Seite der Thematik. Auch der Zugang zu Rohstoffen und Märkten ist wichtig für Wettbewerbsfähigkeit – wichtig für den »eigenen« Standort, der mit dem »eigenen Wohlergehen« gleichgesetzt wird. Die Beschwörungsformeln der Bourgeoisie, in Zeitungen, Volksempfängern oder heutigen dominierenden Medien, von der Notwendigkeit der Rohstoffe und des Zugangs zu den Märkten und, zwar nicht offen ausgesprochen, aber von allen mitgedacht, gegen jene, die sie uns vorenthalten oder vor uns haben, ihre Wirtschaft uns nicht öffnen – das macht natürlich Eindruck auf alle, die sich gut eingerichtet haben in der europäischen Führungsmacht und die wollen, dass sie Führungsmacht bleibt. Es soll ja wenigstens so bleiben, wie es ist. Dass sich auf diesen materiellen Ängsten schnell eine Ideologie baut, die Kriege für notwendig erklärt und statt von Rohstoffen und Märkten lieber von Menschenrechten und Demokratisierung spricht, ist nachvollziehbar.

Der 1. Weltkrieg war mit der SPD trotz der heißblütigen Vaterlandsliebe ihrer Führung nur recht holprig zu machen. Am Ende hatte man eine Revolution auf dem Hals, kriegsmüde sozialdemokratische desillusionierte Soldaten, die die Waffen umdrehten. Für die richtig großen Kriege gegen die imperialistische Konkurrenz, für den zweiten Run auf die Weltherrschaft griff man aus dieser Erfahrung heraus lieber zu einer anderen sozialen Hauptstütze und errichtete die faschistische Diktatur.

Für regionale Kriege wie den Überfall der BRD auf Jugoslawien jedoch ist die SPD gut genug und brauchbar. Das stellte sie eindrucksvoll unter Beweis, als sie den erneuten Einstieg ins Kriegeführen, nach dem bis dato schrecklichsten an Verbrechen, die der Mensch seinesgleichen antun kann, den Arbeitern im Land der Täter wieder andrehte. Für den Dammbruch von 1999 kam nur die Sozialdemokratie in Frage, mit einer in der Arbeiterschaft verankerten Partei war der Krieg den Massen zu verkaufen. Dieser Spurt von CDU-Seiten hätte doch massiven Widerstand auf den Plan gebracht. Ein klassischer Job der SPD als sozialer Hauptstütze des Kapitals.

Das Verhältnis der Sozialdemokratie zur Nation ist daher alles andere als geprägt durch Internationalismus. Geprägt ist es nicht selten auch durch Ausflüge in den Antisemitismus. Denn bedroht wird »unser« Standort auch durch sogenannte »Heuschrecken«. Die seien an keiner »bodenständigen ehrlichen deutschen materiellen Produktion«, sondern nur an Spekulation interessiert und stammten aus dem Ausland, vornehmlich aus den USA. So ist man schnell bei dem, was die IG Metall Zeitung im Mai 2005 in aller Dummheit und Gefährlichkeit auswalzte: beim »schaffenden« und »raffenden« Kapital.

Die Hilflosigkeit, auf der einen Seite standortlogisch zu denken, im Glauben, dass nur die starke »eigene Wirtschaft« das eigene Fressen retten kann, auf der anderen Seite aber die miserable Lage der Kollegen im Nachbarland dann doch nicht ignorieren zu können, beschreibt den Widerspruch vieler Gewerkschafter. Dieser Widerspruch, der typisch ist für die Sozialdemokratie, zeigte sich z.B. in der Rede eines Vertreters der IGM beim Warnstreik von Stadler und Alstom Anfang 2012 in Berlin. Er machte dort die Gleichung auf, dass man von den riesigen Gewinnen der Metallindustrie, die die gut laufende »eigene Wirtschaft« glücklicherweise einfährt, den deutschen Arbeitern abgeben sollte, denn diese könnten dann mit dem Geld in den Urlaub nach Spanien fliegen, was wiederum den Kollegen in Spanien Aufträge und Arbeit bescheren sollte. Quasi gut, dass es die die spanische Wirtschaft kaputtexportierende deutsche Wirtschaft gibt und sie so gut läuft, denn sonst würden noch weniger deutsche Arbeiter in den Urlaub nach Spanien fliegen, und der kaputten spanischen Wirtschaft ginge es noch schlechter usw.

