Konferenz
»Der Haupt­feind steht im eigenen Land«

Die jährlich stattfindenden Konferenzen gegen den deutschen Imperialismus sollen den politischen Austausch und die Zusammenarbeit derjenigen revolutionären Kräfte fördern und vorantreiben, die in der Arbeiter- und demokratischen Bewegung für die Linie »Der Hauptfeind steht im eigenen Land« kämpfen wollen.

Alfred Grotjahn – Ein Eugeniker in der SPD der Weimarer Republik

Johannes Oehme

Mai 2012

1. Alfred Grotjahn – Kurzbiographie

Alfred Grotjahn (1869-1931) war Mediziner, Sozialhygieniker, Eugeniker – und SPD-Politiker.

  • 1904 Vortrag Was ist Sozialhygiene?
  • 1905 Eintritt in die Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene
  • 1912 Soziale Pathologie (Hauptwerk erschien auch in der SU)
  • 1918 Soziale Hygiene, Geburtenrückgang und das Problem der körperlichen Entartung
  • 1918 Eintritt in die (M)SPD
  • 1919 erstes und einziges Ordinariat für Sozialhygiene
  • 1921 Leitsätze zur sozialen und generativen Hygiene
  • 1921-1924 gesundheitspolitscher Reichstagsabgeordneter der SPD
  • 1926 Die Hygiene der menschlichen Fortpflanzung. Versuch einer praktischen Eugenik
  • Forschungsgebiete: Vergleichsstatistik, Volksgesundheit (Körpergröße, Krankheitsbilder, Wohnverhältnisse) Demographie (Bevölkerungsschwund, Elternversicherung/Kindergeld, Verhütungsmittel), Alkoholismus, Behinderten-, Blinden-, Nervenheilkunde etc. (»Entartung«), Ernährung + Selbstexperimente (u. a. bekennender »Lakto-Ovo-Vegetarier« und Abstinenzler)

Um sein Wirken besser beschreiben und einordnen zu können, brauchen wir zunächst drei Begriffsklärungen.

Alfred Grotjahn (1869-1931)

2. Begriffserläuterung: Sozialhygiene, Eugenik, Rassenhygiene und Grotjahns jeweilige Position

Sozialhygiene bildete sich Anfang des 20. Jhd. als Wissenschaftszweig aus der Kritik an Robert Kochs Bakteriologie als monokausaler Erklärung von Krankheitsursachen aus. Sozialhygiene kombiniert Medizin und Hygiene, Demographie und Sozialwissenschaften.

Grotjahn wird allgemein die Erfindung dieser um 1900 in der historischen Luft liegenden Wissenschaft zugeschrieben. Er bestimmte Sozialhygiene 1904 als »Lehre von den Bedingungen (deskriptiv) und Maßnahmen (normativ) […] der Verallgemeinerung hygienischer Kultur unter der Gesamtheit von örtlichen, zeitlichen und gesellschaftlich zusammengehörigen Individuen und deren Nachkommen«. Die Erwähnung der »Nachkommenschaft« verweist dabei schon auf die bevölkerungspolitischen und eugenischen Theorien Grotjahns.

Dietrich Tutzke, ein DDR-Mediziner, der eine Grotjahnbiographie geschrieben hat, fasst die Entstehungsgeschichte der Sozialhygiene dahingehend zusammen:

»Die zunehmende Verelendung der Arbeiter durch die kapitalistische Ausbeutung mit ihren negativen Auswirkungen auf die Gesundheit [was aber ist »die« Gesundheit im Kapitalismus anderes als dürftigste Arbeitsfähigkeit?] sowie die hieraus resultierenden Forderungen der organisierten Arbeiterklasse auf der Grundlage der von Marx und Engels geschaffenen Weltanschauung bildeten entscheidende Triebkräfte für eine Rückbesinnung der medizinischen Wissenschaft auf die Bedeutung der Sozialwissenschaft für die ärztliche Forschung. Begünstigt wurde dieser Prozess durch den sich auch in anderer Hinsicht [? nämlich dem bürgerlichen Bedürfnis nach Arbeiterklasse-Verwaltung?] längst als notwendig erweisenden Trend der Medizin zur Spezialisierung, für die im vorliegenden Fall die bürgerliche Sozialwissenschaft die Möglichkeit zu inhaltlicher und methodischer Konkretisierung bot. [In dieser »Anknüpfung« liegt bereits der Revisionismus/Reformismus und die letztlich antiproletarische Volksgesundheitspolitik Grotjahns.]

