Konferenz
»Der Haupt­feind steht im eigenen Land«

Die jährlich stattfindenden Konferenzen gegen den deutschen Imperialismus sollen den politischen Austausch und die Zusammenarbeit derjenigen revolutionären Kräfte fördern und vorantreiben, die in der Arbeiter- und demokratischen Bewegung für die Linie »Der Hauptfeind steht im eigenen Land« kämpfen wollen.

Die deutsche Volksgruppenpolitik

Jörg Kronauer, www.german-foreign-policy.com

2011/2013

Das Referat behandelt zunächst allgemeine Aspekte der deutschen Volksgruppenpolitik und ihre ideologische Grundlage. Danach wird es um einige wichtige Stationen der Volksgruppenpolitik seit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 gehen – nicht zuletzt weil man an ihrer Geschichte ihre »Anwendungsbereiche« und ihr Radikalisierungspotenzial deutlich erkennen kann. Anschließend soll die Volksgruppenpolitik der Bundesrepublik behandelt werden.

1. Die ideologische Grundlage

Die deutsche Volksgruppenpolitik basiert auf der völkischen Ideologie, hier verstanden als eine Weltanschauung, die die Menschheit nicht primär nach sozialen Kategorien gliedert, also nach der Zugehörigkeit zu einer Klasse oder einem Geschlecht, sondern nach biologischen Kategorien, also nach der Abstammung, der Zugehörigkeit zu einem über die blutliche Herkunft definierten »Volk«. Nach Ansicht von Völkischen bilden »Völker« je spezifische Eigenarten aus; in der NS-Terminologie war von »Volkscharakteren« die Rede. Die völkische Ideologie betrifft auch die Bildung von Staaten. Ihr zufolge hat jedes »Volk« ein bestimmtes Gebiet, das ihm zusteht, eine »Heimat«, und dort soll es im Idealfall seinen Staat errichten. Dabei stimmen die vorhandenen Staaten nicht immer mit den von einem »Volk« bewohnten Gebieten überein.

Selbstverständlich existiert ein Gegenmodell zu diesem völkischen Denkansatz. Es fasst nicht alle Menschen mit gemeinsamer blutlicher Abstammung zusammen, sondern alle Menschen, die in einem bestimmten Gebiet wohnen, völlig unabhängig von ihrer Herkunft. Dieses Modell ist die Grundlage vor allem der angelsächsischen Staaten, dominiert aber auch etwa in Frankreich. Dies hat auch etwas mit der Geschichte zu tun. Die Grenzen Großbritanniens etwa, eines sehr alten Staates, sind – sieht man von der Irischen Frage ab – durch die Küsten festgelegt und standen nie wirklich in Frage. Auch Frankreich ist ein sehr alter Staat, dessen Gebiet im Wesentlichen seit vielen Jahrhunderten feststeht. Anders verhält es sich mit Deutschland. Das völkische Denken hat sich auf dem Gebiet des heutigen Deutschland und etwas darüber hinaus seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchgesetzt; damals war unklar, wie groß Deutschland überhaupt sein solle, welche der vielen kleinen Königreiche und Fürstentümer aus dem zerfallenen Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation dazuzugehören hätten. Die Völkischen hatten wegen dieser Unklarheiten völlig freie Bahn für ihre Wünsche, was einem künftigen deutschen Staat alles zuzuschlagen sei, und sie meinten »Deutsche« in der Tat überall zu finden, wo Menschen mit deutscher Abstammung sich niedergelassen hatten, sei dies auch schon Jahrhunderte zuvor geschehen. Seit damals wohnt dem völkischen Denken in Deutschland übrigens ein expansives Moment inne: der Gedanke, dass die bestehenden Grenzen – diejenigen der damaligen Königreiche und Fürstentümer – zum Aufbau eines Staates für das deutsche »Volk« überschritten werden müssten. Das deutsche völkische Denken ist deshalb in seinem Kern expansiv.