Das Verhältnis der Sozialdemokratie zu den Armutsschichten des Proletariats und der kapitalistischen Gesellschaft im Allgemeinen

Wenn man beim Pflegedienst am Krankenbett des Kapitalismus mit gefalteten Händen seiner Reformierbarkeit anhängt, sind alle Indizien der Unmöglichkeit dieser Reformierbarkeit immer mehr fehl am Platze, da sie das Scheitern der Sozialdemokratie belegen. Alles, was das soziale Elend des ganz gewöhnlichen Kapitalismus aufzeigt, verdient sich deswegen die Abneigung der Sozialdemokratie. Die unteren Schichten der Gesellschaft und der stetige Abstieg kleinbürgerlicher Schichten dorthin sind natürlich der offensichtliche Beweis für die Verelendung der Arbeiterklasse und das vorprogrammierte Scheitern der Anhänger des Kapitalismus mit menschlichem Antlitz. Dieses Elend kann vielleicht durch kurze Zeiten des Aufschwungs und des Booms überdeckt werden, es bricht aber früher oder später umso mehr, mit wachsender Gewalt wieder ans Tageslicht. Jene Abneigung gegen die Armut, die Arbeitslosen, die Unterschichten der kapitalistischen Gesellschaft wie gegen einen Störfaktor, ist dort, wo sie nicht greift, ersetzt durch eine vollkommene Hilflosigkeit, mit diesen Erscheinungen des Kapitalismus umzugehen.

Aus der Ideologie eines zu gestaltenden Kapitalismus und aus dem Ausklammern der stetig wachsenden Masse der Elenden, produziert durch die Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus, vertritt man so nur die bessergestellten Arbeiter, Stammbelegschaften in den großen Betrieben. Diese sind noch einigermaßen gut gestellt, berechenbar und durch Betriebsräte und hohen Organisationsgrad kontrollierbar. Sie passen sich in jenes Konzept der sozialdemokratischen Gewerkschaften ein, alle Jubeltage für eine Prozentzahl vor das Tor zu gehen, um auf Befehl für die halbierte Prozentzahl wieder zurück an den Ausbeutungsplatz zu schlendern.

Mit Ungelernten, Hilfsarbeitern, Leiharbeitern und all denen, die aus dem Verwertungsprozess des Kapitals geschleudert werden, Arbeitslosen, in Hartz 4 Geprügelten, die sich nur träge noch Illusionen über die Ausweglosigkeit ihrer Situation machen, unberechenbar, unerreichbar für die Gewerkschaften und ständig fluktuierend, geht man, wenn überhaupt, bestenfalls hilflos um. Hilflos wie die gewerkschaftlichen Arbeitsloseninitiativen oder die Arbeitslosenrechtsberatung, die natürlich ihren Nutzen hat, aber die wenigen Arbeitslosen, die sich wehren wollen, letztlich nur weiterreicht an die restlos individualisierende bürgerliche Justiz. Derlei Institutionen sind oft nicht mehr als eine notdürftige Verwaltung des Elends. Jegliche Konsequenz schwächt sich sowieso ab, denn man ist immer in der Hoffnung, dass sich der siechende Patient Kapitalismus auf dem Krankenbett in Bälde erholt und mit Vollbeschäftigung um sich wirft. Aber was sollten Arbeitslose in den sozialdemokratisch geprägten Gewerkschaften auch tun, wenn sich diese Gewerkschaften gerade durch das Nichts-Tun auszeichnen? Die Unterstützung und Auseinandersetzung mit kämpfenden Arbeitern in der Gewerkschaft, der Kampf gegen die eigene Misere in der Gewerkschaft, steht als Betätigungsfeld, das der Isolierung der Arbeitslosen entgegenwirken würde, in eben diesen Gewerkschaften nicht zur Verfügung. Denn kämpfende Arbeiter und Kampf der Arbeitslosen gegen die eigene Misere ist selten gesehen in der deutschen Gewerkschaft.

Um Leiharbeiter und andere Lohndumpingarbeiter kümmert man sich heute gerade in der IG Metall schon merklich engagierter als in den letzten Jahren. Doch wurde das für die IGM erst dann wichtig, als die Kapitalisten mit dem mittlerweile fast millionenfachen Zugriff auf die Leiharbeit Gewerkschaftsführungen so vor den Kopf schlugen, dass ein paar verkleisterte Augen aufspringen und erschreckt entdecken, dass den Gewerkschaften damit die letzten Zähne gezogen werden sollen. Natürlich sei bemerkt, dass das späte Engagement der IGM gegen die Leiharbeit zu allem Überfluss mit erschreckendem Opportunismus daherkommt. Dazu später mehr.