Es war deshalb kein Zufall, dass sich parallel zu den sozial- und gesundheitspolitischen Forderungen der deutschen Arbeiterklasse und zu den Bestrebungen der bürgerlichen Sozialpolitik die Sozialhygiene als Wissenschaft zu formieren begann. Da sich die Medizin seit ihrer naturwissenschaftlichen Fundierung in der zweiten Hälfte des 19. Jhd. ausschließlich mit der biologischen Erforschung des Menschen befasst hatte, war es kein leichtes Unterfangen, die Fachwelt von der Notwendigkeit einer paritätischen Einbeziehung der Sozialwissenschaften in die ärztliche Praxis und Forschung zu überzeugen. Dieser Aufgabe unterzog sich vor allem der bürgerliche Arzt Alfred Grotjahn, der durch die Systematisierung der sozialwissenschaftlichen Aspekte von Gesundheit und Krankheit zum Begründer der Sozialhygiene als Wissenschaft wurde.«

Demnach ist klar, dass Sozialhygiene nicht an-sich sozialreformerisch oder kommunistisch, sondern, indem Wissenschaft, erst mal (klassen-)indifferente Form und totes Werkzeug ist, und dass es sowohl kommunistische als auch sozialreformerische als auch z.B. faschistische Sozialhygiene geben kann.

Eugenik (Parallelbegriff: »Fortpflanzungshygiene«) ist bereits seit Ende des 19. Jhd. die aus Darwin geschlussfolgerte Idee der wissenschaftlichen »Erbgut«-»Verbesserung« durch »Aufwertung« (positive E.) oder Verringerung »negativer« »Erbanlagen« (negative E.). Man bezeichnet aber auch das in der griechischen Antike gängige buchstäbliche Wegwerfen von Säuglingen, die als krank und schwächlich erachtet wurden, als (vorwissenschaftliche) Eugenik. (So gab es in Sparta ein Ritual, bei dem das Neugeborene geprüft und gegebenenfalls in eine bestimmte Schlucht geworfen wurde.) Es gibt auch eine Reihe halb- und viertelsozialistischer Eugenik-Utopien, bevor die Nazis den Begriff auch für das Bürgertum zumindest in Deutschland relativ gründlich desavouieren.

Grotjahn war bekennender, bekannter Eugeniker. Er bestimmt Eugenik in Anlehnung an ihren Begriffsschöpfer Francis Galton 1926 so: »Eugenisch nennt man zweckmäßiger Weise die Bedingungen, welche die Fortpflanzung günstig, dysgenisch jene, die sie ungünstig beeinflussen.«

Trotz seiner Kritik an medizinischer Mechanistik etwa in der Bakteriologie klingt Grotjahn immer ein wenig, als seien Menschen Zuchteber. Er begründet einerseits die Sozialhygiene, indem er von »Kultur« redet, die den Menschen von den unmittelbaren Einflüssen der Natur unabhängig gemacht habe, (wobei »Kultur« statt etwa »gesellschaftliche Produktion« an sich kryptisch-unmarxistisch genug ist), frönt andererseits seinem sozialdarwinistischen Bedürfnis nach Bevölkerungspolitik, das immer nach einer Allmachtsphantasie des Wissenschaftlers, letztlich nach Iatrokratie (Traum von der Herrschaft der Ärzte) klingt. Z.B.:

»Der eugenische Gesichtspunkt muss letzten Endes auch für die sozialhygienischen Bestrebungen, als der übergeordnete, maßgebend sein. [warum nicht umgekehrt, Herr »Sozial«-Hygieniker?] Nur die stete Berücksichtigung der eugenischen Belange bei allen sozialhygienischen Bestrebungen kann die kulturell führenden Völker vor einer allmählich fortschreitenden Entartung des psychischen Substrates ihrer Kultur bewahren.« (1926)

Hier klingt eine neue Vermengung in dem so erzeugten Kategorienbrei an. Während der Begriff »Entartung« ganz konsequent der bürgerlichen Medizinermechanistik und Eugenik entspringt, weist die Rede von den »kulturell führenden Völkern« auf ein Geschichtsbild hin, das unwillkürlich denken lässt: Hätte Grotjahn von Kultur und Volk geschwiegen, wär er vielleicht Arzt geblieben. Er zwingt zu einer letzten Begriffsunterscheidung, die vielleicht als etwas eklig empfunden wird, die aber für die Unterscheidung sozialdemokratischer Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik von faschistischer wesentlich ist.

