Konferenz
»Der Haupt­feind steht im eigenen Land«

Die jährlich stattfindenden Konferenzen gegen den deutschen Imperialismus sollen den politischen Austausch und die Zusammenarbeit derjenigen revolutionären Kräfte fördern und vorantreiben, die in der Arbeiter- und demokratischen Bewegung für die Linie »Der Hauptfeind steht im eigenen Land« kämpfen wollen.

Die Militärintervention in Libyen: Warum die Ablehnung dieser Kriegsfront durch die deutsche Regierung die Welt nicht friedlicher macht

Gretl Aden, KAZ-AG »Zwischenimperialistische Widersprüche«

Mai 2011

Vorbemerkung

Deutsche Kriegsfronten heißt das Thema, das wir als ständigen Untersuchungsgegenstand in den Hauptfeindkonferenzen behandeln. Angesichts der aktuellen Ereignisse werde ich mich allerdings mit einer Kriegsfront beschäftigen, an der Deutschland nicht teilnimmt, und aufzeigen, dass dieses Verhalten der staatlichen Vertreter des deutschen Imperialismus mindestens so gefährlich ist wie eine weitere Kriegsfront, an der Deutschland teilnimmt.

Die Militärintervention in Libyen – Ausdruck gemeinsamer Interessen der imperialistischen Staaten?

Für große Teile der Linken war es schnell klar: Dieser Krieg ist ein Krieg der Nato um das libysche Öl. Ich halte diese Einschätzung für falsch und absolut irreführend, sowohl, was die Reduzierung der Gründe für den Krieg gegen Libyen auf das Öl betrifft, als auch, was dabei die Hervorhebung gemeinsamer Interessen der imperialistischen Mächte unter Führung der USA angeht.

Denn genau das versteht man darunter, wenn von einem Krieg der Nato die Rede ist: das gemeinsame Vorgehen des westlichen Militärblocks unter Führung des US-Imperialismus gegen den Rest der Welt. Nun ist das Verhalten der imperialistischen Mächte angesichts des Überspringens der Aufstände in Tunesien und Ägypten nach Libyen, soweit es uns durch die öffentliche Berichterstattung dargestellt worden ist, schwer durchschaubar und verwirrend. Deshalb werde ich im Folgenden noch einmal die Ereignisse nachvollziehen.

… eine Chronologie der Ereignisse

Als Ende letzten Jahres Hunger und Not, Perspektivlosigkeit und Unterdrückung sich in Massenprotesten fast aller Klassen und Schichten in Tunesien gegen die Regierung zu entladen begannen, waren die Herrschenden in den imperialistischen Staaten offensichtlich überrumpelt. Auch wenn die Öffentlichkeit in die dann beginnenden Aktivitäten der Geheimdienste und anderer Stellen nicht eingeweiht wird, muss man davon ausgehen, dass fieberhaft versucht wurde, herauszubekommen, was und wer hinter diesen Aufständen steckt und auf wessen Seite man sich stellt.

Als soweit klar war, dass, wie die Süddeutsche Zeitung (SZ) vom 29./30.1.2011 schrieb, hinter den Aufständischen Kräfte stehen, die »im Augenblick mehr Gerechtigkeit wollen, aber nicht Enteignung im großen Stil«, die Eigentumsverhältnisse und damit die letztendliche Ursache für die elende Lage der Massen also nicht unmittelbar bedroht waren, entschied man sich, die Verjagung der Präsidenten und Regierungen dem Volk zu überlassen und die Kräfte, wie das Militär in Ägypten, zu unterstützen, die dafür sorgen würden, dass die »Jasminrevolution« auch bestimmt nicht zu einer wirklichen Revolution führen wird.

Denn die Verhinderung einer grundlegenden Umwälzung bestehender Verhältnisse ist tatsächlich ein Ziel, das der Monopolbourgeoisie weltweit gemeinsam ist, geht es dabei doch um ihr Überleben. Es schien den Imperialisten und ihren staatlichen Stellen also ratsam, sich angesichts der doch bedrohlichen Zusammensetzung der Proteste zumindest auf der Oberfläche nicht in die inneren Angelegenheiten der Staaten einzumischen.

Kolonialistengehabe sollte vermieden werden. Man schrieb Demokratie und Menschenrechte auf die Fahnen und versprach Unterstützung. Die gerade noch treuen Vasallen für die Durchsetzung eigener Interessen wie Ben Ali in Tunesien und Mubarak in Ägypten ließ man wie eine heiße Kartoffel fallen.

Doch schon die Durchsetzung dieser Linie verlief nicht ohne Widersprüche zwischen den imperialistischen Staaten und ihren Vertretern, was man bei genauem Lesen selbst der bürgerlichen Presse entnehmen konnte. Dazu nur ein Beispiel, das auf den weiteren Fortgang der Entwicklung hinweist:

Die Merkelregierung, unbeleckt von einer kolonialen Vergangenheit in diesem Gebiet aufgrund der speziellen Entwicklung des deutschen Imperialismus als zu spät und zu kurz Gekommener, setzte schnell auf eine Unterstützung der Aufständischen, um den deutschen Einfluss in Nordafrika zu sichern. Der bundesdeutsche Außenminister Westerwelle bereiste Tunesien und Ägypten, ließ sich von den Massen feiern, schüttelte Hände, versprach deutsche Unterstützung für die sogenannte Revolution. »›Du bist Ägypter‹ ruft die begeisterte Menge«, berichtete die SZ1 ebenso begeistert von dem Besuch Westerwelles in Ägypten.

Zeitgleich wurde bekannt, dass die französische Außenministerin noch während der tunesischen Proteste enge Beziehungen zu Ben Ali pflegte und ihm anbot, »auf das Wissen französischer Sicherheitskräfte beim Kampf gegen die Aufständischen zurückzugreifen«.2 Frankreich, einst Kolonialmacht in Tunesien, setzte also zunächst noch auf die alten Vasallen.

Dass dies bekannt wurde, war schlecht für den französischen Imperialismus und seinen Einfluss in Nordafrika, gut für den deutschen. Dieser konnte so eine alte Traditionslinie im Kampf gegen England und Frankreich zur Geltung bringen, die scheinbare Unterstützung der arabischen Volksmassen gegen die bösen Kolonialherren.