Wenn dann doch mal die besonders schlecht bezahlten Arbeiter streikten, dann waren dies gerade von den Gewerkschaften nicht nur nicht unterstützte, sondern bekämpfte »wilde Streiks«. So ein Fall war der berühmte, mehrere Wochen anhaltende Streik der türkischen Arbeiterinnen des Automobilzulieferers Pierburg (heute KSPG) in Neuss 1973. Die Frauen streikten gegen ihre extrem schlechte Bezahlung und die massive Diskriminierung an ihren Arbeitsplätzen. Für diesen Streik fühlte sich die Gewerkschaft nicht zuständig und stimmte gleich noch ein in den Chor der Bourgeoise, wenn es galt, diesen »wilden« Streik zu verdammen.

Die westdeutsche Hochkonjunktur Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre, die die kurzzeitige Verelendung und Verarmung der Arbeiter überspielte, schien endlich die Bestätigung des Projektes eines »Kapitalismus mit menschlichem Antlitz« zu sein. In einer Tour hielt man das den Linken auch vor: »Seht her, es geht auch ohne eure Revolution …« Man protzte mit dem Erreichten und proklamierte mehr als bisher den Anspruch an den »menschlichen Kapitalismus«, der alle satt macht. Wenn die Motoren jedoch ins Stocken gerieten und geraten, wurde und wird dieser Anspruch schnell wieder fallengelassen.

Um dann auch in nicht so rosigen Zeiten die Profitraten hoch zu halten, muss das Kapital die Arbeiter intensiver ausbeuten, mehr Geld aus dem Staat ziehen, das bei den untersten Schichten eingespart wird. Diese stehen dann im Fadenkreuz.

Nach Denkweise und dem Desinteresse der Sozialdemokratie an Systemkritik – denn es ist auch ihr System – dürfen keine gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten für eine ständig wachsende Verelendung verantwortlich sein, sondern bestenfalls die anderen regierenden Parteien, aber, vor allem, wenn man selber die regierende Partei ist, immer auch die Elenden selber. Dazu ließ passenderweise der Sozialdemokrat Gerhard Schröder in der dazu passenden Zeitung Passendes vom Stapel, als er verkündete:

»Es gibt kein Recht auf Faulheit in dieser Gesellschaft«, und weiter: »Wer arbeiten kann, aber nicht will, der kann nicht mit Solidarität rechnen.«13

Dass dies keine leere Drohung war, sondern Programmauftakt, ist bekannt. Eine derart massive Intensivierung beider Bereiche, a) gesetzlich verordnete und geplante Verarmung der Arbeitslosen und b) gesetzlich verordnete und geplante Legalisierung besonders prekärer Ausbeutungsverhältnisse mit der totalen Entfesselung der Leiharbeit, hatte es nach dem 2. Weltkrieg bis dato nicht gegeben. Beides wurde bestens entwickelt und durchgesetzt im Sinne und auf Wunsch des Kapitals nach besserer Verwertung der Arbeitslosen. Beides wurde bestens entwickelt und durchgesetzt von der Sozialdemokratie und den Gewerkschaftsspitzen. Und ähnlich wie beim Tabubruch mit dem ersten deutschen Angriffskrieg nach 1945 auf Jugoslawien konnte dies auch nur die Sozialdemokratie mit ihrer Verankerung in der Arbeiterschaft durchsetzen. Mit dem weichenden Aufschwung wich auch der Anspruch an einen »menschlichen Kapitalismus« und machte Platz in der Sozialdemokratie für die »atmende Fabrik«, den »eng zu schnallenden Gürtel« und den »faulen Arbeitslosen«.

Da hier die Thematik Leiharbeit angeschnitten wurde, folgt dazu ein kleiner Exkurs, zeigt doch der Umgang der deutschen Gewerkschaften, besonders Europas größter Industriegewerkschaft IG Metall – zufällig auch meine Gewerkschaft – die besondere Verkommenheit der deutschen Sozialdemokratie auf. In der IGM möchte man sich schon richtig verstanden wissen, Leiharbeit ist schon eine Notwendigkeit der unter dem brachialen Druck toller Arbeiterrechte in diesem Staat stöhnenden deutschen Wirtschaft. Dass die Kapitalisten jetzt dieses schöne Ausbeutungsinstrumentarium der Leiharbeit so schön gebrauchen, wundert manche, die doch dachten, der »Sozialpartner« sei ein guter Kumpel. Im Sprachgebrauch meiner Gewerkschaft wird die Leiharbeit deswegen nicht einfach nach allen Regeln der marktwirtschaftlichen Kunst gebraucht, sondern die Leiharbeit, die Gute, wird »missbraucht«, vergewaltigt durch böse Männer.