Im völkischen Denken gibt es »Volksgruppen«, Teile des deutschen »Volkes«, die außerhalb des deutschen Staatsgebietes leben, aber aufgrund ihrer Abstammung eben doch »Deutsche« seien. Im konkreten Einzelfall stellt sich die Frage, wie man herausfinden soll, wer alles zu einer »deutschen Volksgruppe« gehört. Sprachtests genügen Völkischen, denen es auf die Abstammung ankommt, nicht; schließlich ist denkbar, dass jemand ohne deutsche Abstammung perfekt Deutsch spricht, aber auch, dass jemand, der deutsche Vorfahren hat, die Sprache des Landes spricht, in dem er lebt, und Deutsch verlernt hat. Als die Nazis nach der Okkupation Polens vor der Frage standen, wen sie als »deutsch« einstufen sollten, da erstellten sie die sogenannte Deutsche Volksliste. Darauf waren »rein Deutschstämmige« vermerkt, »Arier« im NS-Sprachgebrauch, aber auch Menschen, die die Nazis für zwar »rassisch vermischt«, aber dennoch »eindeutschungsfähig« hielten. Auch der bundesdeutsche Staat hat seine Kriterien, wer einer »deutschen Volksgruppe« angehört. Das ist wichtig, denn wer die Zugehörigkeit zu einer »deutschen Volksgruppe« geltend machen kann, der hat im Prinzip das Recht auf die deutsche Staatsbürgerschaft. Die geltenden Kriterien kann man beispielsweise auf den Websites deutscher Konsulate in Polen abrufen. Dort findet man unter anderem in einem »Merkblatt zur Feststellung der deutschen Staatsangehörigkeit« folgende Bestimmung: »Sofern Sie selbst oder Ihre Ahnen aus dem Gebiet stammen, welches vor dem Zweiten Weltkrieg zur Republik Polen gehörte, bzw. sofern Sie oder Ihre Ahnen dort gewohnt haben, ist davon auszugehen, dass Ihre Familie am 1. September 1939 die polnische und nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besaß. In diesem Fall ist im Hinblick auf den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit nachzuweisen, dass der Vater oder Großvater in die sogenannte Deutsche Volksliste aufgenommen worden ist.« Wer von den Nazis als »deutsch« eingestuft worden ist, kann sich also heute noch darauf berufen. »Deutsche Volksgruppen« gibt es nach Ansicht von Völkischen nicht nur in Polen und in anderen Staaten Osteuropas, sondern auch in Süd- und Westeuropa. Bekannt ist vor allem ein Gebiet im Norden Italiens, »Südtirol«; dort leben rund 350 000 Menschen, die Deutsch als Muttersprache sprechen und nach Ansicht von Völkischen deutscher Abstammung, also Teil des »deutschen Volkes« sind. In Ostbelgien leben über 70 000 Menschen, auf die das zutrifft. Gebiete, in denen Völkische nicht von der Existenz einer deutschsprachigen Minderheit, sondern einer »deutschen Volksgruppe« sprechen, finden sich auch in Nordostfrankreich (»Elsass-Lothringen«) und in Dänemark (»Nordschleswig«).

2. Die Geschichte der deutschen Volksgruppenpolitik

Eine deutsche Volksgruppenpolitik in staatlicher Form existiert seit der Gründung des Deutschen Reichs im Jahr 1871. Schon damals gab es Gebiete, die von deutschsprachigen Minderheiten – in völkischer Terminologie: von »deutschen Volksgruppen« – bewohnt wurden, die aber außerhalb des Deutschen Reiches lagen. Ganz besonders die »Alldeutschen«, eine besonders aggressive Fraktion innerhalb der damaligen deutschen Bourgeoisie, beschäftigten sich mit der Frage, was man tun könne, um die »deutschen Volksgruppen« in der einen oder anderen Form enger an das Deutsche Reich anzubinden. Manche wollten ihre Wohngebiete dem Reich einverleiben; einige schlugen dabei nicht nur weite Gebiete Osteuropas, sondern unter anderem auch die Niederlande einem »Großgermanischen Reich« zu. Ein prominenter Vertreter dieses Flügels, Ernst Hasse, zeitweise Vorsitzender des Alldeutschen Verbandes, hat 1895 eine Schrift mit dem Titel »Großdeutschland und Mitteleuropa um das Jahr 1850« verfasst, in der es heißt: »Das Deutsche Reich ist weder ein ›deutsches‹ Reich, noch ist es ›das‹ Deutsche Reich. Im heutigen Deutschen Reiche wohnen neben 47 Millionen Deutschen 4 Millionen Undeutsche, und außerhalb dieser schwarzweißroten Grenzpfähle wohnen allein in Europa auch noch 21 Millionen Deutsche, davon 2 Millionen in der Schweiz, 10 Millionen in Österreich-Ungarn, 1 Million in Russland und 8 Millionen Niederdeutsche in Belgien und den Niederlanden. Daraus ergibt sich für uns Deutsche ohne weiteres die Notwendigkeit einer staatlichen Entwickelung in der Richtung der Herstellung der Übereinstimmung zwischen Sprachgebiet und Staatsgebiet, zunächst die Verwandlung des jetzigen Staatsgebietes des Deutschen Reiches in ein Nationalgebiet durch Germanisierung aller innerhalb desselben lebenden Sprachfremden und Rassenfremden – und für später die Verwandlung des jetzigen deutschen Sprachgebietes innerhalb und außerhalb der Reichsgrenzen in ein deutschvolkliches Staatsgebilde.«1