Mit dem Beginn der Kämpfe in Libyen änderte sich das Bild schlagartig. Statt der mehr oder weniger drängenden Aufforderung, abzutreten, forderte man, allen voran auch Deutschland, schnell Sanktionen gegen die libysche Regierung unter Gaddafi. Deutsche Kriegsschiffe fuhren auf, offiziell um deutsche Staatsbürger zu evakuieren, wofür jedoch auch jedes andere Schiff gereicht hätte. Mit deutschen Militärflugzeugen ließen die dort ansässigen deutschen Konzerne ihre Mitarbeiter ausfliegen. In Kreta zog die Nato Kriegschiffe zusammen.

Es war klar, die Zeit der offiziellen Nichteinmischung in Nordafrika war vorbei, die nächste Kriegsfront wurde vorbereitet. Doch durch wen? Und warum? Letztere Frage lässt sich vordergründig auch mit den großen Ölvorräten Libyens beantworten.

In libyschem Boden liegen die größten Ölreserven Afrikas. Es soll, so wird überall berichtet, gutes, leicht zu förderndes und zu verarbeitendes Öl sein, und damit ausgesprochen profitabel. Alle großen Ölmonopolisten sind in Libyen aktiv, darunter auch einer, der sonst in der Ölförderung rund um die Welt kaum bekannt ist: Wintershall, die Energietochter des Chemieriesen BASF, die dort vor allem BASF mit den nötigen Rohstoffen versorgt.

Doch die verschiedenen Monopole sind in äußerst unterschiedlichem Ausmaß aktiv und nicht in der Rangfolge, die sonst den Marktanteilen der verschiedenen Ölkonzerne entspricht, also den US-amerikanischen, der britischen BP, der britisch-niederländischen Shell und der französischen Total mit den größten Anteilen.

In Libyen ist die italienische Eni am stärksten in die Ölförderung involviert und hatte vor dem Beginn der Aufstände mit 244.000 Barrel täglich einen Anteil von 25 Prozent an den libyschen Erdölexporten. Wintershall kam auf 100.000 Barrel (10%), die französische Total dagegen nur auf 55.000.3 BP und die US-amerikanischen Ölmonopole sind erst seit 2004 wieder in Libyen aktiv und haben wesentlich kleinere Anteile an der Ölförderung. Um das zu verstehen ist ein kurzer Ausflug in die Geschichte notwendig.

Als Gaddafi 1969 mit einer Gruppe von Offizieren den König Idriss stürzte mit dem Ziel, den Reichtum des Landes nicht völlig den imperialistischen Staaten zu überlassen und das Land von der Abhängigkeit zu befreien, hatte er nicht nur die britischen und US-amerikanischen Militärstützpunkte räumen lassen, sondern begann auch mit einer Teilnationalisierung der Erdölvorkommen. Er drängte die ausländischen Ölmonopole zurück, was damals vor allem die US-amerikanischen betraf, die 87,5 Prozent der gesamten libyschen Erdölförderung kontrollierten, wie auch BP, das 1974 nach einem Artikel der Zeit völlig verstaatlicht wurde.

Sowohl die italienische Eni, seit 1959 in Libyen aktiv, wie auch Wintershall, dort seit 1958, haben diese Zurückdrängung offensichtlich gut überstanden. Laut Financial Times Deutschland (FTD) vom 12.12.2004 entging Wintershall der Verstaatlichung und war 2004 der größte ausländische Ölproduzent (offensichtlich damals noch vor Eni, was eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse seit 2004 zwischen Italien und Deutschland in Libyen beinhalten würde.)

Seit 1973 müssen alle ausländischen Ölmonopole dem libyschen Staat eine Beteiligung von mindesten 51 Prozent einräumen.4 Diese Beteiligung an den Erlösen variiert offenbar; so muss BP nach einem Artikel der Zeit 80 Prozent abgeben.5 Wie das bei Eni und Wintershall aussieht, wird weniger offensichtlich publiziert, man kann aber davon ausgehen, dass sie aufgrund ihrer langjährigen Tätigkeit bessere Konditionen ausgehandelt haben. Dazu kommen vielfältige Kontakte und Beziehungen anderer Monopole (wie z.B. Siemens) und ihrer jeweiligen Staaten – also Italien und die BRD – zu Libyen.

Gemeinsam könnte den Monopolen also das Ziel einer völligen Kontrolle des libyschen Ölreichtums sein, wogegen das westliche Schreckgespenst Gaddafi, auch wenn er sich Anfang dieses Jahrhunderts den Imperialisten andiente, immer noch steht. Weiß man nun auch, dass die Aufständischen in Libyen die Fahne des Königs vor sich her tragen und Vertreter des Übergangsrats der Rebellen bessere Vertragsbedingungen für die ausländischen Konzerne in Aussicht gestellt haben, so wird schon klar, warum die Großmächte bei Libyen »Demokratie und Menschenrecht« sehr viel offensiver einfordern, als in Tunesien oder Ägypten.

Doch gleichzeitig wird die Bewegung zwischen den Monopolen, die Konkurrenz, der Kampf um Einfluss und Macht zwischen ihnen deutlich, was das unterschiedliche Verhalten der westlichen Regierungen, will man es nicht einfach negieren, wie es vielfach zusammen mit einem schon fast reflexartigen Hinweis auf den Hauptkriegstreiber USA feststellbar ist, schon eher erklärt.

… Scheinbare Einmütigkeit auf Kosten des italienischen Imperialismus

Die Frage, »durch wen« die libysche Kriegsfront vorangetrieben worden ist, war zunächst schwierig zu beantworten. Anfangs schienen sich alle maßgeblichen Kräfte in Europa wie auch in den USA einig – mit Ausnahme Italiens.

Der italienische Imperialismus, der schwächste der imperialistischen Staaten, wurde als erster ganz offensichtlich zurückgedrängt. Die ehemalige Kolonialmacht Libyens, über Eni am dicksten am libyschen Ölgeschäft profitierend und unmittelbare Anlaufstelle afrikanischer Flüchtlinge, war am meisten darauf bedacht, den Türsteher Gaddafi nicht zu verlieren und verhinderte zunächst Beschlüsse der EU zu Sanktionen gegen die Gaddafi-Regierung.