Um die Thematik Leiharbeit und deutsche Gewerkschaften in den richtigen internationalen Kontrast zu rücken, sei die sozialdemokratische Erklärung der mächtigen IG Metall, die Leiharbeit auf keinen Fall zu bekämpfen, sondern sie auch noch mitgestalten zu wollen, mit dem ebenso sozialdemokratisch begründeten Verbot der Leiharbeit durch die staatlichen Stellen des Entwicklungslandes Namibia verglichen, das seit dem 1. März 2009 wirksam ist.

Der Richter des obersten Gerichtes dieses bettelarmen Landes begründete das Verbot wörtlich wie folgt:

»Eine Person, die in der Wirtschaft aktiv ist, zum Beispiel ein Bordell betreibt und dafür im Menschenhandel mitmischt oder in der Sklaverei, die kann sich nicht auf die Verfassung berufen und fordern, dass dies im Sinne der Freiheit des Handels und der Wirtschaft gedeckt sein muss.« Leiharbeit sei nach der Aufassung des Richters »nichts anderes als ›moderne Sklaverei‹«.14

Dagegen ein Auszug aus einer Rede Berthold Hubers, Chef der mächtigen IGM, zum Auftakt der Leiharbeitskampagne Gleiche Arbeit – Gleiches Geld im Jahr 2008:

»An den Befunden der Verunsicherung und der Ungerechtigkeit wird die IG Metall in ihrer bundesweiten Kampagne ansetzen. Wir werden mit dieser Kampagne selbst aktiv und wir haben Forderungen auch an die Politik. Wir wollen Leiharbeit begrenzen, wo Missbrauch stattfindet und wir wollen Leiharbeit gestalten, wo sie weiterhin geleistet wird. Wir lehnen Leiharbeit nicht grundsätzlich ab, aber wir wollen Missbrauch verhindern und Leiharbeit fair gestalten.«15

Alles dies zum Umgang der Sozialdemokratie mit den unteren Schichten des Proletariats und der kapitalistischen Gesellschaft im Allgemeinen klingt schon sehr krass und scheint schwer zu überbieten. Und doch ist der Umgang mit den Armutsschichten in Zeiten der ausgerufenen »Volksgemeinschaft« von ganz anderem Holz, anderer Qualität. Nicht hilfloser Umgang mit der Verelendung der Arbeiter oder aus Hilflosigkeit gar kein Umgang, nicht eine Ideologie eines menschlich zu machenden reformierbaren Kapitalismus, die ausgehend von der wirtschaftlichen Lage mal mit Zuckerbrot, mal mit Peitsche gefahren wird – sondern die geplante, alles andere als hilflose Nutzung der verarmten Arbeiter und des Lumpenproletariats für eine faschistische Sammlungsbewegung bis zur Versklavung und Liquidierung dieser Schichten ist im Faschismus Programm. Wie die Nazis fernab jeder Hilflosigkeit Arbeitslosigkeit letztlich doch besiegten und Hungernde verschwinden ließen, fasste Walter Ulbricht prägnant zusammen:

»Statt 6 Millionen Erwerbslose – 6 Millionen Tote, das ist die Bilanz der ›Arbeitsbeschaffung‹ der faschistischen Machthaber.«16

Das sollte man auf jeden Fall den Nazis lassen, wenn man überall hört, dass bei denen nicht alles schlecht war.

Was Nazis und Arbeitslosigkeit und Elend betrifft, ein Hinweis. Es gibt derzeit keine Untersuchung der Schichten und Klassen in der BRD. Was versteht man unter Lumpenproletariat? Es handelt sich um Deklassierte aus allen Schichten, nach Marx »eine vom industriellen Proletariat genau unterschiedene Masse, […] von den Abfällen der Gesellschaft lebend, Leute ohne bestimmten Arbeitszweig, Herumtreiber«.17 Dass es durch die wachsende Verelendung hier einen gewaltigen Anstieg gegeben hat, gerade mit dem Greifen der Arbeitslosendisziplinierungsmaßnahmen, ist unverkennbar. Zahlen und Fakten dafür sind spärlich gesät. Wie greifen die Nazis auf dieses Potential bereits zu?

In den ländlichen Gebieten der annektierten DDR ist das Aufgreifen der vom Staat fallengelassenen Sozialmaßnahmen durch die Faschisten derart fortgeschritten, dass vor Ort Wirkende zugeben müssen, dass man bereits auf die Faschisten angewiesen sei, weil ohne sie soziale Strukturen zusammenbrechen würden. Ist das von der NPD-Ortsgruppe organisierte Essen auf Rädern, die Kindertagsfeier und der hergerichtete Spielplatz im brandenburgischen Dorf so was ähnliches wie das damalige Paar Stiefel, mit dem man den Bettler zum Mitprügeln in der SA überredete? Und wo wir schon im Osten sind, welche Auswirkungen hat die Aussperrung einer ganzen Generation, darunter Hunderttausende in einem Alter, das jede noch so geringe Chance, jemals wieder Arbeit zu finden, ausschließt? Wie reagiert diese gewaltige aufgegebene Menge verarmter Arbeiter mit dem klassischen Lumpenproletariat, das eine faschistische Sammlungsbewegung letztlich speist? In welcher Drift steht das Heer der Hartz4-Empfänger, das jetzt schon erfolgreich aus jeder gesellschaftlichen Kommunikation getrieben ist und im Ausmaß eines gesamtgesellschaftlichen Konsenses als schuldig und störend empfunden wird?