Schon im Kaiserreich wurde die Volksgruppenpolitik nicht nur auf »deutsche Volksgruppen« angewandt, sondern auch auf fremde »Volksgruppen«. Das betraf vor allem gegnerische Staaten. Die Grundidee lässt sich am Beispiel Russlands zeigen, das sich – legt man völkische Kriterien an – in zahlreiche kleinere Teilterritorien zerlegen lässt; bekannte Beispiele sind kleine kaukasische Gebiete wie Tschetschenien, Dagestan etc., aber auch die heute zu Staaten gewordenen zentralasiatischen Republiken von Turkmenistan bis Tajikistan. Wenn man – mit völkischer Begründung – Territorien aus einem großen Staat herausbricht, schwächt man ihn natürlich; genau darauf zielt diese Variante der Volksgruppenpolitik ab. Völkische Konzepte für Russland haben längst nicht nur Alldeutsche, sondern auch gemäßigtere Kräfte vertreten, beispielsweise der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger in seiner Kriegszieldenkschrift vom September 1914. Darin schrieb er, man solle die »Befreiung der nichtrussischen Völkerschaften vom Joch des Moskowitertums und die Schaffung von Selbstverwaltung im Innern der einzelnen Völkerschaften« anstreben – »unter militärischer Oberhoheit Deutschlands, vielleicht auch mit Zollunion«.2 Anfang 1918 konnte das Deutsche Reich dieses Konzept im Vertrag von Brest-Litowsk in Teilen verwirklichen, unter anderem mit dem Herausbrechen eines ukrainischen Staates aus dem Zarenreich. Allerdings hatte dieser nicht lange Bestand.

In der Weimarer Republik hielt Deutschland seine Volksgruppenpolitik aufrecht. Paradigmatisch hat sie Gustav Stresemann formuliert, der Außenminister der Jahre 1923 bis 1929. In einer nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Denkschrift erläuterte er 1925, wie die deutschen »Volksgruppen« genutzt werden sollten, solang man die Annexion ihrer Wohngebiete nicht offen anstreben konnte. Stresemann fügte später hinzu, dass er auf lange Sicht eine solche Annexion nicht ausschließe. In seiner Denkschrift (Titel: »Die außenpolitische Notwendigkeit einer den Bedürfnissen der deutschen Minderheiten in Europa entsprechenden Regelung des Minderheitenrechts innerhalb des Reiches«) erläuterte er: »Das deutsche Volk ist in der einzigartigen Lage, dass kaum drei Viertel seiner Angehörigen in eigenen Staatsgebilden – im Reich und in Deutsch-Österreich – vereinigt sind, während der Rest (von den Deutschschweizern und Deutsch-Luxemburgern kann in diesem Zusammenhange abgesehen werden) unter fremder Staatshoheit lebt. […] Die deutschen Minderheiten in Europa, etwa 9 Millionen Menschen, verteilt in mehr oder weniger geschlossenen Siedlungen auf fast sämtliche Staaten des europäischen Kontinents, lassen sich in 4 Gruppen scheiden, von denen die erste Gruppe die deutschen Volksteile umfasst, deren Siedlungsgebiete unmittelbar an die Grenzen des Reichs und Deutsch-Österreichs anstoßen, während in der 2. Gruppe das Deutschtum längs der baltischen Küste, in der 3. Gruppe das Deutschtum längs des Donaubeckens und endlich in der 4. Gruppe die deutschen bäuerlichen Kolonien in Russland zusammengefasst werden können.«3