Die italienische Regierung musste sich aber aufgrund der Kräfteverhältnisse geschlagen geben und setzte den mit Libyen vereinbarten Freundschaftsvertrag aus, um überhaupt noch eine Chance zu haben, den Einfluss Italiens in Libyen zu retten.6

Auf Initiative von Deutschland, Frankreich und Großbritannien verabschiedete der UN-Sicherheitsrat am 23.2. eine Presseerklärung (Resolution 1979), in der die »Anwendung von Gewalt gegen Zivilisten« verurteilt, der »Tod von Hunderten Zivilisten« bedauert und erste Sanktionen beschlossen wurden.7 Wenige Tage darauf beschloss die EU noch scheinbar einmütig Sanktionen gegen die libysche Regierung, die über die UN-Resolution hinausgingen. Die Einrichtung einer Flugverbotszone, eine Option, die sich auch die deutsche Regierung offen gehalten hatte, so meinte zumindest die FAZ8, liege nicht mehr auf dem Tisch.

Bis dahin hatten die deutschen Vertreter eine durchaus führende Rolle in der Forderung nach Sanktionen gegen die libysche Regierung. Doch die FAZ täuschte sich offensichtlich bezüglich der Flugverbotszone.

… Das Vorpreschen Frankreichs

Denn dann, nachdem die Aufständischen von Gaddafis Truppen zurückgedrängt wurden, preschte Sarkozy mit der Anerkennung des »Libyschen Nationalrates« der Aufständischen in Benghasi als »legitimen Repräsentanten des libyschen Volkes«9 vor. Gleichzeitig verstärkte er seine Forderung nach Durchsetzung einer Flugverbotszone. Wie die FAZ, Bezug nehmend auf die französische Zeitung Le Monde, weiter berichtet, plante der französische Präsident gemeinsam mit London gezielte Luftschläge in Libyen. Da er davon ausging, dass eine Flugverbotszone im UN-Sicherheitsrat nicht durchzusetzen sei, strebte er eine Sicherheitsresolution an, die willigen Staaten den »Einsatz von Waffengewalt gegen das Gaddafi-Regime gestatte«,10 und zwar ausdrücklich außerhalb der Nato.

Sowohl Außenminister Westerwelle als auch die Kanzlerin wandten sich gegen eine Anerkennung der Aufständischen als Vertreter Libyens sowie gegen eine Flugverbotszone. Es müsste zuerst überprüft werden, ob die Mitglieder des Rates wirklich für das libysche Volk sprächen, meinte Westerwelle, was wohl eher so zu verstehen ist, dass die deutsche Regierung erhebliche Zweifel hatte, ob die Aufständischen im Sinne deutscher Interessen handelten.

Die deutsche Ablehnung der Durchsetzung einer Flugverbotszone interpretiert die FAZ folgendermaßen: »Offenbar herrscht in der Bundesregierung die Sorge, dass ein militärisches Eingreifen des Westens von Gaddafi als Imperialismus dargestellt werden könnte, was dann über eine negative öffentliche Meinung die Demokratisierungsprozesse in anderen arabischen Ländern gefährden könnte.«11 Sprich: Man will den gewachsenen deutschen Einfluss in der Region nicht verlieren.

Äußerst skeptisch äußerte sich auch der US-amerikanische Verteidigungsminister Gates zu den französisch-britischen Plänen einer Flugverbotszone. »Ranghohe Mitarbeiter des Pentagons«, so die FAZ weiter, »äußerten in Brüssel ihren Ärger über die fortgesetzten Forderungen europäischer Partner nach einem Flugverbot über Libyen, das ohne eine militärische Führungsrolle der Vereinigten Staaten gar nicht durchgesetzt werden könnte.« Und das Weiße Haus gab laut FAZ zu bedenken, dass selbst ein durchgesetztes Flugverbot »die Kräfteverhältnisse am Boden nicht entscheidend zugunsten der Aufständischen verschieben würde.«

An einem weiteren Bodenkrieg, und das, zumal es vor allem um Interessen europäischer Staaten und ihrer Monopolbourgeoisien ging, hatte die USA aber offensichtlich kein Interesse. Das war der Stand am 10. März, ein Stand, der eher an ein deutsch-amerikanisches Bündnis gegen Frankreich und Großbritannien denken lässt, auf jeden Fall aber deutlich macht, dass der Charakter dieser Auseinandersetzungen mit einem gemeinsamen Interesse an Öl und einem gemeinsamen Vorgehen aller imperialistischen Staaten nichts mehr zu tun hat.

Es kam nochmals anders. Am 17. März beschloss der UN-Sicherheitsrat auf Betreiben Frankreichs im Bündnis mit Großbritannien die inzwischen berühmte Resolution 1973, in der praktisch alles erlaubt wird außer der Einsatz von Bodentruppen. Die US-Vertreter, noch 24 Stunden vorher gegen einen Militäreinsatz, stimmten überraschend zu.

Deutschland blieb trotzdem bei seiner Ablehnung und enthielt sich gemeinsam mit der VR China, der Russischen Föderation, Brasilien und Indien. Zwei Tage später beschossen französische, britische und dann auch US-amerikanische Kampfflugzeuge libysche Flugabwehrstellungen und die libysche Luftwaffe.

… Ein Krieg der Nato?

Die Nato brauchte über eine Woche, um überhaupt handlungsfähig zu werden, so heftig tobten die Auseinandersetzungen der »Verbündeten«. Frankreich war vehement gegen eine Einbeziehung der Nato, offiziell wegen des schlechten Rufs der Nato in den arabischen Staaten. Man kann jedoch davon ausgehen, dass der bei den libyschen Aufständischen gewonnene Einfluss durch das französische Vorantreiben der Militärintervention – nun wehte die Trikolore an den Panzern der Rebellen und überall sah man »Vive la france«, eine Genugtuung für Sarkozy nach dem händeschüttelnden Westerwelle – nicht wieder an andere verloren gehen sollte. »Viele Diplomaten vermuteten allerdings« so die FAZ vom 23.3.11, »dass Sarkozy seine Führungsrolle nicht in den Schatten gestellt sehen wollte.«

Die BRD erklärte kategorisch, dass sie sich nicht an den Kampfhandlungen beteiligen werde, ebenso zunächst die Türkei. Die USA und Großbritannien drangen auf eine Übernahme der Militärintervention durch die Nato, eine Haltung, der sich Deutschland anschloss, wohl aus dem gleichen Grund, aus dem Frankreich sie ablehnte. Schließlich wurde der Nato die Überwachung der Flugverbotszone übertragen. Aber auch in der Folge wurde immer wieder Kritik am – zu laschen – Vorgehen der Nato von Seiten Frankreichs und Großbritanniens bekannt.