Was unterscheidet Rassenhygiene von Eugenik? Während die historischen Rassenhygieniker in Japan und vor allem Deutschland Eugenik als Teil der Rassenlehre ausgaben, ist in der Tat Rassenhygiene nur die besondre, imperialistisch-chauvinistisch radikalisierte Form der Eugenik, die auf einen qualitativen Unterschied der Rassen besteht und diesen (gesundheits-)politisch zu festigen sucht, durch Abwertung, Ausgrenzung, Ausmerzung »minderwertiger Rassen« und/oder Veredelung und »Reinigung« »höherer Rassen«, daher theoriegeschichtlich eine Konkretisierung eugenischer Ideen.

Von Grotjahn gibt es eine Reihe Äußerungen gegen Rassenhygienekonzepte, gegen Antisemitismus à la Gobineau usw., die man nicht außer Acht lassen, aber auch nicht überbewerten sollte. Jedenfalls verstand er seine Eugenik und Sozialhygiene als allgemeine Wissenschaft und nicht als Lehre von der Ertüchtigung einer deutschen Rasse. Das hielt ihn in seinem politischen Werdegang nicht ab, das mehrheits-sozialdemokratische Gesundheitspolitikverständnis als Dienst an Deutschland auszubilden, das den umstrittenen Übergang innerhalb der SPD von Arbeiterklassen-Reformismus zum Nachsinnen über Volkskörper und Volksgemeinschaft markiert, ein Übergang, der sie letztlich hinderte, in Theorie den Nazis etwas entgegenzusetzen, denen sie sich mit Personen wie Grotjahn praktisch bis zur Verwechselbarkeit anglich.

Grotjahn war auch seit 1905 Mitglied der von den Nazis bruchlos übernommenen Gesellschaft für Rassenhygiene, obwohl es in seinen Schriften einige dezidierte Äußerungen gegen deutsch-völkischen Rassismus und Antisemitismus gibt. Wie aktiv er in diesem Verein war, habe ich zumindest der Literatur über Grotjahn nicht entnehmen können. Auch plante er 1926, einen führenden Rassenhygieniker, Fritz Lenz, zum Nachfolger auf seinen Lehrstuhl zu berufen. Es gab also bei allen »spannenden« Unterschieden in »Fach- und Weltanschauungsfragen« reichlich persönliche Schnittmengen mit den bereits völkischen und nazistischen Medizinern.

3. Grotjahn als SPD-Politiker

2. Auflage einer Massenbroschüre in einem KPD-nahen Verlag: »Krieg allen Kranken« (1925) bzw. »Tod den Schwachen? Neue Tendenzen der Klassenmedizin« (1926) vom KPD-Mitglied und Grotjahn-»Schüler« und -Kritiker Georg Benjamin (1895-1942)

Seit 1918 war Grotjahn Mitglied der (M)SPD, der Mehrheits-Sozialdemokratie. 1918 hatte sich die USPD, etwas zögerlicher als der Spartakusbund, von der SPD abgespalten, die dadurch für Grotjahn attraktiv genug wurde. Nach dem Aufgehen der USPD in KPD und (M)SPD 1922 hieß die SPD VSPD (Vereinigte Sozialdemokraten) bzw. dann einfach wieder SPD.

Grotjahn ging trotz früher sozialdemokratischer Neigungen bewusst erst in die SPD, als er ihr bewundernd die Fähigkeit zu »Wirklichkeits- und Gegenwartspolitik« attestieren konnte. Er dachte die Arbeiterklasse, um die er sich Zeit seines Lebens sorgte, als Teil des Volkes, dessen Not durch Reformen zu lindern sei. Mit Arbeiterrevolution hatte er nichts am Hut. Er war auch einer von 3 (M)SPDlern, die 1922 gegen die Vereinigung mit den rechten Resten der USPD stimmten.