Zum politischen Umgang mit den »Volksgruppen« heißt es in Stresemanns Denkschrift: »Es liegt auf der Hand, welchen Wert in politischer, kultureller und wirtschaftlicher Beziehung die Erhaltung dieser Minderheiten und ihrer deutschen Gesinnung für das Reich haben muss. Politisch werden sie berufen sein, als Mitträger der Politik eines fremden Staates die Politik dieses Staates in einem für das Deutsche Reich günstigen Sinne zu beeinflussen; kulturell werden sie als der geborene Vermittler für die Ausbreitung und das Verständnis deutscher Kultur und deutscher Weltanschauung bei ihrem Staatsvolke dienen; wirtschaftlich werden sie nicht nur selbst Absatzgebiete für deutsche Industrieprodukte und Lieferungsgebiete für in Deutschland benötigte Rohstoffe sein können, sondern zugleich auch wertvolle Stützpunkte für die Propaganda der deutschen Wirtschaft im Auslande.«4 Prägnanter sind die Ziele der deutschen Volksgruppenpolitik wohl nie beschrieben worden.

Welches brutale Potenzial in der Volksgruppenpolitik steckt, zeigte der Nationalsozialismus. Der erste große Schritt bestand dabei in der Annexion Österreichs, die damit begründet wurde, dass dessen Einwohner Teil des »deutschen Volkes« seien – und Österreich damit eigentlich auch »deutsch«. Der zweite Schritt betraf die deutschsprachigen Gebiete der Tschechoslowakei, die sogenannten Sudetengebiete. Mit völkischer Agitation wurden die Bestrebungen unter den Sudetendeutschen, ihre Wohngebiete dem Deutschen Reich anzugliedern, befeuert; schließlich kam es sogar zur Bildung völkischer Milizen, etwa des »Sudetendeutschen Freikorps«, die mit Gewalt die Lage eskalierten und damit einen Anlass schufen, über die »Sudetenfrage« auf internationaler Ebene zu debattieren. Das Ganze gipfelte im Münchner Diktat vom 30. September 1938, in dem Großbritannien und Frankreich den Deutschen den Einmarsch der Wehrmacht in die Sudetengebiete und deren anschließende Annexion zugestanden. Ähnliche Schritte wurden in Berlin auch für Polen geplant; weil Warschau sich aber entschlossen gegen sie zur Wehr setzte, konnten sie erst nach dem militärischen Überfall vom 1. September 1939 umgesetzt werden.

Die Volksgruppenpolitik ist eine ideologisch begründete Politik. Es wäre aber ein Missverständnis zu glauben, dass es sich bei ihrer Umsetzung um etwas Bekenntnishaftes dreht, um etwas, was nicht verhandelt werden kann. Selbst zu Zeiten, als die Volksgruppenpolitik am radikalsten exekutiert wurde, in der Zeit des Nationalsozialismus, betrieb das Regime immer auch eine Art Realpolitik. Das zeigt sich deutlich am Beispiel Südtirol. Aus völkischer Sicht hätte Südtirol genauso wie etwa die »Sudetengebiete« annektiert werden müssen. Genau das forderten auch viele Völkische. Allerdings war das Deutsche Reich auf Absprachen mit dem italienischen Faschismus angewiesen, der seinerseits Ansprüche auf Südtirol erhob. Es kam schließlich zu einer Übereinkunft zwischen Hitler und Mussolini, derzufolge das Gebiet bei Italien verblieb, die Deutschsprachigen aber das Recht erhielten, »heim ins Reich« zu ziehen. Diese sogenannte Optionslösung wurde von den Völkischen als »Verrat« begriffen.

3. Die deutsche Volksgruppenpolitik nach 1945

Südtirol ist wenig später das erste Gebiet gewesen, in dem Kräfte aus der Bundesrepublik Volksgruppenpolitik betrieben. Es gab in den 1950er und 1960er Jahren in Südtirol eine starke Autonomiebewegung, die diverse Sonderrechte für Deutschsprachige auf den Gebieten der Kultur, der Bildung etc. forderte. Sie wurde von Völkischen aus Österreich und aus der Bundesrepublik unterstützt, von denen viele auf lange Sicht den Anschluss Südtirols an Österreich anstrebten. Diese Kräfte – eine besondere Rolle spielten studentische Burschenschafter auch aus der Bundesrepublik – verfolgten eine Art Radikalisierungsstrategie: Sie zielten darauf ab, die Autonomiebewegung zu einer entschlosseneren Politik anzutreiben, und als Mittel zur Radikalisierung griffen sie zu Gewalt. Zunächst verübten sie Sprengstoffanschläge auf Strommasten. Damit zielten sie unter anderem darauf ab, Industriebetriebe lahmzulegen. Hintergrund war, dass Italien damals versuchte, das sehr ländliche Südtirol zu industrialisieren; in diesem Zusammenhang fanden viele Arbeiter aus dem bitter armen Süden Italiens Arbeit im Norden – Personen also, die aus Sicht der Völkischen im »deutschen« Südtirol nichts zu suchen hatten. Um sie wieder loszuwerden, schädigte man die Industrie, die ihnen Arbeit bot. Es blieb allerdings nicht bei Gewalt gegen Sachen. Gewalttätige Völkische begannen in den 1960er Jahren auch mit Anschlägen auf Menschen; beim wohl blutigsten Attentat wurde 1967 nicht nur ein Strommast gesprengt, sondern der Tatort auch mit Minen versehen, die vier italienische Grenzer bei der Spurensicherung töteten.