Die Vorgänge innerhalb der Nato weisen also eher auf ein Zerbrechen der Nato hin, als darauf, dass dieser Krieg ein Krieg der Nato sei. Dazu noch einmal die FAZ: »Manche in der Nato fragten sich freilich, wo eigentlich noch der Mehrwert des Bündnisses liege, da die Koalition der Willigen die (Flugverbots-)Zone schon weitgehend durchgesetzt haben«. Was nichts anderes heißt als: Wozu braucht man die Nato eigentlich noch?

… Die Enthaltung der Bundesrepublik: Inkonsequente Friedensliebe?

Viele aus der Friedensbewegung begrüßen die Enthaltung der Bundesrepublik, kritisieren aber, dass es zugelassen wird, dass die Luftangriffe von US-Kommando-Stellen in der BRD aus geflogen werden, dass sie die Nato in Afghanistan durch zusätzliche deutsche Soldaten entlastet und zudem alle Nato-Beschlüsse mitgetragen hat – ohne selbst militärisch aktiv zu werden. Sie übersehen dabei die ganz fundamentale Tatsache, dass sich die deutsche Monopolbourgeoisie oder zumindest erhebliche Teile davon und ihr geschäftsführender Ausschuss, die Regierung, offensichtlich wieder stark genug fühlen, sich das erste Mal seit dem zweiten Weltkrieg sowohl gegen die USA als auch gegen den engsten Bündnispartner innerhalb der EU zu stellen.

Von daher unterscheidet sich die Situation heute ganz wesentlich von den Auseinandersetzungen um den Irakkrieg 2003. Damals hatte sich Deutschland im Bündnis mit Frankreich (und Russland) gegen die USA gestellt. Heute stellt es sich gegen beide Bündnispartner. Eine Verhinderung der Abflüge von der BRD aus, wie es die oben genannten Friedensfreunde fordern, sowie eine Blockierung der Nato-Beschlüsse wäre noch eine Steigerung dieses Alleinganges und käme einer Kriegserklärung gleich. Einer Kriegserklärung, nicht um den Frieden auf der Welt zu verteidigen, sondern um die Interessen der deutschen Monopolbourgeoisie offen gegen die Konkurrenten durchzusetzen.

Soweit die chronologische Abfolge der Ereignisse, die schon aufzeigt, dass die Widersprüche zwischen den imperialistischen Staaten den Charakter der Auseinandersetzung um Libyen prägen, und nicht die Gemeinsamkeiten. Sie klärt jedoch noch nicht die Ursachen dafür.

Was trieb die französische Regierung, im Bündnis mit dem britischen und, wenn auch sozusagen in letzter Minute und äußerst zögerlich, dem US-Imperialismus, sich in dieses neuerliche Kriegsabenteuer zu stürzen? Warum hatte die französische Regierung den engsten Bündnispartner in Europa, Deutschland, nicht vorher in ihre Pläne, die Rebellen anzuerkennen und doch die Flugverbotszone durchsetzen zu wollen, eingeweiht, wie Westerwelle und Merkel pikiert feststellen mussten?12 Warum kungelte sie stattdessen mit dem britischen Premier Cameron?

Mit dem libyschen Öl allein lässt sich dieser Bruch diplomatischer Gepflogenheiten gegenüber dem engsten Bündnispartner innerhalb der EU einerseits, der Eklat durch die dann folgende Enthaltung Deutschlands andererseits nicht mehr erklären. Um diese Fragen zu klären oder zumindest zu versuchen, sie zu klären, muss man weg von Libyen und die Kräfteverhältnisse zwischen den beiden imperialistischen Staaten untersuchen, die bisher die Hauptachse des europäischen Bündnisses gebildet haben.

Verborgene Kriegsgründe

Dazu muss man zunächst einmal verstehen, dass Bündnisse zwischen imperialistischen Staaten vorübergehender Natur sind, da sie die aufgrund der kapitalistischen Ökonomie im Zeitalter der Monopole bestehende Konkurrenz zwischen den Staaten nicht außer Kraft setzen können. Sie sind letztendlich nichts anderes als Absprachen, die auf der Basis bestehender Kräfteverhältnisse getroffen werden, mit dem Ziel, die jeweiligen Interessen über das Bündnis möglichst weitgehend durchsetzen zu können.

Ändern sich die Kräfteverhältnisse in großem Ausmaß, kommt irgendwann der Punkt, an dem das Bündnis obsolet wird. Das erleben wir gerade, Libyen ist ein Beispiel dafür. Um was es dabei geht, hat der portugiesische Politiker Mário Soares anhand der deutschen Diktate im Zuge der Eurokrise kürzlich geäußert: »Sie (Merkel) gibt mir das Gefühl, Europa germanisieren zu wollen, dabei war die EU dazu gedacht, Deutschland zu europäisieren.«13

Es war das Ziel der anderen imperialistischen Mächte, vor allem Frankreichs, den nach der Einverleibung der DDR größer gewordenen deutschen Imperialismus mit den europäischen Verträgen einzudämmen und gleichzeitig mit ihm gegen den überlegenen US-Imperialismus anzukämpfen, also ihm Einflusssphären, Rohstoffquellen und Absatzmärkte abzujagen. Darin waren sich die Herrschenden in der BRD mit denen in Frankreich durchaus einig.

