Konferenz
»Der Haupt­feind steht im eigenen Land«

Die jährlich stattfindenden Konferenzen gegen den deutschen Imperialismus sollen den politischen Austausch und die Zusammenarbeit derjenigen revolutionären Kräfte fördern und vorantreiben, die in der Arbeiter- und demokratischen Bewegung für die Linie »Der Hauptfeind steht im eigenen Land« kämpfen wollen.

Die Deindustrialisierung und die demographische Katastrophe – Auswirkungen der Annexion der DDR auf Region und Menschen in Ostdeutschland

Ringo Ehlert, Gewerkschafter und Vertrauensmann

2010/2013

Die weltweit einzigartige Situation in der annektierten DDR1 gibt dem deutschen Imperialismus einige besondere Möglichkeiten, die Bevölkerung auf seinen Chauvinismus, seine Kriegsziele einzuschwören, z.B. die massive soziale Krise im Osten. Allein der Umstand, dass fast 70% des Kanonenfutters der Bundeswehr in Afghanistan aus der annektierten DDR kommt, belegt dies auf fürchterliche Weise.2

Zweifelsohne wird der deutsche Imperialismus auch vor große Widersprüche bezüglich der inneren Mobilisierung speziell in Ostdeutschland gestellt. Die Widersprüche zwischen der Bevölkerung im Osten und Westen sind zu einer Konstante geworden; der Staat wird im Osten nach den bisherigen Erfahrungen der Annexion mehr oder weniger als Unterdrücker gesehen, der pausenlos bevormundet. »Menschen zweiter Klasse« ist schon zu einem normalen Ausspruch im Osten geworden. Eine derart uneinige Bevölkerung erzeugt Unruhe und erschwert Kontrolle. Trotz dieser Zusammenhänge zwischen Annexion der DDR und innerer Mobilisierung des deutschen Imperialismus geht es im Folgenden wesentlich um Aktivitäten des deutschen Imperialismus als fremde Macht in anderen Staaten und Regionen der Welt.

Denn gerade mit Blick auf die Souveränität der DDR und den 41-jährigen Kampf der BRD gegen diese möchte ich betonen, dass die Annexion der DDR genau solch eine ungeheure Aktivität des deutschen Imperialismus in der Rolle einer fremden Macht im Angriff auf ein anderes Land darstellt. Diese Charakterisierung muss erfolgen, leider auch mit Blick auf die Ignoranz der besonderen Kampfbedingungen im Osten oder gar die Verklärung der Annexion der DDR als »innerdeutschen Sonderfall«, mit der absurden Konsequenz, das Ende der wirklichen oder vermeintlichen Fehlentwicklungen in der DDR zu begrüßen, indem man das Ende der DDR begrüßt. Diese Verhaltensweisen, die – ob gewollt oder nicht – denen der annektierenden BRD entsprechen, sind leider in der Linken mannigfaltig vorhanden. Mit der Ignoranz gegenüber der Annexion der DDR, einer unter den Bedingungen einer Annexion existierenden Region, greift man zum einen nicht auf bestehende Möglichkeiten zu und gerät zum anderen schnell in das Fahrwasser der Besatzer.

Grundsätzlich muss klar sein (vollkommen abgesehen vom Gesellschaftssystem der DDR und allen seinen Erfolgen wie Niederlagen), dass mit ihrer Annexion ein souveräner, eigenständiger, wirtschaftlich wie gesellschaftlich intakter, hoch industrialisierter Staat mit einer im Vergleich zur BRD nicht nur anderen, sondern neuen Kulturlandschaft zerstört und sein Territorium wie auch sein gesellschaftlicher Reichtum zu fast 100% von westdeutschen Konzernen und Banken widerrechtlich angeeignet wurde.3 Einher ging dies mit der Enthauptung der gesamten Intelligenz und der Kulturschaffenden dieses Staats, der Vertreibung seiner Eliten aus ihren Positionen und der Herabsetzung großer Teile der Bevölkerung. Dies alles geschah im Europa des 20. Jahrhunderts, und nicht durch irgendwen veranlasst, sondern durch den deutschen Imperialismus, dessen Geschichte uns bekannt ist. Eine Geschichte, die die Gründung und Verteidigung der DDR notwendig machte; sie stellte das Korrektiv zur aggressiven imperialistischen BRD dar, war Schutzmacht zur Umsetzung des Potsdamer Abkommens. Dafür gibt es nun täglich den bitteren Beweis durch die weltweit mögliche Kontinuität des deutschen Imperialismus in seiner Außen- wie Innenpolitik.