In Südtirol gibt es nach wie vor eine völkische Bewegung, die auf eine stärkere Anbindung, vielleicht sogar den Anschluss an Österreich zielt. Völkische Kräfte in Südtirol werden unter anderem von der in Deutschland ansässigen »Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen« (FUEV) unterstützt. Die FUEV ist kaum bekannt, aber in der politischen Praxis alles andere als einflusslos. Sie wurde in den 1950er Jahren gegründet – von alten NS-»Volksgruppen«-Spezialisten, die ihre Politik in der Bundesrepublik, angepasst an die neuen politischen Rahmenbedingungen, fortsetzten. Die FUEV hat zum Ziel, für alle »Volksgruppen« in Europa möglichst weit reichende Sonderrechte durchzusetzen. »Europa« ist dabei sehr weit gefasst und reicht bis nach Zentralasien, wo die FUEV – etwa in Kasachstan – unter anderem »deutsche Volksgruppen« entdeckt hat.

Die FUEV geht dabei recht geschickt vor. Sie kämpft keineswegs nur für deutsche »Volksgruppen«, sondern für alle. So gibt es zum Beispiel eine »Arbeitsgemeinschaft Slawischer Minderheiten« in der FUEV. Nicht-deutschsprachige Minderheiten aus anderen Staaten bilden dabei ein gewisses Destabilisierungspotenzial. Ein Beispiel sind die ungarischsprachigen Minderheiten in den an Ungarn grenzenden Ländern, die teilweise in der FUEV organisiert sind. Spätestens seit ihre Angehörigen die ungarische Staatsbürgerschaft beantragen können, nehmen Auseinandersetzungen um sie zu. Selbstverständlich unterhält die FUEV auch eine »Arbeitsgemeinschaft Deutscher Minderheiten«, in der sämtliche deutschsprachigen Minderheiten von Ostbelgien bis Kirgistan zusammengefasst sind. Die »Arbeitsgemeinschaft Deutscher Minderheiten« trifft sich einmal im Jahr; bei diesen Treffen sind gewöhnlich auch hochrangige Vertreter des Bundesinnenministeriums anwesend, das bis zum heutigen Tage eine Abteilung für »deutsche Volksgruppen« im Ausland hat. Auf diesen Tagungen kann unter dem unverdächtigen Dach der FUEV eine Abstimmung sämtlicher deutschsprachiger Minderheitenorganisationen mit der Bundesregierung stattfinden, ohne dass die Öffentlichkeit es bemerkt. Nebenbei: Die FUEV hat ihren Sitz in Deutschland – in Flensburg –, und sie ist sehr lange hauptsächlich aus bundesdeutschen Haushalten finanziert worden. Heute bezahlen in größerem Maße auch die deutschsprachigen Minderheiten etwa in Belgien oder Italien (Südtirol) die Verbandsaktivitäten.