Welche Absprachen zwischen Frankreich und Deutschland dabei im Hintergrund genau getroffen worden sind, werden wir erst dann erfahren, wenn die Arbeiterklasse mit der Macht in diesem Land auch die Archive erobert haben wird. Doch es liegt auf der Hand, dass sie im wesentlichen auf eine Aufteilung der Einflusszonen hinausliefen in Richtung Mittelmeerraum und der Befriedung der ehemaligen französischen Kolonien in Nord- und Schwarzafrika für den französischen Imperialismus, den neu als Beute zur Verfügung stehenden Osten für den deutschen Imperialismus.

Dieser Kuhhandel klingt durch in einem Beitrag des französischen UDF-Abgeordneten Arthur Paecht in der Debatte der französischen Nationalversammlung über das Ende 1996 beschlossene »deutsch-französische Sicherheits- und Verteidigungskonzept«. Er nannte damals »zwei privilegierte Zonen« möglicher militärischer Interventionen, die er den Expansionsbestrebungen der beiden Staaten zuordnete: Mittel- und Osteuropa für die Deutschen, Nord- bzw. Schwarzafrika für die Franzosen.14

Die Einbindung musste die deutsche Monopolbourgeoisie akzeptieren – anders wäre die Einverleibung der DDR so gar nicht möglich gewesen. Sie und ihr geschäftsführender Ausschuss nutzten sie, um scheinbar gezähmt und eingebunden die ökonomische Stärke des deutschen Imperialismus weiter zu vergrößern und auf dieser Grundlage die politischen und militärischen Machtstellungen zur Neuaufteilung der Welt auszubauen – über den Weg eines Europa unter deutscher Hegemonie.

Diese dialektische Gemengelage gemeinsamer und gegensätzlicher Interessen bestimmt den Charakter der EU und beinhaltet ihre Vergänglichkeit. Je mehr es dem deutschen Imperialismus gelingt, seine hegemonialen Interessen durchzusetzen, umso schärfer tritt die Seite des Widerspruchs in den Vordergrund, kommen diejenigen zu Wort, die Euro und EU in Frage stellen. Es ist nicht von ungefähr, dass gerade in dieser Zeit Kohl als großer Europäer von US-amerikanischen Politikern mit der Verleihung des Henry-Kissinger-Preises gefeiert wird, während Kanzlerin Merkel dabei nur das diplomatische Mindestmaß an Begeisterung aufbringen konnte, wie die bürgerliche Presse berichtete.15

Sie haben nicht ganz Unrecht. Im Zuge der Entwicklung gesehen, war Kohl der letzte wirklich europäische deutsche Kanzler, was nicht an seiner ausgeprägten Klugheit oder Weitsicht liegt, sondern daran, dass er nur mit dem bedingungslosen Hochhalten der, wie es immer so schön heißt, »europäischen Idee« und in fester Verbundenheit zum transatlantischen »Partner« den einmaligen Moment in der Geschichte, die von der Bourgeoisie lange ersehnten und hochgepäppelten Konterrevolutionen in den Staaten des Warschauer Paktes, nutzen konnte, um die Einverleibung der DDR ohne Krieg durchzusetzen. Doch schuf er damit gleichzeitig die Bedingungen für das langsame Ende dieser europäischen Idee.

Denn der Kuhhandel, die Geschäftsgrundlage für die Achse Berlin-Paris, funktionierte nur sehr eingeschränkt im gegenseitigen Interesse. Während die deutsche Monopolbourgeoisie mit der EU-Osterweiterung beziehungsweise schon mit den Vorbereitungen dafür schnell zur stärksten ökonomischen Macht in den osteuropäischen Staaten wurde und damit in der EU insgesamt immer mehr Macht in die Waagschale werfen konnte, sah sich der ökonomisch schwächere französische Imperialismus in seinem traditionellen Einflussgebiet, seinen ehemaligen Kolonien und Mandatsgebieten in Nord- und Schwarzafrika sowie im Nahen Osten nicht nur weitgehend alleine gelassen, sondern in Widerspruch zur deutschen Politik.

Vorstöße der französischen Regierungen für EU-Interventionen auf dem afrikanischen Kontinent wurden von der BRD nur halbherzig unterstützt, wie die EU-Einsätze im Kongo, oder mehr oder weniger offen sabotiert, wie die im Tschad.16 Wie german foreign policy (gfp) berichtet, forderten deutsche Regierungsberater schon damals, sich nicht für französische Interessen zu verkämpfen.17

Gleichzeitig ließen deutsche Stellen, offizielle wie auch inoffizielle, aber durchaus nicht ihre Finger von afrikanischen Ländern, um den deutschen Einfluss, wo er von Interesse ist, auch dort zur Geltung zu bringen. Und von Interesse kann es auch sein, nur den Einfluss anderer imperialistischer Staaten zurückzudrängen, wie Lenin schon 1916 analysierte.18

Die Mitte der 90er Jahre ins Leben gerufene »Euro-Mediterrane Partnerschaft«, ein Zugeständnis an Interessen des französischen Imperialismus, sozusagen als Ausgleich für die EU-Osterweiterung, dümpelte, wie die verschiedensten Medien berichten, vor sich hin. Die damit verbundenen Ziele, Förderung des Friedens, der Demokratie und wachsenden Wohlstands in dieser Region durch eine Freihandelszone mit der EU, blieben weitgehend leere Worthülsen. Nicht nur was Frieden und Demokratie betrifft, was durch die Niederhaltung einer eigenständigen, selbst bürgerlichen Entwicklung dieser Staaten durch die imperialistischen Mächte und deren stete Einmischung gerade verhindert wird, sondern auch bezüglich einer Freihandelszone. Ein Abkommen über eine Freihandelszone gibt es bisher nur mit Tunesien.

Während also die deutschen Monopole ihre Ostexpansion über die EU-Osterweiterung mit den Strukturen und Geldern der EU und militärisch über die Osterweiterung der Nato absichern konnten, sahen sich die französischen Monopole in ihren Expansionsbestrebungen immer wieder gebremst oder gar zurückgedrängt durch den deutschen Imperialismus.