Diese Grundsätzlichkeiten sollten jeden fortschrittlich Eingestellten interessieren und nicht nur solche, die von der DDR etwas halten. Diese Grundsätzlichkeiten stellen außerdem die Beweise für ein weiteres der schweren und weltweit einzigartigen Verbrechen des deutschen Imperialismus, als das die Annexion der DDR gesehen werden muss, dar. Ein Verbrechen, für das es mindestens in unseren Reihen keine Verjährung geben sollte.

Die Annexion als »nun mal geschehen« zu betrachten und sie nicht ständig an ihren Folgen in Ostdeutschland und an ihren weltweiten Folgen, deren Eigendynamik atemberaubend ist, in der politischen Arbeit festzumachen, ist nicht nur in der annektierten DDR kontraproduktiv, und es dient nicht unserem Kampf gegen den Hauptfeind. Jetzt von einer nun endlich geeinten und dadurch kampfstärkeren Arbeiterklasse zu reden, geht nicht nur meilenweit an den Tatsachen vorbei, denn selten waren wir so schwach wie jetzt. Es heißt auch, der braunen Schleimspur der annektierenden BRD zu folgen und ein großes Verbrechen des deutschen Imperialismus und seine Opfer zu ignorieren.

Die Thematisierung der Annexion der DDR ist immer Thematisierung des deutschen Imperialismus, ungehindert durch Ablenkung. Gleichzeitig ist es die Nutzung des Potenzials, das die ca. 17 Millionen Bürger der annektierten DDR darstellen, die nicht nur über die Erfahrung verfügen, beide Wirtschaftssysteme erlebt zu haben, sondern auch die ungeheure Zerstörungskraft kennen, die sich in der Annexion der DDR manifestierte. So ist die DDR immer aus zwei voneinander vollkommen unabhängigen Blickwinkeln zu betrachten: 1. als souveräner Staat und Korrektiv zum deutschen Imperialismus, dessen Existenz die bis jetzt längste Friedensperiode Europas ermöglichte und die vom deutschen Faschismus überfallenen Staaten mit der Sicherung der Nachkriegsgrenzen abschirmte. 2. ist die DDR Ort der Umsetzung der elementaren Forderungen der zuvor in Deutschland gescheiterten Revolutionen und Ort des ersten real existierenden Sozialismus auf deutschem Gebiet, der übrigens nicht mal eben aus Übermut eingeführt wurde, sondern als einzig mögliches Mittel gegen die mannigfaltigen Bestrebungen des deutschen Imperialismus, die DDR zu zerstören. Mit kapitalistischen Produktionsverhältnissen hätte die DDR diese Aufgabe nicht gemeistert.

Der Streit um den real existierenden Sozialismus in der DDR dauert an und wird heftig geführt. Fest steht jedoch, dass es an den entscheidenden Positionen im Staat DDR zu revolutionären Veränderungen der Produktionsverhältnisse kam, zu revolutionären Umbrüchen, aus denen revolutionäre Veränderungen bis in die Kapillaren der Gesellschaft der DDR hinein folgten. Hierzu Inge Viett in einer Referatsveranstaltung zum Thema Anfang 2010: »Im September 1945 wurden in der DDR (zu der Zeit noch SBZ) die agrarischen Großeigentümer – die Junker – enteignet. Im Juni 1946 begann die Enteignung von Monopolunternehmen und Betrieben der Nazis und Kriegsverbrecher. 1948 wurde die Planwirtschaft für die staatliche Industrie eingeführt. 1950 begann die Kollektivierung des Bodens und des Handwerks, das genossenschaftliche Eigentum wurde gegründet, es entstanden die LPGs und PGHs. Das war 1960 abgeschlossen. Die DDR hatte also unzweifelhaft eine sozialistische ökonomische Basis. Ihr Grundcharakter also war zweifelsfrei sozialistisch. […] Wie gut oder schlecht das funktionierte, ist keine Aussage über den sozialistischen Charakter.«4