Ein Beispiel für die aktuelle deutsche Volksgruppenpolitik gibt es in Sibiu (Rumänien), dem früheren Hermannstadt. Dessen Bürgermeister Klaus Johannis gehört der deutschsprachigen Minderheit an, die nicht sehr zahlenstark ist – die meisten von ihnen sind ab 1989 nach Deutschland ausgewandert –, aber nichtsdestotrotz starken Einfluss besitzt. Sie verfügt über eine gewisse Infrastruktur, die von kulturellen Einrichtungen – Denkmälern, Museen, Kirchen – über karitative Institutionen bis zu Schulen reicht. Sie wird finanziell aus der Bundesrepublik unterstützt. Allein das Bundesinnenministerium hat im Zeitraum von 1990 bis 2004 fast 90 Millionen Euro für die »Stabilisierung der deutschen Minderheit in Rumänien« eingesetzt. Selbstverständlich kommen auch Aktivitäten der Vertriebenenverbände der deutschsprachigen Minderheit in Rumänien zugute oder Mittel von Einrichtungen wie der Düsseldorfer Hermann-Niermann-Stiftung, die deutschsprachige Minderheiten im Ausland fördert. Sibiu hat zeitweise sogar Gelder des deutschen Entwicklungsministeriums bekommen – zur tourismusfördernden Renovierung der Altstadt von Sibiu. Die deutschsprachige Minderheit hat Zugänge zu Geldquellen, die ihr und ihren deutschen Förderern im bitter armen Rumänien eine Sonderstellung verschaffen.

Auch deutsche Konzerne, die Rumänien als Standort für die Billiglohnproduktion ausgewählt haben, siedeln sich nicht selten in Sibiu an, weil die deutschsprachige Minderheit dort ihnen einen wichtigen Vorteil bietet: Ihre Angehörigen sind zweisprachig aufgewachsen, können also zwischen dem deutschen Führungspersonal und rumänischen Arbeitskräften eine wichtige Mittlerrolle einnehmen. Alles zusammengenommen bildet sich eine Art Deutschtumsinsel heraus, die wohlhabender und damit attraktiver ist als ihr Umfeld. Die Unterstützung aus Deutschland wiederum hat es Klaus Johannis ermöglicht, sich den Bürgermeisterposten zu sichern, denn er gilt als derjenige, der in der Lage ist, die wohlstandsfördernden Kontakte nach Deutschland herzustellen. Ende 2009 wäre Klaus Johannis sogar fast rumänischer Staatspräsident geworden. Er ist nur in den »Deutschtums«-Strukturen, nicht aber in den rumänischen Parteien verankert, und als es Ende 2009 schlimmen Streit zwischen den Parteien in Bukarest gab, galt er als aussichtsreicher Kandidat für eine »technische« Übergangsregierung.

In Osteuropa ist die Volksgruppenpolitik oft eng mit der Vertriebenenpolitik verbunden. Ursache ist, dass die dortigen deutschen »Volksgruppen« nach dem Zweiten Weltkrieg recht häufig umgesiedelt wurden. Trotz der Umsiedlung ist es den Vertriebenenverbänden gelungen, mit einem technischen Kniff die alte Volksgruppenpolitik weiterzuführen. Den Ansatzpunkt dafür bot die spezifische Organisierung der Umgesiedelten nach 1945. Im Sinne einer gewissen Selbsthilfe lag es damals durchaus nahe, sich in Umgesiedeltenverbänden zusammenzuschließen. Dies geschah auch – allerdings unter zweierlei Gesichtspunkten. Einerseits wurden Zusammenschlüsse am neuen Wohnort in der Bundesrepublik gegründet, um dort gemeinsame Ziele zu verfolgen. Daneben aber trieben vor allem frühere NS-»Volksgruppen«-Spezialisten, die selbst umgesiedelt worden waren, ein zweites Modell voran. Es bestand darin, sämtliche Umgesiedelten aus derselben Herkunftsregion zusammenzuschließen. Auf diese Weise entstand beispielsweise die Sudetendeutsche Landsmannschaft als Zusammenschluss aller umgesiedelten Sudetendeutschen. Innerhalb der Sudetendeutschen Landsmannschaft wurden auch die einzelnen Landkreise aus den Herkunftsgebieten in Form von »Heimatkreisgemeinschaften« reorganisiert. Das war äußerst aufwendig, vor allem in der unmittelbaren Nachkriegssituation, aber es hatte eine durchschlagende politische Wirkung: In den Vertriebenenverbänden konstituierten sich praktisch die alten deutschen »Volksgruppen« in Form von »Volksgruppen im Exil«. Vielleicht am deutlichsten ist dieses Prinzip bei der Sudetendeutschen Landsmannschaft ausgeprägt. Deren Heimatkreisvertreter treffen sich alle vier Jahre, um einen Vorstand zu wählen. Wie sich die Sudetendeutsche Landsmannschaft als »Volksgruppe im Exil« begreift, versteht sich ihr Sprecher als »Ministerpräsident« der »Sudetendeutschen Volksgruppe im Exil«. So halten die Vertriebenenverbände eine aggressive Volksgruppenpolitik aufrecht.