2007 überraschte dann die neu gewählte französische Regierung unter Sarkozy die EU mit ihrer Ankündigung, eine neue Mittelmeerunion gründen zu wollen, und zwar außerhalb des europäischen Rahmens. Es sollte eine Union der Projekte ohne Vorbedingungen sein, d.h. die äußerst repressiv herrschenden Vasallen in den Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens sollten nicht durch politische Forderungen verschreckt werden. Das war auch eine Reaktion auf das Vordringen der VR China in diese Region und ihre Politik der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der Staaten, in denen sie investierte.

Doch Frankreich konnte sich mit seinem Projekt nicht gegen Deutschland durchsetzen. Die Mittelmeerunion wurde im Rahmen der EU gegründet, wo die politischen Vertreter der deutschen Monopole ein gewichtiges Wörtchen mitzureden haben. Die FAZ schrieb damals: »Die neue Union im Süden, so ist zu vermuten, sollte Frankreich die Führungsrolle und Vorrangstellung zurückgeben, die es in der alten Union (der EU, der Verfasser) nach Ansicht vieler französischer Politiker nach und wegen der Ost-Erweiterung eingebüßt hat«.19

Es blieb die Idee einer vorrangigen Zusammenarbeit über einzelne wirtschaftliche Projekte, was nur ein Jahr später namhafte deutsche Monopole nutzten. Unter anderem Siemens, RWE, e.on, die Deutsche Bank und die Münchner Rück gaben die Planung eines 400 Milliarden Euro teuren Energieprojektes in Nordafrika bekannt, mit dem Solarstrom für ganz Europa erzeugt werden soll, ohne den französischen Bündnispartner auch nur in die Planungen mit einzubeziehen.

Inzwischen zogen französische Monopole mit einem ähnlichen Vorhaben hinterher. Der Schein europäischer Projekte verfliegt immer mehr, die Konkurrenz der Monopole und ihrer Heimatstaaten tritt immer deutlicher zu Tage.

So weit einige Schlaglichter auf die Entwicklung der Grundlage der deutsch-französischen Achse, was unmittelbar die wohl zu Grunde liegende Abmachung – ihr eure traditionellen Einflusszonen in Nord- und Schwarzafrika, wir die unsrigen gen Osten – betrifft.

Verschiebung der Kräfteverhältnisse

Mindestens eben so deutlich treten die Kräfteverschiebungen und damit die Widersprüche direkt innerhalb der EU zu Tage. Vor allem im Zuge der weltweiten Wirtschaftskrise und in ihrem Gefolge der sogenannten Eurokrise haben sich die Verhältnisse weiter zugunsten des deutschen Imperialismus verschoben, was die Vertreter des französischen Imperialismus zunehmend in Zugzwang bringt.

Auf der politischen Ebene spiegelt sich das in dem hegemonialen Gehabe der deutschen Regierung wieder, das nicht nur in Frankreich herbe Kritik hervorruft. Das lange Verweigern von Finanzhilfen für den griechischen Staat 2010, bei dem, noch vor den deutschen, französische Banken Hauptgläubiger sind, bis die Lage schließlich so angespannt war, dass die Merkelregierung ihr Diktat drastischer Einsparungen in Griechenland und damit das Außerkraft-Setzen der haushaltspolitischen Souveränität eines anderen Staates als Vorbedingung innerhalb der EU durchsetzen konnte, war nur der Anfang eines Prozesses weiterer deutscher Diktate und offener deutsch-französischer Machtkämpfe.

Wesentlicher Streitpunkt ist dabei die mit Hilfe der Sozialdemokratie und ihrem Einfluss in den Gewerkschaften und Betrieben durchgesetzte deutsche Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialpolitik, durch die sich die deutsche Bourgeoisie einen stetig wachsenden Konkurrenzvorteil gegenüber den Konkurrenten verschafft. Sie drängt so die Krisenfolgen nicht nur an den Rand der EU und bringt kleinere EU-Länder an den Rand des Staatsbankrotts, sondern zwingt auch das imperialistische Frankreich, dieser Politik zu folgen.

Nun geht es der französischen Monopolbourgeoisie natürlich nicht um die Lage der Arbeiter in der BRD oder die der eigenen Arbeiterklasse. Frankreichs Wirtschaft produziert mehr für den Absatz im eigenen Land, als die traditionell extrem exportabhängige deutsche Wirtschaft. Eine gezielt herbeigeführte Verarmung der Arbeiterklasse und des Kleinbürgertums ist daher nicht im Interesse des französischen Staates als Gesamtkapitalist, zumal, da die deutschen Exportoffensiven den französischen Absatzanteil bereits in den letzten Jahren vor der großen Krise stagnieren ließ, wie die Bundesbank schon 2003 feststellte.20

Es sind innerhalb der EU vor allem die südlichen EU-Mitglieder, in die Frankreich Waren, vor allem aber Kapital exportiert, die nun durch die Rettungsbedingungen der Deutschen immer weiter in die Rezension getrieben werden. So sind französische Banken in den von der Krise besonders gebeutelten Staaten Griechenland, Portugal, Spanien und Irland (außer in Irland, hier ist Großbritannien mit 230 Mrd. Dollar der größte Kreditgeber) jeweils mit höheren Krediten an diese Staaten, ihre Banken und Konzerne involviert als deutsche Banken.^[21]

Wie sehr sich durch die Krise die Kräfteverhältnisse noch einmal verschoben haben, zeigen einige Zahlen. So ist das BIP 2010 in allen 4 Quartalen gegenüber dem Vorjahresstand in Deutschland wesentlich höher gestiegen als in Frankreich, und übrigens auch in Großbritannien oder Italien21, von den kleineren Staaten wie Griechenland oder Portugal ganz zu schweigen.

Die Entwicklung der Handelsbilanzen ist noch krasser. Stieg der Exportüberschuss der BRD von 138,9 Mrd. Euro im Jahre 2009 auf 152,4 Euro im vergangenen Jahr, so stieg das Exportdefizit Frankreichs von 54,1 Mrd. Euro auf 64,1 Milliarden.