Gerade dies ist eine vollkommen neue Situation, für die es jedenfalls in Zeiten der bürgerlichen Demokratie kein Beispiel gibt. Welcher Fond für die faschistische Sammlungsbewegung entsteht hier im Zusammenspiel mit dem Lumpenproletariat? Viele offene Fragen, deren Brisanz tagtäglich wächst!

Gewerkschaften und Staatstreue

Was die Staatstreue der sozialdemokratischen Strömung gerade in den Gewerkschaften anrichtet, zeigt sich dort in einer bis zur Sättigung gediegenen Akzeptanz des Parlamentarismus, in einem erschlagenden Legalismus. Ein treffender Beleg dafür ist die Erklärung des DGB, doch lieber nicht gegen die Notstandsgesetze zu streiken:

»Der Bundesvorstand des DGB lehnt einen allgemeinen Streik (Generalstreik) zur Verhinderung der Notstandsgesetz ausdrücklich ab, denn er hält es für einen Verstoß gegen die Grundsätze der parlamentarischen Demokratie, gegen einen mit großer Mehrheit gefassten Beschluss des Bundestags zum Streik aufzurufen.«18

Dieses Nein zum Generalstreik des DGB musste kommen. Hunderttausende Demokraten hatten gegen die Notstandsgesetze gekämpft. Allein 70 000 forderten einen Sternmarsch nach Bonn. Es war also brenzlig geworden für die Stimmung in der Homebase des deutschen Imperialismus.

Die soziale Hauptstütze funktionierte abermals. Eingerichtet im kapitalistischen Staat, geduldet von der herrschenden Klasse, weil gebraucht als soziale Hauptstütze, um den Klassenkampf der Arbeiter zu verhindern, dann und wann brav angemeldet und brav wieder eingestellt im Tarifstreit dieses oder nächstes Jahr, endlich die Drei-Prozent-Marke zu knacken. Hier und so entsteht und festigt sich massiv das Bewusstsein, in der Staatsmaschinerie dazuzugehören, eine wichtige Rolle zu spielen. Was das in der Praxis heißt und hervorbringt, bringt der Aufruf des ADGB zur Teilnahme an der faschistischen Maikundgebung 1933 ans Tageslicht:

»So habt ihr im Zeichen des 1. Mai euch den gesetzlichen Achtstundentag, das Recht auf menschenwürdige Existenz erobert. Wir begrüßen es, dass die Reichsregierung diesen unseren Tag zum gesetzlichen Feiertag der nationalen Arbeit, zum deutschen Volksfeiertag erklärt hat. An diesem Tag soll nach amtlicher Ankündigung der deutsche Arbeiter im Mittelpunkt der Feier stehen. Der deutsche Arbeiter soll am 1. Mai standesbewusst demonstrieren, soll ein vollberechtigtes Mitglied der deutschen Volksgemeinschaft werden. Das deutsche Volk soll an diesem Tage seine unbedingte Solidarität mit der Arbeiterschaft bekunden.«19

Mit stolz geschwellter Brust, dankbar für den zum Feiertag erklärten »Tag der nationalen Arbeit«, der auch Tag des Arbeiters sein kann, gehen die Schafe zur Schlachtbank. Der deutsche Arbeiter und seine deutsche Gewerkschaft sind dabei, denn an uns kommt keiner vorbei im Staate, wo wir doch so lange so gut zusammenarbeiten. Wir sind die Arbeiter, die Pioniere des Maigedankens, und das ist anerkannt, und deswegen beteiligen wir uns festlich an der staatlichen Maifeier der Faschisten … Welche Rolle die Sozialdemokratie damit im Blockbuster Kapitalismus spielt, war in Vorbereitung auf den baldigen Selbstmord komplett vom Schirm. Einen Tag nach dem 1. Mai 1933 begann der Terror gegen die Gewerkschaften.