Als juristisches Instrument dazu dient das »Recht auf die Heimat«. Als Anspruch festgeschrieben ist es in der »Charta der deutschen Heimatvertriebenen« aus dem Jahr 1950, die bis heute als »Grundgesetz der Vertriebenen« gilt. Sie ist am 5.8.1950 verabschiedet und am 6.8. öffentlich proklamiert worden, fast auf den Tag genau fünf Jahre nach der Unterzeichnung des Potsdamer Abkommens. Der Bund der Vertriebenen (BdV) bestätigt ausdrücklich, dass die Charta als Gegenmodell zum Potsdamer Abkommen konzipiert worden ist. Deswegen hat sie auch den Namen »Charta« bekommen, der üblicherweise nur für völkerrechtlich bedeutsame Dokumente genutzt wird. Inhaltlich wendet sie sich gegen diejenigen Passagen des Potsdamer Abkommens, die die Umsiedlung der Deutschen begründen. In der Charta heißt es an ganz zentraler Stelle, es gebe ein »Recht auf die Heimat«. Unter Rückgriff auf dieses angebliche »Recht«, das im internationalen Recht nicht existiert und allenfalls von deutschen Völkerrechtlern proklamiert wird, suchen die Umgesiedelten ihre Ansprüche geltend zu machen. Unter Völkerrechtlern aus dem Vertriebenenmilieu ist dabei umstritten, was das »Recht auf die Heimat« alles beinhalten soll. Manche vertreten die Auffassung, es enthalte auch einen Anspruch auf politische Mitsprache im jeweiligen Herkunftsgebiet.

In diesem Sinne operieren manche Umgesiedeltenverbände schon heute. Ein Beispiel ist die Landsmannschaft Ostpreußen. Sie führt seit einigen Jahren sogenannte Kommunalpolitische Kongresse durch. Dabei kommen Funktionäre der Landsmannschaft und Kommunalpolitiker aus Nordost-Polen zusammen, um gemeinsam über Kommunalpolitik zu reden – natürlich nicht über Kommunalpolitik in Deutschland, sondern über Kommunalpolitik im früheren Ostpreußen. Die Kommunalpolitischen Kongresse bilden ein Dach über anderen Kooperationen, die zwischen den einzelnen Heimatkreisgemeinschaften und ihren Herkunftsorten längst separat beschlossen wurden. Dabei geht es oft um konkrete gemeinsame Projekte, etwa um die Renovierung alter »deutscher Kulturdenkmäler« in Nordost-Polen. Es gibt inzwischen auch Kooperationsverträge, in denen polnische Kommunen den entsprechenden Heimatkreisgemeinschaften der Umgesiedelten in aller Form Mitsprache in kulturpolitischen Fragen zugesichert haben. Dabei müssen die Aktivisten in den Heimatkreisgemeinschaften nicht einmal selbst umgesiedelt worden sein: Man kann auch Mitglied werden, wenn entweder die Eltern umgesiedelt wurden oder wenn man sich schlicht und einfach per Willensakt zu den Herkunftsgebieten »bekennt«.

Dass man prinzipiell auch ganz anders hätte vorgehen können, zeigt das Beispiel DDR. Dort wurde ganz bewusst darauf verzichtet, mit »Landsmannschaften«, mit der Postulierung eines »Rechtes auf die Heimat« und mit dem damit verbundenen politischen Instrumentarium deutsche Ansprüche in den ehemaligen deutschen Ostgebieten geltend zu machen. Die DDR betrieb recht erfolgreich die Integration der Umgesiedelten in ihre neuen Wohngebiete; es gab zwar informelle Gruppen, die kulturelle Traditionen aus ihren Herkunftsgebieten pflegten, aber mit politischen Ansprüchen war das nicht verbunden. Erst ab 1990 wurden die aggressiven Vertriebenenverbände mit all ihren Ansprüchen auch in der einverleibten DDR gegründet. Die DDR ist auch darüber hinaus ein Beispiel dafür, dass eine andere Ostpolitik durchaus möglich war: Sie erkannte 1950 die neue polnische Westgrenze endgültig an. Dies leistet nicht einmal der deutsch-polnische Grenzbestätigungsvertrag aus dem Jahr 1990.