Für die SPD saß Grotjahn von 1921-1924 im Reichstag und arbeitete wesentlich zu gesundheitspolitischen Fragen wie der Organisation der Gesundheitsverwaltung, der Jugendwohlfahrt usw. Er agitierte aber auch gegen gewisse Impfungen und setzte eine Entschädigung für Impfschäden mit durch. Anhand seiner Stellung zum Abtreibungsparagraphen § 218 gab es zwischen ihm und der Fraktion Reibereien, aber er hat sich mit seinen bevölkerungspolitischen Ideen nicht durchsetzen können. Es wäre ein Thema für sich, diese ganze offizielle Tätigkeit im Rahmen der SPD-Reichstagsfraktion kritisch zu untersuchen. Deutlich wird, dass Grotjahn dort jedenfalls nicht Eugenik propagierte. Diese findet sich jedoch seit 1912, radikalisiert seit 1918 in seinen Werken. Es ist nicht leicht zu bewerten, was es angesichts der damaligen Popularität der Eugenik heißt, dass die SPD 1918 einen bürgerlichen Gelehrten in ihre Reihen aufnahm und ihn sogar in den Reichstag schickte, der regelmäßig eugenische Werke publizierte, und ob es ähnliche Fälle bei der KPD gab. Der Arzt (und Ehemann Hilde Benjamins) Georg Benjamin publizierte 1925 und 1926 eine Broschüre, die eher darauf schließen lässt, dass jedwede Eugenik (ob utopistisch, sozialdemokratisch, faschistisch …) in KPD-Kreisen erfrischend drastisch bekämpft wurde. Unter dem Titel Krieg allen Kranken (1925) bzw. Tod den Schwachen? Neue Tendenzen der Klassenmedizin (1926) kritisiert Benjamin den bürgerlichen Wissenschaftsbetrieb als willfährige Handlangermasse für das Bourgeoisinteresse nach Kürzung der Gesundheitsausgaben, Heilanstaltskosten, Renten, Ernährungskosten etc. Die Broschüre argumentiert vehement gegen die aufkommende Idee der Zwangssterilisierung und Rassenhygiene. Insofern kann man davon ausgehen, dass die SPD wissen konnte, wen sie da in ihre ersten Reihen holte.

Grotjahn gilt als Verfasser des gesundheitspolitischen Abschnitts des Görlitzer Programms von 1921. Auch darin findet sich keine Eugenik, weil er damit auf Ablehnung stieß (welcher Art, habe ich nicht erfahren) und nach Selbstauskunft (Erlebtes und Erstrebtes, 1932) zentristisch genug war, ein Programm zu formulieren, an dem niemand Anstoß nehmen würde. Er war unzufrieden mit dem Programm, weil darin keine Zentralisierung des Gesundheitssystems, kein Gesetz zur Asylierung von »Irren« und keine Forderung gegen den Geburtenrückgang enthalten war. Der Abschnitt Gesundheitspflege in Ergänzung zum Görlitzer Programm von 1921 durch den Augsburger Parteitag von 1922 lautet vollständig:

»Übernahme des gesamten Heil- und Gesundheitswesens in den Gemeinbetrieb. Vereinheitlichung des sozialen Versicherungswesens und dessen Ausdehnung auf alle Volksangehörigen. Planmäßige Verteilung aller der Gesundheitspflege dienenden Einrichtungen auf Stadt und Land. Ausbau der Krankenanstalten und aller anderen gesundheitlichen Heil- und Fürsorgeeinrichtungen. Elternberatungsstellen zur Heranbildung eines an Körper und Geist gesunden Nachwuchses. Eingliederung der Ärzte, Hebammen und des übrigen Heil- und Krankenpflegepersonals in die Gesamtorganisation des Heil- und Gesundheitswesens. Gemeinwirtschaftlicher Betrieb der Apotheken und aller Stätten der Herstellung, des Handels und Vertriebes von Heilmitteln und Sanitätswaren. Durchgreifende Gewerbehygiene und Unfallverhütung unter Erweiterung der ärztlichen Mitarbeit. Regelung der Irren- und Minderwertigenfürsorge[!]. Sorgfältiger Gesundheitsdienst in Stadt und Land durch von Selbstverwaltungskörpern gewählte Amtsärzte. Gipfelung des gesamten Gesundheitsdienstes in einer Reichszentralbehörde für Volksgesundheit, soziale Versicherung und Bevölkerungspolitik[!].«

Grotjahn wurde dann, wohl wegen Zwists mit der Parteileitung, zur Wahlperiode 1924 nicht mehr auf die Liste für den Reichstag gesetzt. Ein Angebot, für den preußischen Landtag zu kandidieren, lehnte er ab. Die Vereinigung mit den Resten der USPD hatte ihm angeblich die Lust auf Parteipolitik vergällt. Er war aber noch bis Ende seines Lebens »ruhendes« Parteimitglied und im Verein sozialdemokratischer Ärzte und der Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Alkoholgegner.