Und noch eine Zahl, die die Verschiebung der Kräfteverhältnisse zwischen Frankreich und der BRD in den letzten Jahren aufzeigt: Betrugen die gesamten französischen Ausfuhren im Jahr 2003 mit 341,9 Milliarden Euro noch 51,5 Prozent der deutschen (661,6), so waren das im Jahr 2010 mit 393 Mrd. Euro nurmehr 41% der gesamten deutschen Ausfuhren in Höhe von 957 Milliarden Euro.22

Kein Wunder also, dass sich in der französischen Öffentlichkeit heftiger Unmut über die deutsche Regierung breit macht. Berlin strebe ein »Heiliges Germanisches Euroreich« an, kritisiert z.B. die französische Zeitschrift La Libération.23

Doch die Kritik nicht nur Frankreichs, sondern vor allem auch der südlichen EU-Staaten, wie übrigens auch der US-amerikanischen Regierung, prallt ab. Der geschäftsführende Ausschuss der deutschen Monopole, der anderen Staaten ihre Haushalte diktieren will, lehnt jegliche europäische Abstimmung bezüglich der eigenen Haushaltspolitik ab und zieht sein Sparprogramm im Alleingang durch.

Sarkozy sieht sich, auch aufgrund steigender Zinsen für französische Staatsanleihen, gezwungen, seinen Widerstand aufzugeben und willigt ein, Verstöße gegen den Euro-Stabilitätspakt zukünftig hart zu bestrafen, notfalls sogar mit dem Entzug der Stimmrechte innerhalb der europäischen Gremien. Le Figaro berichtet, Merkel habe Sarkozy offen gedroht, aus der Eurozone auszusteigen, wenn Frankreich nicht ebenfalls ein Sparprogramm durchziehe; diese Drohung wird als »Emser Depesche der Kanzlerin an Sarkozy« bezeichnet, wobei man wissen muss, dass mit der Emser Depesche Bismarck 1870 die französische Kriegserklärung an das Deutsche Reich provozierte24.

Nicht nur in Frankreich, auch in Großbritannien und den USA wird in der öffentlichen Diskussion eine »neue deutsche Frage« gesehen, was nichts anderes bedeutet als die Feststellung, dass ein Scheitern der ursprünglichen Absicht der Einbindung und Eindämmung des deutschen Imperialismus mit Hilfe der EU und der Nato ins Auge gefasst wird.

Hierzulande finden diese Befürchtungen im Ausland ihre Entsprechung in den lauter werdenden Stimmen, die auf einen Alleingang des deutschen Imperialismus pochen. Da ist nicht nur die Klage gegen den Eurorettungsschirm vor dem Bundesverfassungsgericht solch notorischer »Alleingänger« wie Peter Gauweiler – diese Klagen haben alle wichtigen Entscheidungen der sogenannten »Vertiefung« der EU begleitet –, sondern die Tatsache, dass diese Klage auf viel fruchtbareren Boden fällt, als vorangegangene.

Die Empörung über Transferleistungen innerhalb der EU, über die hart erarbeiteten deutschen Milliarden für überschuldete EU-Staaten ist überall zu lesen und zu hören. Die SZ vom 14.5.11 berichtet zum Beispiel über eine Jahresversammlung eines Verbandes namens »Die Familienunternehmer« in München, der sich unter anderem den Euro-Kläger Markus Kerber zur Podiumsdiskussion eingeladen hat, wie auch Theo Waigel, einst Finanzminister im Kabinett Kohl, und Klaus Regling, Vorsitzender des EU-Stabilitätsfonds EFSF. Laut Süddeutscher Zeitung hatten dabei die Verteidiger der Euro-Rettung Waigel und Regling einen schweren Stand. »Waigel … vermisste bei seinen Gesprächspartnern das Verständnis für die historische Dimension. Wer mit der gleichen Währung zahlt, schießt nicht (mehr) aufeinander, zählt das denn nicht?«

Waigel ist offensichtlich Teil einer anderen Strömung innerhalb der deutschen Monopolbourgeoisie, die die Entwicklung mit Sorge betrachten und nach wie vor den besten Weg zur Hegemonie über das Bündnis mit Frankreich sieht, wie sie auch, als Beispiel, in einem Kommentar der »Zeit« zum Ausdruck kommt. Der Autor sieht das Auseinanderdriften der deutsch-französischen Achse als »besorgniserregend« und befürchtet: »Europa fällt auseinander«. Weiter stellt er fest »Es droht eine Selbstisolation«. Als Lösung schlägt er eine »offensivere deutsche Außen- und Militärpolitik im Rahmen der EU« – also mit Frankreich – vor und fordert von der Bundesregierung vor allem »Führung und Orientierung«. 25 Das allerdings setzt entweder die freiwillige Unterordnung Frankreichs voraus oder führt längerfristig zu denselben Widersprüchen, die jetzt eine Linie des Alleingangs stärken.

Zusammenfassende Einschätzung

Ohne diesen ökonomischen und politischen Hintergrund ist meines Erachtens weder das Verhalten der imperialistischen Mächte in Bezug auf Libyen, noch dessen Bedeutung für die weitere Entwicklung zu verstehen, auf die wir uns vorbereiten müssen.

Zusammengefasst bedeutet das: Der französische Imperialismus sieht in der Libyenkrise eine Chance, sich gegen seinen Machtverlust im Zuge der hegemonialen Bedrängung durch den deutschen Imperialismus nicht nur in Nordafrika zur Wehr zu setzen. Die französische Regierung reißt die Führung an sich und zieht, ökonomisch unterlegen, die militärische Karte, um so französische Einflusssphären zu retten und den deutschen Imperialismus mit Hilfe des britischen Koalitionspartners zurück zu drängen.

Diese Hinwendung zu Großbritannien und Abwendung von Deutschland hat übrigens ihr Vorspiel bereits in den im November 2010 mit der britischen Regierung vereinbarten »Verträgen über die Zusammenarbeit in der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik zwischen Großbritannien und Frankreich«, während, wie die SZ feststellt, »gemeinsame militärische Projekte zwischen Paris und Berlin sich seit Monaten zäh hinzögen.«26

Der US-Imperialismus, von Anfang an einer militärischen Intervention in Libyen eher ablehnend gegenüberstehend, entscheidet sich buchstäblich in letzter Minute, den Kampf um Einfluss in Nordafrika nicht der französisch-britischen Koalition zu überlassen und stärkt so gleichzeitig diese Koalition gegenüber dem deutschen Imperialismus, dem nun nichts anderes mehr übrig bleibt, als sich an der Militärintervention unter Führung Frankreichs zu beteiligen oder aber sein Heil im Alleingang zu suchen und damit sowohl das deutsch-französische als auch das transatlantische Bündnis ernsthaft in Frage zu stellen.