Gewerkschaften und soziale Basis

Eine der Hauptaufgaben der Gewerkschaft in unserem Sinne ist die Hinderung und Bekämpfung der Konkurrenz unter den Arbeitern, die Entwicklung proletarischer Solidarität gegen die Vereinzelung und Spaltung der Arbeiter durch Organisation und gemeinsamen Kampf. Mit Blick auf die millionenstarken Mitgliedschaften und millionenstarken Streiks vergangener Gewerkschaftszeiten, auch nicht weniger solidarischer Arbeitskämpfe über Länder-, Branchen-, Abstammungs- und Geschlechtergrenzen hinweg, kann die kolossale Umsetzung dieser Aufgabe in vergangenen Tagen, aber vor allem die Wichtigkeit unserer Gewerkschaften für unseren Kampf in heutigen Tagen nicht geleugnet werden. Das sei dem jetzt folgenden Aber hier und immer entgegengestellt.

Aber: Genauso wie die fortschrittlichen Kräfte in den Gewerkschaften dem Wunsch der Kapitalisten nach schwachen, weil vereinzelten Arbeitern, die sich noch besser gegen die Kollegen aufhetzen lassen, mit der Organisation, Unterstützung und Aufklärung der Arbeiter ein Bollwerk entgegensetzen, fördert die sozialdemokratische Strömung in den Gewerkschaften die Atomisierung der Arbeiterklasse und wirkt somit ins Gegenteil verkehrt. Vorangetrieben besonders seit den 90er Jahren durch SPD und Gewerkschaften, wird zersplittert und zerspalten vom Großen, in Standort, Branchen, Einzelgewerkschaften, bis zum Kleinen, in gespaltene Belegschaften durch Leiharbeit usw., bis ins Kleinste durch verschiedene Verträge und Lohngruppierungen. Die Arbeiter werden nach Wunsch der Kapitalisten entwaffnet. Natürlich lässt diese durch die Zersplitterung der Gewerkschaften geförderte Konkurrenz der Arbeiter untereinander die Verbürgerlichung im Bewusstsein der Kollegen prächtig gedeihen. Da reicht der Neid auf die lächerliche steuerliche Vergünstigung, die ein Kollege wegen seiner Kinder bekommt. Die Kinder der eigenen Klasse werden zu den »Gören des anderen, der damit Asche macht«.

Hierfür beispielgebend sei genannt das von der IG Metall mit dem »Arbeitgeberverband« ausgehandelte und 2005 eingeführte Entgelt-Rahmenabkommen, kurz ERA genannt. Im Zuge dieser Schweinerei wurden sämtliche Arbeiter in Stufen einsortiert, die kennzeichnen sollen, wie wertvoll ihre Arbeit ist. Was das in den Belegschaften angerichtet hat, ist verheerend. Nicht nur die Lohneinbußen vieler, sondern gerade die daraus entstehende Spaltung der Belegschaft ist himmelschreiend. Das ERA stellt nicht mehr und nicht weniger als die durch die Gewerkschaft mitgetragene Prüfung dar, ob ein Arbeiter am Ende noch zu viel Lohn bekommt. Also nicht mal mehr die gemeinsame Forderung nach mehr Lohn für wenigstens eine Branche steht damit auf der Tagesordnung, sondern die Forderung, dass keiner zu viel verdienen sollte. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen! Und die Forderung, dass keiner zu viel verdienen sollte, ist Öl ins Feuer des mangels Erkenntnis aus eigener Misere erwachsenden Neids auf den Euro mehr auf der Lohnabrechnung des Kollegen.

Auch angesichts der Trostlosigkeit, die diese Bilanz aufzeigt, sei hier auf den Unterschied zwischen der reaktionären Gewerkschaftspolitik und der ausgerufenen »Volksgemeinschaft« im Faschismus hingewiesen.

Das Agieren der Gewerkschaften, unbedingt darauf bedacht, auf kein Blumenbeet des Staates zu latschen, die Anbiederung an die herrschende Klasse bis hin zum Verrichten der Drecksarbeit, ist unbestritten das Schmierfett auf der Rutsche in den qualitativen Umschlag, die Ablösung der bürgerlichen Demokratie durch den Faschismus. Doch zieht sich ein scharfer Trennstrich zwischen der Ansammlung der Quantitäten und der neuen Qualität. Ein Trennstrich, ein überwältigender Unterschied zwischen Klassenversöhnung und »Volksgemeinschaft«, der kaum sichtbarer werden kann als durch den Kontrast, dass sich die schweißtreibende Vorbereitung des qualitativen Umschlags in den Faschismus durch die Sozialdemokratie dann unmittelbar als die Vorbereitung ihres eigenen Selbstmordes herausstellt.