Der deutsche Imperialismus fand also vor der Annexion eine ihm diametral entgegengesetzte Gesellschaftsordnung vor und einen aus den Produktionsverhältnissen der DDR gewachsenen Überbau, der genauso diametral zu ihm stand. Beides war vollkommen inkompatibel zur imperialistischen BRD, inkompatibel schon aufgrund der Tatsache, dass bereits das Gründungsmoment der DDR den grundsätzlichen Bruch mit dem deutschen Imperialismus darstellte. Thesen, die einer schon vor der Annexion in ihren Grundfesten kapitalistischen DDR oder einer vor der Annexion in der DDR agierenden »sozialimperialistischen« Bourgeoisie das Wort reden, sind trotz aller revisionistischen Fehlentwicklungen in der DDR nicht haltbar. Eine derart wütende Konterrevolution, die sich durch alle Ebenen der DDR auslöschend durcharbeiten muss-te und auch nach 25 Jahren einen permanenten ideologischen Großkampf gegen den Kadaver der DDR und die Bevölkerung der DDR führt, wäre mit einer wie auch immer gearteten Kompatibilität zwischen BRD und DDR nicht nötig gewesen.

Selbst die Einrichtungen der DDR, die sich in den letzten Jahren ihrer Existenz den neuen Verhältnissen mehr oder weniger anbiederten, wurden zerschlagen oder gezwungen sich aufzulösen, weil sie immer noch in ihren Ansätzen und Spuren von Grundsätzen mit der besonders rückwärtsgewandten, besonders antidemokratischen bürgerlichen Demokratie des deutschen Imperialismus nicht vereinbar waren. Als Beispiel seien hier der Werdegang bzw. die Zerstörung sämtlicher eigenständiger DDR-Medien und der meisten Einrichtungen der Bürgerbewegung wie z.B. der Runde Tisch genannt.

Allerdings: Die Auswirkungen der Annexion der DDR auf die Menschen im Osten an die Spitze der Liste aller Auswirkungen zu stellen, hieße, die Folgen der Konterrevolution, wie z.B. den Angriffskrieg auf Jugoslawien mit all seinen katastrophalen Begleiterscheinungen oder die ökonomische Unterjochung und teilweise Wiederaneignung der durch Nachkriegsgrenzen abgetrennten Ostgebiete oder die Ermordung Andersdenkender und Menschen anderer Nationalität durch die nun auch im Osten offen agierende faschistische Bewegung, zu relativieren, zu verharmlosen. Die Folgen der Annexion für die Menschen auf dem Gebiet der annektierten DDR stehen hinter den Angriffen des durch die Annexion entfesselten deutschen Imperialismus auf andere Staaten weit zurück.

Hier sei auch bemerkt, dass die angebliche Entscheidung der Mehrheit der DDR-Bürger gegen ein Weiterbestehen einer eigenständigen DDR rein gar nichts am Tatbestand der Annexion änderte. Ein jubelnder Mob ist keine Freikarte, um Staaten zu annektieren und geltendes Völkerrecht und bürgerliches Recht an sich in einer derartigen Dimension zu verbiegen und zu missachten. Und vor allem keine Freikarte, um die Nachkriegsordnung Europas in eine Vorkriegsordnung einer durch Großdeutschland beherrschten EU zu verwandeln.

Da die DDR ihre Existenzberechtigung in erster Linie durch die Umsetzung des Potsdamer Abkommens innehatte und das Potsdamer Abkommen die Forderungen der vom deutschen Faschismus überfallenen Völker fixiert, ist die DDR auch als internationales antifaschistisches Projekt zu betrachten. Den gegen ein Weiterbestehen eingestellten Teilen der DDR-Bevölkerung ist daher – selbst wenn sie in der Mehrheit waren – das Recht abzusprechen, über die Eigenständigkeit und Existenz dieses internationalen Projekts frei zu entscheiden.