Ob die deutsche Regierung anfänglich eine militärische Option unter deutscher Führung in Erwägung gezogen hat oder aber durch die Forderung nach weitgehenden Sanktionen gegen das Gaddafi-Regime eine solche, von Frankreich und Großbritannien geforderte zu verhindern suchte und dabei auf Unterstützung der USA spekulierte, ist aufgrund der zugänglichen Informationen schwer zu beurteilen.

Ebenso kann das anfängliche Hin und Her heftigen Kämpfen innerhalb der deutschen Monopolbourgeoisie geschuldet sein, die es ja offensichtlich – und bei Zuspitzung der Widersprüche notgedrungen – gibt, wie die vielfältige Kritik in der bundesdeutschen Öffentlichkeit an der Enthaltung der Merkel/Westerwelle Regierung zeigt.

Inzwischen zeichnet sich ab, dass der deutsche Imperialismus wieder als »ehrlicher Makler« auftreten will, der zwischen den kämpfenden Parteien in Libyen vermittelt und so seinen Einfluss verstärkt – auf Kosten Frankreichs.27

Ob diese Rechnung aufgeht, wird sich zeigen. Klar ist auf jeden Fall, dass die deutsche Monopolbourgeoisie kein Interesse daran hatte, sich unter französischer Führung an einer Militärintervention zu beteiligen und so zu einer Stärkung französischen Einflusses in Nordafrika und darüber hinaus beizutragen. Dafür nahm sie auch in Kauf, dem transatlantischen Bündnispartner auf die Zehen zu treten.

Die oben zitierte, befürchtete »Selbstisolation« ist im Falle Libyen also bereits eingetreten. Die Ablehnung der Militärintervention im UN-Sicherheitsrat ist damit auch ein Anzeichen dafür, dass die Stärke des deutschen Imperialismus eine Größenordnung erreicht hat, die nach Sprengung der westlichen Bündnisse EU und Nato drängt, in deren Schoß er »sich am besten entfalten kann«, wie ein deutscher Universitätsprofessor im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung 199928 feststellte. »Konnte«, muss man wohl heute sagen. Das aber bedeutet eine Zuspitzung der Widersprüche zwischen den imperialistischen Staaten und damit die zunehmende Gefahr eines dritten Weltkrieges.


  1. Süddeutsche Zeitung, 2./3.4.2011 

  2. sueddeutsche.de, 27.2.2011 

  3. welt online, 24.2.2011 

  4. 4 nach Lühr Henken: Das libysche Öl und die Nato, abrufbar unter www.ag-friedensforschung.de/regionen/Libyen/henken.html; Lühr bezieht sich dabei auf das Buch: Länder der Erde; Köln 1981, S.383 

  5. zeit online, 6.5.2009 

  6. FAZ, 28.2.2011 

  7. FAZ, 24.2.2011 

  8. 28.2.2011 

  9. FAZ.NET, 10.3.2011 

  10. ebd. 

  11. ebd. 

  12. FAZ, 10.3.2011 

  13. Süddeutsche Zeitung, 14.4.2011 

  14. siehe dazu Georg Polikeit: »Begleitmusik zum Euro: das Deutsch-französische Verteidigungskonzept«. In: Marxistische Blätter 3-97, S.31 

  15. siehe Süddeutsche Zeitung vom 18.5.2011 

  16. Siehe dazu auch die Referate »Der deutsche Imperialismus und Afrika« und »Die deutsche Interventionspolitik« von Jörg Kronauer, german foreign policy, gehalten auf den Konferenzen »Der Hauptfeind steht im eigenen Land« 2009 und 2010. 

  17. Der erste Alleingang, 22.3.2011; www.german-foreign-policy.com 

  18. » … und zweitens ist für den Imperialismus wesentlich der Wettkampf einiger Großmächte in ihrem Streben nach Hegemonie, d.h. nach der Eroberung von Ländern, nicht so sehr direkt für sich als vielmehr zur Schwächung des Gegners und Untergrabung seiner Hegemonie.« Lenin: »Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus«, LW Bd.22, S. 273 

  19. faz.net vom 13.3.2008 

  20. Deutsche Bundesbank, Monatsberichte, Oktober 2003, S. 25 

  21. BRD: 2,1%; 3,9%; 3,9%; 4%, gegenüber 1,2%; 1,6%;1,7%;1,5% in Frankreich 

  22. Quelle: verschiedene Eurostat-Veröffentlichungen 

  23. nach gfp vom 14.6.2010 

  24. Le Figaro vom 15.6.2010, zitiert nach gfp vom 16.6.2010: »Die Macht in Europa« 

  25. Die »Zeit« 3.6.2010; zitiert nach gfp vom 14.6.2010: »Führung und Orientierung« 

  26. SZ 15.12.2010 

  27. siehe dazu u.a. gfp 16.5.2011: »Der lachende Dritte« 

  28. Werner Link: »Deutschland als europäische Macht« in: Werner Weidenfeld (Hg.), Europa-Handbuch, Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 1999, S.562; das genaue Zitat lautet: »Es mag paradox klingen, ist aber zutreffend: Dadurch, dass die europäische Macht Deutschland im europäischen und euro-atlantischen Raum beschränkt ist und mit den anderen Mächten verschränkt ist, kann sie sich am besten entfalten. Das alte und immer wieder neue Problem der kritischen Größenordnung Deutschlands ist auf diese Weise derzeit konstruktiv gelöst – ob auch dauerhaft, hängt ab vom Schicksal der EU und der NATO, das primär von ihren Mitgliedsstaaten, einschließlich Deutschland, bestimmt wird. Amerikanische Beobachter prognostizieren, dass im Falle einer Stagnation oder Erosion der EU und der NATO Deutschland als ungefesselte europäische Macht erneut in den Kreis der konkurrierenden Großmächte aufsteigen werde – als Weltmacht wider Willen.«