Denn mit der Herrschaft »der reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals« wird die reaktionäre Politik der Gewerkschaften nicht fortgesetzt, nein, hier beginnt eine ganz andere Ebene. Die verhasste rechte Politik der Gewerkschaften, ihre Säumnisse, ihre reaktionären Kniefälle vor der herrschenden Klasse, aber eben auch ihr revolutionäres, unendlich durch unzählige Generationen von Arbeitern erkämpftes Erbe und Potential, ihre mächtige Waffe der organisierten Arbeiterschaft, die einzig und allein den Faschismus besiegen kann, all das endet an diesem Punkt oder wird bestenfalls Lichtjahre in die Ferne geschleudert. Es endet mit dem Ende der Gewerkschaft selber, die im Faschismus liquidiert und ersetzt wird durch »Volks- und Betriebsgemeinschaft«, in der jedes noch so kleinste Bestreben einer Organisierung der Arbeiter gegen ihre Ausbeuter verboten ist.

Die Gewerkschaft ist und bleibt unsere Organisation, egal wer da am Schreibtisch sitzt, und genau dies weiß der Klassenfeind nur zu gut. So hetzt er, was das Zeug hält, gegen diese unsere Organisation, die doch selber täglich genug Gründe produziert, von uns verhetzt zu werden. So wird alle Jahre mal ein Gewerkschaftsbonze medienwirksam an den Pranger gestellt. Und die Todfeinde der Arbeiter, die Kapitalisten, erzählen uns dann durch ihre Medien, was dieser doch für ein Arbeiterverräter ist. Womit wir zum Schluss und einem Fazit kommen.

Warum jetzt diese aufwändige Beschäftigung mit den Sozis und den Sozis in den Gewerkschaften?

Die Katastrophe der deutschen Sozialdemokratie ist immer auch unsere Katastrophe gewesen. Dieser Hinweis scheint vonnöten, denn so wie der Blick ins Angesicht des heraufziehenden deutschen Faschismus, des Todfeindes von Sozialdemokraten, Kommunisten und allen anderen fortschrittlichen Kräften, nicht ausreichte, wenigstens im Kampf gegen die heraufziehende Barbarei vereint zu streiten, scheint auch die Erinnerung daran, an die Hintergründe, unsagbaren Opfer und Zerstörungen offenbar wieder nicht gewichtig genug zu sein, um die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften als eben für uns entscheidende Faktoren zu behandeln. Als Faktoren, deren Entwicklung uns – und nicht nur im Verriss, sondern im Suchen nach Möglichkeiten – unbedingt zu interessieren hat. Ihr positiver Anknüpfungspunkt, die traditionelle Verankerung in der Arbeiterklasse, hat uns über alle Maßen wichtig zu sein, denn wir haben keine Verankerung in der Arbeiterklasse! Wir haben diese entscheidenden Faktoren, SPD und Gewerkschaften, ständig zu registrieren, zu bewerten und vor allem zu nutzen.

Der Umgang mit der deutschen Sozialdemokratie ist immer ein ständiger Tanz auf dem Seil mit einem Objekt, das immer gleichzeitig Feind und Bündnispartner ist. So ist es gewiss weitaus bequemer, die SPD und die Gewerkschaften mit ihrem Zugriff auf die Arbeiterklasse als »sowieso Scheiße« abzuhaken, wie in linken Kreise nicht selten zu beobachten. »Sowieso Scheiße«, ob heute oder gestern. So empfiehlt beispielsweise ein Buch des zu den sogenannten »Linkskommunisten« gezählten Willy Huhn mit dem Titel Der Etatismus der Sozialdemokratie, nicht länger vom Verrat der Sozialdemokratie zu sprechen, da diese nichts zu verraten hatte.

Solche oberflächliche Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie unterschlägt ihre widersprüchliche Entwicklung, in der bedeutende Revolutionäre wirkten wie Bebel, ein früher Kautsky, Wilhelm Liebknecht und Clara Zetkin und letztlich auch Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die es ohne die SPD nicht gegeben hätte. Unterschlagen wird damit der Kampf in und um die SPD, in der der Sieg des Reformismus lange Zeit alles andere als entschieden war. Unterschlagen wird aber auch das Erbe aus revolutionären Epochen, das die SPD bis heute in sich trägt, ihre soziale Basis, die Arbeiterklasse.