Die Konterrevolution in der DDR ist ein derart komplexes und umfangreiches Unterfangen, dass sie nur ansatzweise in zerfaserten Einzelausarbeitungen über Teilaspekte dokumentiert ist, die übergeordneten Gesamtzusammenhänge wenig bis gar nicht betrachtet werden. Eine umfassende Dokumentation und Analyse der bis heute wütenden Konterrevolution liegt nicht einmal in Ansätzen vor, ist jedoch eine lohnende Aufgabe. Die Notwendigkeit der Bearbeitung dieser Aufgabe nimmt mit zeitlicher Entfernung zum Anschluss der DDR stetig zu und nicht ab.

Die Deindustrialisierung Ostdeutschlands und die daraus resultierenden demographischen Entwicklungen auf dem Gebiet der annektierten DDR ist nur ein Teilbereich, der sich indes gut eignet, um die Dimension der Auswirkungen der Annexion der DDR auf Ostdeutschland zu verdeutlichen. Nicht nur relativ aktuelle Statistikdaten liegen vor, sondern auch Prognosen zur künftigen Entwicklung im Osten.

Zur ökonomischen Ausgangslage auf dem Gebiet der DDR unmittelbar vor der Annexion

Nur wenige Forschungsgebiete sind dermaßen umstritten wie die Analyse der Leistungen der sozialistischen Planwirtschaft der DDR. Der ideologische Druck der herrschenden Klasse hat bis heute dafür gesorgt, hier eine Wissenschaftsfeindlichkeit erblühen zu lassen, die einen weit klaffenden Widerspruch erzeugt zwischen öffentlicher Verlautbarung, die schon mit einem Schultaschenrechner ad absurdum geführt werden kann, und den Analyseergebnissen selbst der bürgerlichen Wissenschaft. Natürlich sollen auch die Lügen bezüglich der DDR-Wirtschaft jedem, der es dennoch wagt, an Alternativen zur kapitalistischen Wirtschaftordnung auch nur zu denken, in den Schädel hämmern: Lass die Finger vom Sozialismus, der geht immer pleite.

Die wirtschaftlichen Kennziffern der DDR vor der Annexion aufzuzeigen halte ich für sehr wichtig. Denn die katastrophale Entwicklung im Osten, gerade im sozialen Bereich, wird da, wo sie nicht mehr geleugnet werden kann, auf das sogenannte schwere Erbe der DDR zurückgeführt. Außerdem erschließt sich der Umfang der Annexion schon grundsätzlich nicht, wenn man davon ausgeht, dass hier ein schon im Sterben liegender Staat in seinen letzten Zügen an den Westen angeschlossen wurde oder gar aus ökonomischen Sachzwängen angeschlossen werden musste. Schon die Einschätzungen der Transferleistungen, die seit der Annexion fließen müssen, um im Osten das extrem niedrige Niveau wenigstens halten zu können, können mit dieser falschen Analyse der ökonomischen Ausgangsbasis des Jahres 1989 nur fehllaufen.

Zu den Fakten: Bereits 1991 begann im Rahmen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Zusammenarbeit mit einem ehemaligen Mitarbeiter der DDR-Statistik das »Rückrechnungsprojekt«, also die Taxierung der DDR-Wirtschaft nach dem Berechnungssystem der westlichen Volkswirtschaften. Von Anfang an jedoch war das Interesse an diesem mit ein paar ABM-Stellen bearbeiteten Auftrag gering; die Arbeit daran wurde dann eingestellt. Mit der 2005 im Zentrum für Sozialforschung Köln erschienenen volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung für Ostdeutschland von Gerhard Heske wurde das Rückrechnungsprojekt jetzt für den Zeitraum von 1970 bis 1989 abgeschlossen.5 Folgende wirtschaftliche Kennziffern gehen aus dieser derzeit als Referenz zu betrachtenden Analyse hervor.