Seine besten Parteifreunde waren Albert Südekum, Wolfgang Heine und diverse andere recht rechte preußische Minister. Ökonomie lernte er bei Gustav Schmoller – Marx habe er früh ad acta gelegt, da »zu klassen- und revolutionsfixiert«.

4. Zu Grotjahns Reformkonzepten im Einzelnen

Seine publizierten Reformideen muss man sich jetzt leider noch mal genau anschauen. Dazu einige Aushebungen aus ausgewählten Werken nebst Kommentaren.

1912 erscheint erstmals sein Hauptwerk Soziale Pathologie, darin vier Paradigmen der Sozialhygiene, die zwar etwas gemeinplätzig wirken, aber erst mal guter Materialismus sind:

»1. Die sozialen Verhältnisse schaffen oder begünstigen die Krankheitsanlage. / 2. Die sozialen Verhältnisse sind Träger der Krankheitsbedingungen. / 3. Die sozialen Verhältnisse vermitteln die Krankheitserregung. / 4. Die sozialen Verhältnisse beeinflussen den Krankheitsverlauf.« (S. 15)

Obwohl etwa unter praktischen Medizinern Salomon Neumann schon 1848 (vor Rudolf Virchow!) zu ähnlichen Erkenntnissen gelangte (»dass die Gesellschaft […] nicht eher die Früchte der medizinischen Wissenschaft und Kunst genießen wird, als von ihr in Wirklichkeit es anerkannt sein wird, dass die medizinische Wissenschaft ihrem innersten </nowiki>Kern nach eine soziale Wissenschaft ist …«), formulieren die vier Paradigmen Grotjahns eine solide materialistische Grundlage für Sozialmedizin/Sozialhygiene im Kapitalismus – und über ihn hinaus. Neben Forderungen wie Assanierung der Städte etc. finden sich in der Sozialen Pathologie auch schon eugenische Überlegungen wie im folgenden Werk von 1918, die daher nicht als Kriegsprodukte, höchstens als Kriegsvorbereitungsprodukte zu werten wären.

1918 erscheint Soziale Hygiene, Geburtenrückgang und das Problem der körperlichen Entartung. Grotjahns Sorge gilt dem allgemeinen Bevölkerungsrückgang durch Krieg und Kondome. (Die Verbreitung von Präservativen ab Anfang des 20. Jhd. galt als nicht unwesentliche Ursache für den massiven Rückgang des Bevölkerungswachstums in vielen europäischen Ländern.) Von einem kapitalistischen Populationsgesetz hat Grotjahn offenbar in seinen halbmarxistischen Jugendjahren nichts gehört. Er will das Populationsgesetz medizinisch-gesetzlich regulieren und wird dabei zum volkswirtschaftlichen Vollzugsbeamten deutscher Standortinteressen:

»Die Nation, der es zuerst gelänge, das gesamte Krankenhaus- und Anstaltswesen in den Dienst der Ausjätung der körperlich und geistig Minderwertigen zu stellen, würde einen von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wachsenden Vorsprung vor allen übrigen Völkern gewinnen. Das Gespenst der Entartung, das […] auch die noch im vollen Safte stehenden Kulturvölker schreckt, würde für </nowiki>diese Nation seine Schrecken verloren haben.« (S. 443)

»Minderwertigkeit« zählt Grotjahn anhand der Wehruntauglichkeit(sstatistik) so vor: »Kommen doch nach vorsichtiger Schätzung auf das Hunderttausend der Bevölkerung bei uns etwa 400 Geisteskranke und Idioten, 150 Epileptiker, 200 Trunksüchtige, 60 Blinde, 30 Taubstumme, 200 Verkrüppelte und 500 im vorgeschrittenen Stadium befindliche Lungenkranke [1</nowiki> 540 von 100 000] […] dass bei Einrechnung auch der minder wichtigen Defekte, wie etwa der Augenfehler, fast der dritte Teil Aller nicht zu den ganz Rüstigen gerechnet werden kann.« (S. 425f.)