Der Missstand der oberflächlichen und undialektischen Behandlung der SPD und der Gewerkschaften legt auch offen, dass die heutige Hauptaufgabe in diesem neuen/alten Großdeutschland verkannt wird. Dass verkannt wird, dass es heute eben wieder um die Verteidigung der bürgerlichen Demokratie geht, was gerade in diesem Land nicht nur Verteidigung, sondern Kampf um Erweiterung bzw. Wiederherstellung demokratischer Rechte und Freiheiten heißt. Das ist die Devise dieser Stunde, weil wieder von einem übermächtigen Gegner ein Zustand zusammengeschoben wird, der weit hinter die bürgerliche Demokratie zurückfällt. Auch diesen Zusammenhang hat die Besichtigung der Unterschiede, Gemeinsamkeiten und Übergänge zwischen Burgfrieden und »Volksgemeinschaft« hoffentlich ein bisschen zu Tage gefördert.

Wie schnell die hier skizzierten Entwicklungen verlaufen, wie weit, ob unumkehrbar, ob schließlich bis zum bitteren Ende, dem Ende der bürgerlich-demokratischen Herrschaftsform des Kapitals, hängt von der Stärke, sprich dem Bewusstsein der Proleten, hängt von ihrem Druck auf die Sozialdemokratie ab. Wie dieser Druck auszuüben ist, ist lange bekannt und zur viel bemühten Parole geworden, leider aber auch zur folgenlosen Ansage verkommen. Druck auf die Sozialdemokratie ausüben, das heißt rein in die Gewerkschaften, dort die Fortschrittlichen unterstützen und – was genauso wichtig, aber noch schwerer ist – in den Betrieben organisieren und agitieren, soweit es geht. Soweit es irgendwie geht, mit allen, die daran interessiert sind – auch mit Sozialdemokraten.


  1. Dimitroff, Georgi: Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Kommunistischen Internationale im Kampf für die Einheit der Arbeiterklasse gegen den Faschismus, 2. August 1935. 

  2. Kleinhans, Bernd: »Volksgemeinschaft«, www.shoa.de, zitiert in www.zukunft-braucht-erinnerung.de/drittes-reich/wirtschaft-und-gesellschaft/128.html (Stand 18.02.2012) 

  3. Lenin, Wladimir I.: Die große Initiative, Werke Band 29, S. 410 

  4. Brecht, Bertolt: Hitler-Choräle, 1933 

  5. Handbuch für Vertrauensleute der IG Metall, 1973, S. 16-17 

  6. Autorenkollektiv W. Böhme, S. Dominik, H. Eisel u.a.: Kleines Politisches Wörterbuch, Dietz Verlag, Berlin 1973, S. 805 

  7. Gaugler, Eduard: »Sozialpartnerschaft«, zitiert in: Lexikon der Wirtschaftsethik, Herder, Freiburg 1993, S. 991 

  8. Homepage der Chemie-Sozialpartnerschaft, zitiert nach: www.chemie-sozialpartner.de/fakten/was-ist-sozialpartnerschaft (Stand 07.04.2012) 

  9. Engels, Friedrich, Briefe an Bebel, S. 52, zitiert in: Duncker, Hermann: Einführung in den Marxismus, Bd. 1, Berlin 1958, S. 284-288 

  10. Könke, Günter: Organisierter Kapitalismus, Sozialdemokratie und Staat: eine Studie zur Ideologie der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik (1924-1932), Stuttgart 1987 

  11. Lenin, Wladimir I.: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, Vorwort zur französischen und deutschen Ausgabe, Zürich 1916 

  12. Webb, Sidney: Geschichte des britischen Trade-Unionismus, zitiert nach Arbeiterverrat und Gewerkschaftsbonzen, internationaler Arbeiterverlag, ohne Jahresangabe 

  13. Schröder, Gerhard: Interview in der Bild vom 5. April 2001 

  14. Damm, Haidy: Namibia verbietet Leiharbeit, medienkombinat-berlin, 9.3.2009, zitiert nach medienkombinat-berlin.de/artikel/namibia-verbietet-leiharbeit (Stand 06. 05. 2012) 

  15. Huber, Berthold: Rede anlässlich des Auftaktes der Kampagne »Gleiche Arbeit –
 Gleicher Lohn!« am 9.4.08 in der IG Metall-Vorstandsverwaltung, zitiert nach netkey40.igmetall.de/homepages/leipzig/leiharbeit.html (Stand 06. 05. 2012) 

  16. Ulbricht, Walter: Legenden vom deutschen Sozialismus, 1945, zitiert in: 
Sympathisantengruppe des Arbeiterbundes für den Wiederaufbau der KPD, 
Gegen die Nazilügen, ohne Jahresangabe 

  17. Marx, Karl: Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, MEW Band 7, S. 26 

  18. zitiert in »Druck und Papier« (Zeitung der IG Druck und Papier) 11/68 

  19. Allgemeiner Gewerkschaftsbund: An die Mitglieder der Gewerkschaften, Gewerkschaftszeitung, 22. April 1933