Mit einem Bruttoinlandsprodukt von knapp 209 Mrd. Euro6 würde die DDR selbst in der Europarangliste der 15 wirtschaftlich stärksten Staaten des Jahres 2000, also 11 Jahre nach dem Stillstand der DDR-Wirtschaft, etwa Platz 9 belegen – in der Nähe von Schweden, Belgien, den Niederlanden, vor Österreich, weit vor Staaten wie Portugal, Griechenland und Dänemark.7 In der Rangliste der Staaten des Warschauer Pakts stellte hinter der Wirtschaftsmacht Sowjetunion die DDR den wirtschaftlich stärksten Staat. Im Zeitraum von 1970 bis 1989 hat die Wirtschaft der DDR ihr BIP, das zum größten Teil durch die industrielle Produktion erzeugt wurde, dem auch heute noch wichtigsten Wirtschaftsbereich, mit einem Wert von 184% fast verdoppelt.8 Selbst die mit weitem Abstand ökonomische Führungsmacht Europas, die BRD, kann mit lediglich 154% auf kein solches Wachstum zurückblicken.9 Zurückblicken kann die BRD jedoch auf wesentlich günstigere Ausgangsbedingungen, als sie die DDR hatte. Obwohl der Wettlauf der DDR mit der BRD, wie er von einigen propagiert wurde, als aberwitzig einzustufen ist, sollte bemerkt werden, dass die DDR in Relation zur BRD im genannten Zeitraum 18 Prozentpunkte aufholen konnte.10 Sie konnte sich also durch Entwicklung und Wachstum von ihrem hauptsächlich historisch begründeten niedrigen Niveau beträchtlich erheben. Die sozialistische Planwirtschaft der DDR hatte offensichtlich ein derartiges Leistungspotential.

Im benannten Zeitraum gab es bis ins letzte Jahr der Existenz der DDR jährlich positive Wachstumsraten, wenn auch in einer sich abschwächenden Kurve. Diese mitunter stark schwankenden Wachstumsraten der einzelnen Jahre ergeben eine durchschnittliche jährliche Wachstumsrate von 3,3%.11

Von einer extrem ungünstigen Situation mit extrem ungünstigen Einwirkungen ausgehend, entwickelte die DDR die beträchtliche Wirtschaftskraft eines mittleren Industriestaats, der nach unvorstellbar schwerem Aufbau in den Ranglisten des Weltmarkts der wirtschaftlich stärksten Staaten Plätze belegte. So belegte die DDR z.B. in der Welt-Werkzeugmaschinenproduktion Rang fünf,12 auch Produktionsbereiche wie die Schienenfahrzeugproduktion und der Schiffbau rangierten auf oberem Weltniveau.

Solche Wirtschaftsdaten sind nur möglich mit angemessenen FUE-Werten (Forschung und Entwicklung).13 Diese hatte die DDR inne und musste auf diesem Gebiet ohnehin größere Kapazitäten schaffen, da sie vom Technologietransfer, der eine der Grundlagen der technischen Entwicklung kapitalistischer Staaten darstellt, ausgeschlossen war. Eine Reihe von Innovationen auf Weltniveau »Made in GDR« und die weltweit (abgesehen von der BRD) anerkannte Qualität der Bildung und Ausbildung in der DDR (z.B. wurden Facharbeiten ausschließlich von Facharbeitern ausgeführt – heute unvorstellbar) sowie die umfangreiche und komplexe Wissenschaftslandschaft der DDR mit ihren zahlreichen international anerkannten Einrichtungen, aber auch die Tatsache, dass Ostdeutschland nach der Annexion und der Zerstörung des Wissenschaftsstandorts DDR die meisten arbeitslosen Akademiker weltweit verzeichnete, zeugen von den beträchtlichen FUE-Kapazitäten der DDR.

Nicht umsonst wurden als erstes immer die Forschungs- und Entwicklungsabteilungen der Kombinate ausgeräumt und Patente wie Auftragsbücher in die westdeutschen Werke gekarrt. Hierfür gibt es zahlreiche Beispiele wie das einst im Waggonbau weltweit führende Schienenfahrzeugkombinat LEW, die Werften und Maschinenbaukombinate.