Grotjahn fordert nun, um die Bevölkerung quantitativ »aufzuwerten«, eine Elternschaftsversicherung, also eine Umlage für Kinderreiche, dazu schöne Spielplätze und niedrige Wohnhäuser mit Gärtchen. (Er ist für Erhaltung bis geringes Wachstum der Bevölkerung, warum auch immer, wahrscheinlich auch wegen Angst vor Übervölkerung.) Das entspricht einer »positiven Eugenik«. Für die 1 540 »Minderwertigen« je 100 000 wünscht Grotjahn Asylierung (= Wegsperrung, ist ja auch billiger als Almosenwirtschaft!) und auch Sterilisierung, wahlweise freiwillig oder zwangsgesetzlich. Hier geht Grotjahn zwar vorsichtig mit sich ringend, aber doch eindeutig zu »negativer Eugenik« über. In den Asylen und überhaupt sollen die »Minderwertigen« sich im »freiwilligen oder erzwungenen Zölibat« üben. Die Arbeiter vermehrten sich prima, dito die Landbevölkerung, Bettler und Vagabunden aber glücklicherweise schon nicht so sehr etc. So »fürsorglich« also buchstabiert sich »Regelung der Irren- und Minderwertigenfürsorge« im Gelehrtentraum von Grotjahn aus.

Grotjahn fordert eine Zentralisierung der Bevölkerungsstatistik nach Größe, Gesundheit etc. Ihn freut die gute Vorarbeit der Wehrstatistik. Anders als Marx, der die Rekrutenstatistik im »Kapital« für Allgemeineres nur heranzieht, will Grotjahn – nach 1914 – mit den Militärärzten kooperieren: »Hoffentlich zwingen die Erfahrungen des Krieges die Militärverwaltung dazu, endlich diesen Forderungen [nach zentraler Gesundheitsstatistik] Gehör zu schenken. Denn allein die Heeresverwaltung hat es völlig in der Hand […], dass neben dem eigentlichen Zweck der Rekrutierung des Heeres aus den Tauglichen auch noch der wichtige Nebenzweck [!] erreicht wird, als zuverlässiger Wertmesser der allgemeinen Volksgesundheit zu dienen.« (S. 427) Grotjahn ist dankbar für die durch den Krieg eröffneten Möglichkeiten und die Arbeit der lieben Militärärzte, die er als Wissenschaftskollegen ankumpelt: Damit die Anthropometrie [»Menschen-Messung«, gemeint ist hier allerdings Körpergröße und noch nicht Schädelmaße] sich »zu einer wohlgegründeten Wissenschaft entwickelt«, müssten »nach Lage der Dinge vorwiegend […] Militärärzte« diese Aufgabe lösen: »Die Anthropometrie bietet auch außerhalb des Musterungsgeschäftes dem Militärarzt schöne [!!] wissenschaftliche Aufgaben.« (S. 432f.)

Ständig zitiert Grotjahn die Kollegen Rassenhygieniker (Schallmeyer, Ploetz), von denen er sich in seinem Forschereifer kaum absetzt. Auch beredt ist folgende Verortung einer besonderen deutschen Gesundheits-Sendung: »Diese weitreichenden Aufgaben des Asylwesens lassen sich natürlich nicht lösen, solange sich das gesamte Anstaltswesen vorwiegend auf kirchliche Liebestätigkeit, wie in den katholisch-romanischen Ländern, oder nach dem Vorbilde von England und Amerika auf die privaten Zuwendungen reicher Philanthropen stützt.« (S. 443) Eine derart treffsichere Abgrenzung der großartigen Deutschen von den ungeschickten imperialistischen Konkurrenten muss ein Wissenschaftler dem Grotjahn erst einmal nacherfinden. Auch die Abgrenzung von »den Slawen« demonstriert Grotjahn eindrucksvoll: »Wir Deutschen können uns nicht mehr wie die unkultivierten Slawen auf den Kinderreichtum als etwas Selbstverständliches verlassen, sondern müssen ihn bewusst anstreben. In dem stillen, aber hartnäckigen Ringen um eine feste Grenze der Welt der Germanen und jener der Slawen kann Deutschland seine geschichtliche Sendung nur erfüllen, wenn es sich nicht nur auf militärische, wirtschaftliche oder andere Machtmittel verlässt, sondern vor allen Dingen sich einen starken Bevölkerungsauftrieb in allen Städten und Stämmen des gesamten Volkes erhält.« (S. 447 f.) Eine feste Grenze ist zwar etwas anderes als eine Versklavung oder Ausrottung, im übrigen aber darf der Übergang vom gut-alten Sozialdemokraten zum offenen Propagandisten deutsch-imperialistischer Außenpolitik hier als vollzogen gelten.