Es gibt politische Kräfte auch in anderen europäischen Staaten, die mit der völkischen deutschen Politik bestens harmonieren. Eine davon ist der flämische Separatismus. Er begründet sich ebenfalls völkisch, durch eine Abgrenzung von der Wallonie und den dort lebenden Französischsprachigen, denen eine »romanische Abstammung« zugeschrieben wird. Der völkische flämische Separatismus zielt auf die Spaltung Belgiens ab; auf europäischer Ebene plädiert er für ein völkisch gegliedertes Europa. Der Vlaams Belang, die Partei, die dem flämischen Separatismus seit je den klarsten Ausdruck verleiht, drückt dies in seiner Programmatik so aus: »Der Vlaams Belang plädiert für ein konföderales Europa. Die verschiedenen Völker sollen ihre eigene Identität behalten und ihre eigene Politik führen können. Unsere Partei verwirft einen europäischen föderalen Staat, ein europäisches Grundgesetz und eine europäische Bürgerschaft. Die EU darf kein ›Belgien im Großen‹ werden.«

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der flämische Separatismus eine lange Tradition der Kollaboration mit den Deutschen aufweist. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg gab es Kräfte im Deutschen Reich, die eine Einverleibung der Niederlande und Flanderns in ein »Großgermanisches Reich« nicht ausschließen wollten; sie verfügten über politische Kontakte nach Flandern. Im Ersten Weltkrieg bildete sich dann im okkupierten Flandern eine breitere Kollaborationstradition heraus, da die Deutschen den Flamen umfangreiche völkische Sonderrechte zusprachen. Ähnliche Kollaborationstraditionen wurden auch im Zweiten Weltkrieg wirksam, nicht nur in Verbänden wie der Flämischen SS, sondern auch in einer recht breiten Sympathie für das Deutsche Reich. Der Vlaams Belang, die bedeutendste Partei des flämischen Separatismus, geht unmittelbar auf diese Kollaborationstradition zurück.

Ein weiteres Beispiel bietet Ungarn. Das Land weist seit dem 19. Jahrhundert eine dominierende völkische Strömung auf, die der völkischen Ideologie in Deutschland in zentralen Grundzügen entspricht. Seit dem verlorenen Ersten Weltkrieg und dem Friedensvertrag von Trianon nutzt Ungarn die völkische Ideologie genauso wie Deutschland, um Ansprüche gegenüber den Wohngebieten ungarischsprachiger Minderheiten im Ausland aufrechtzuhalten. Betroffen sind vor allem Rumänien (heute: 1,5 Millionen Ungarischsprachige unter anderem in Transsilvanien) und die Slowakei (500 000 Ungarischsprachige im Süden des Landes), aber auch Serbien, Kroatien, Slowenien und die Ukraine. Ungarn, das in der internationalen Politik längst nicht so viel Beachtung findet wie Deutschland und deswegen weniger Rücksicht nehmen muss, prescht dabei in Sachen Volksgruppenpolitik voran. Bekanntestes Beispiel ist die Staatsbürgerschaft für die »Auslandsungarn«, also für Angehörige der ungarischen »Volksgruppen« in den Nachbarstaaten, die Budapest seit dem 1. Januar 2011 verleiht – ganz so, wie es übrigens die Bundesrepublik seit den 1990er Jahren mit Angehörigen der deutschsprachigen Minderheiten in Polen und Tschechien tut. Auf diese Weise werden nicht nur wachsende Teile der ungarischsprachigen Minderheiten, sondern insbesondere auch deren politische Funktionäre in aller Form zu »Ungarn« gemacht. Dass dies die Souveränität vor allem Rumäniens und der Slowakei in hohem Maße beeinträchtigt, liegt auf der Hand.


  1. Aus der anonym erschienenen Schrift des Vorsitzenden des »Alldeutschen Verbandes«, Prof. Dr. Ernst Hasse, Großdeutschland und Mitteleuropa um das Jahr 1950. Von einem Alldeutschen, in: Reinhard Opitz (Hg.): Europastrategien des deutschen Kapitals 1900-1945, Bonn 1994. 

  2. Zitiert nach: Fritz Fischer: Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18, Düsseldorf 1961. 

  3. Denkschrift von Gustav Stresemann: Die außenpolitiscche Notwendigkeit etc., in: Reinhard Opitz (Hg.): Europastrategien des deutschen Kapitals 1900-1945, Bonn 1994. 

  4. Ebd.