1921 erscheinen Leitsätze zur sozialen und generativen Hygiene. Hier gibt Grotjahn eine deutliche Abgrenzung von »Darwinismus« und »Rassenhygiene« bei Ploetz, Schallmeyer et al. Grotjahn will weiterhin Eugenik, aber gleichberechtigt neben Sozialhygiene und um der allgemeinen Volksgesundheit willen, nicht zur Vervollkommnung ausschließlich der deutschen Rasse (aber: »Kulturvolk«!). In dieser Zeit beginnt auch rege Korrespondenz in die Schweiz, nach Bulgarien, auch in die Sowjetunion, wo man an Sozialhygiene interessiert ist und 1925 die Soziale Pathologie von 1912 auflegt.

1926 wird Grotjahn in der Hygiene der menschlichen Fortpflanzung. Versuch einer praktischen Eugenik wiederum praktisch:

»Alles in allem wird sich also dieser durch die Lungentuberkulose stigmatisierte Kreis der Astheniker auf eine Million Volksgenossen erstrecken, von denen zur Zeit noch die meisten heiraten und sich fortpflanzen. Diese Million Menschen braucht es nicht zu geben. Sie ist nicht nur ein Ballast in wirtschaftlicher Hinsicht, was zu ertragen wäre, sondern eine Quelle sich durch den Erbgang fortsetzender Minderwertigkeit. Soviel Mitleid wir auch mit den Erkrankten haben und so sehr wir ihre Leiden durch Fürsorge, Pflege und spezifische Behandlung aufzuhalten suchen müssen: als Gegenleistung können wir verlangen, dass sie auf Familiengründung und Fortpflanzung verzichten […]. Den Gegenpol zu den Asthenikern, körperlich Minderwertigen und Schwächlingen bilden die muskelstarken, breitschulterigen, organgesunden Starken und Rüstigen, deren überdurchschnittliche Fortpflanzung nicht nur vom fortpflanzungshygienischen Standpunkte aus wünschenswert ist. [Zumindest im Bereich des Beamtentums] sollte dafür gesorgt werden, dass das durch ärztliche Untersuchung als besonders rüstig ausgesiebte Menschenmaterial frühzeitig zur Ehe mit gleichgearteten Partnern gelangt und durch eine fühlbare Berücksichtigung der Kinderzahl bei der Besoldung zu Kinderreichtum angereizt würde.«

5. Zur Rezeption der Entwicklung Grotjahns in der SPD, in Nazideutschland, in der BRD und in der DDR

Grotjahn war zwar kein umjubelter Heilsbringer und Reformator der Gesundheitspolitik der SPD, jedoch auch keineswegs ein Außenseiter, der sich Spott und gründliche Kritik seiner Partei zugezogen hätte. Grotjahn gelang die Implementierung eugenischer Gesundheitspolitik nicht, wie allein seine vorerst vergebliche Bemühung um Aufnahme einer Eugenikkonzeption schon in das Görlitzer Programm belegt. Grotjahns Wandlungen wurden von der SPD nicht einfach mitgetragen. Sie war aber offen für einen Nationalismus, den sie nicht mehr erschöpfend kritisieren konnte, nachdem sie den 1. Weltkrieg begeistert mitausgerufen hatte. Sie hielt jedoch in »Weimar« an einem gewissen Internationalismus fest und schreckte vor Konsequenzen zurück, die die Nazis aus der auch medizinischen Bevorzugung der Deutschen zogen.

1933 wird Grotjahns Institut aufgelöst und in das Kaiser-Wilhelm-Institut für Rassenhygiene integriert. Die meisten seiner Schüler, darunter nicht wenige Juden, emigrieren. Den Nazis war Grotjahn immer konzeptionell zu schwach, auch wenn sie seine eugenischen Ideen ausgiebig würdigen.

2. Auflage einer Massenbroschüre in einem KPD-nahen Verlag: »Krieg allen Kranken« (1925) bzw. »Tod den Schwachen? Neue Tendenzen der Klassenmedizin« (1926) vom KPD-Mitglied und Grotjahn-»Schüler« und -Kritiker Georg Benjamin (1895-1942)

In der DDR wird er kritisch gewürdigt. Tutzke spricht naiv aus, was dabei berücksichtigt werden sollte: dass seine Eugenik abzulehnen sei, seine sozialhygienischen Ideen aber des Sozialismus bedurften, um überhaupt angegangen werden zu können. Es ist daher ein Unterschied ums Ganze, ob Grotjahn von der Bourgeoisie gewürdigt wird, um die Arbeitskraft für den Verwertungsprozess gesundzuprügeln und dabei bald latent, bald offen Toleranz mit seiner Eugenik einzuführen, oder ob eine sozialistische Gesellschaft ihn ganz nüchtern bewertet und seine ganze Wohlfahrtsidee für sich aushebt. Es gibt durchaus BRD-Kritiker, die das nicht zu unterscheiden wissen und die daher der DDR diesen offeneren Zugang vorwerfen möchten. In der imperialistischen BRD sind Grotjahns realpolitische Wirkungen bestenfalls als Teil einer reformerischen Linderung schreiendsten Arbeiterelends zu interpretieren, seine Konzeptionen jedoch rundweg abzulehnen.

6. Gesellschaftliche und ideologische Bedingungen der Entwicklung Grotjahns zum Eugeniker

Mit dem Eintritt Deutschlands in das monopolkapitalistische Stadium veränderten sich Form und Funktion der Sozialdemokratie radikal. Dass gesundheitspolitische Forderungen der Arbeiterklasse im Bündnis mit bürgerlichen Medizinern oder Offizieren, die sich über Kleinwüchsigkeit der Massen beklagten, erkämpft wurden, war seit den Kämpfen in England um 1860 nicht neu. Spezifisch für die Politik der SPD war die Integration der Arbeiterklasse in die Nation der deutschen Kapitalisten, das heißt auch die Unterordnung der Gesundheitspolitik unter neue Erfordernisse des Kapitals an die Konstitution der Massen und eine Neudefinition dessen, was als Gesundheit und Leistungsfähigkeit zu gelten habe.

Die imperialistische Konkurrenz um Weltmarkt und Kolonien erforderte vom Standpunkt des deutschen Kapitals eine Ordnungsmacht innerhalb der Arbeiterklasse, die gewährleistete, dass sich die Arbeiter weder totarbeiteten noch totsoffen und dass sie nicht nur zur Produktion verwertbar, sondern auch zum Krieg geeignet seien.

Sozialdemokratische Gesundheitspolitik war also spätestens seit dem von Deutschland angezettelten 1. Weltkrieg Politik für die nationale Gesundheit, für den rüstigen = wehrfähigen (in Modernisierung des »Turnvaters« Friedrich Ludwig Jahn hilfswissenschaftlich aufgefrischten) deutschen Volkskörper zur Vermeidung des angeblich durch die imperialistische Konkurrenz drohenden Untergangs des angeblichen Vaterlands.

Die Besonderheit Grotjahns steckt dabei allenfalls im Sekundieren und Propagieren eugenischer Konzepte von »links«. Vor den rassistisch-völkischen Eugenikkonzepten schon der Weimarer Zeit erscheint Grotjahn als notwendiges Zwischenglied, als Wissenschaftsfetischist, der in sogenannten »Fachfragen« unverkrampft mit radikaleren Eugenikern korrespondieren kann.

Mit der Revision der marxschen Anthropologiekritik, mit der positivistischen Leugnung der Relativität und steten Prekarität der Gesundheit im Kapitalismus entledigte sich die SPD auf dem Weg zur Konstituierung als Arbeiterpartei des deutschen Imperialismus auch der geistigen Waffen, sozialdarwinistische, biologistische und schließlich nationalistische und völkische Konzeptionen der Sozialmedizin abzulehnen und zu bekämpfen. Der Sozialdemokrat Grotjahn war ein Wegbereiter der nazistischen negativen Eugenik, und auch wenn sein Institut 1933 aufgelöst wurde, war er wie die SPD schon vorher kaum mehr in der Lage, dem Bedürfnis des Kapitals in Deutschland nach Revanche für den 1. Weltkrieg entgegenzutreten. Dass nicht die SPD Deutschland in den 2. Weltkrieg führen konnte, ist jedenfalls nicht aus ihrer humanistischen oder internationalistischen Entrüstung über die völkische Ideologie zu erklären, von der sie sich seit 1914 und der Vaterlandsverteidigung durch Angriffskriege nicht mehr ernsthaft absetzen konnte. Ein Ausdruck davon ist die politische Karriere des »bürgerlichen Arztes« Grotjahn in der SPD der frühen »Weimarer Republik«.