Die DDR entwickelte sich zu einer Exportwirtschaft und konnte ab 1982 nach Jahren eines geringen negativen Außenbeitrags erstmals positive Außenbeitragswerte vermelden, das heißt, dass sie mehr exportierte als importierte. Auch wenn dieser Kraftakt zu Anspannungen in der Versorgung der Bevölkerung mit Gütern höherer Qualität führte, stieg doch die inländische Verwendung des BIP 1970-1989 um 71%.14

Allein diese wenigen wirtschaftlichen Kennziffern führen jede der verschiedenen Verlautbarungen über eine vor dem wirtschaftlichen Kollaps stehende DDR ad absurdum. Trotz dieser Wirtschaftsleistung leistete sich die DDR ein weltweit einzigartiges System sozialer Errungenschaften, das zwar keiner Oberschicht heillos überzogenen Luxus bieten konnte und auch gar nicht wollte, jedoch relativ beträchtlichen Wohlstand und Lebensqualität für jeden Bürger realisierte. Auch die Behauptung, dass dies durch Schulden finanziert wurde, hält einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand. Mit einer Nettoauslandverschuldung, Stand 1989, gegenüber dem Nicht-Sozialistischen Wirtschaftsraum (NSW) von lediglich 19,9 Mrd. DM (BRD: 205,5 Mrd. DM) und einer Nettoinlandsverschuldung, Stand 1989, von 92 Mrd. DM (BRD: 924 Mrd. DM)15 war die DDR zu keinem Zeitpunkt von Überschuldung bedroht. Das von ihr erwirtschaftete BIP war um ein Vielfaches höher als ihr Schuldenbetrag. Somit wird auch klar, wie überhöht die Thematik »Kredite aus dem Westen« in der öffentlichen Berichterstattung gehandelt wird. Schaut man sich die berühmten Strauß-Kredite von 2 Mrd. DM an (diese machten in etwa 0,7% des BIP der DDR des betreffendes Jahres aus),16 wird ersichtlich, welchen Stellenwert die Thematik letztlich einnimmt. Übrigens wurde dieses Geld für die Modernisierung der Industrie in der DDR verwendet. Allein zwischen 1975 und 1985 wurden 700 Fabriken und Industrieanlagen gekauft, das Modernste, was man kriegen konnte, importiert wurde Industrietechnik z.B. aus Japan.17 Dies sei in puncto »marode DDR« nebenbei bemerkt.

Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der DDR waren nicht unerheblich und wuchsen durch explodierende Rohstoffpreise und die Krisen auf dem Weltmarkt; so verausgabte sich die DDR enorm im Spagat zwischen einem immer weniger funktionierenden RGW und wegbrechenden Rohstofflieferungen aus der Sowjetunion auf der einen Seite und dem Preisdiktat des vom Weltimperialismus beherrschten Weltmarkts auf der anderen Seite. Doch trotz dieser Herausforderungen und tiefen Einschnitte spiegeln die vorliegenden wirtschaftlichen Kennziffern nicht im Geringsten das in den öffentlichen Medien verbreitete Bild einer »maroden«, vor dem totalen wirtschaftlichen wie finanziellen Kollaps stehenden DDR wider. Das Bild eines wirtschaftlich intakten mittleren Industriestaates mit beträchtlichem Wohlstand und einer kontrollierbaren Finanzsituation entspricht eher den Fakten.

Die unmittelbaren Folgen der Annexion auf die Wirtschaft im Osten

In den ersten Jahren der Annexion wurde in einem Umfang und Tempo gesellschaftlich Reichtum vernichtet, wie es bis dato nur durch Kriege erreicht werden konnte. Die Akteure, westdeutsche Banken und Konzerne und ihre Schergen in Politik und Verwaltung, stolperten nicht etwa in das Desaster und wurden von diesem überrascht. Klare Weichenstellungen, z.B. mit dem »Einigungsvertrag«, der »Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion«, dem »Rückgabe-vor-Entschädigungs-Gesetz«, der »Altschuldenregelung«, der vom Bund garantierten Straffreiheit für die Treuhandanstalt und deren Aufgabenstellung wie Umsetzung usw., wurden Eckpfeiler für eine Rosskur, die keine Volkswirtschaft der Welt jemals durchgestanden hätte. Die DDR wurde zum Abschuss freigegeben, hier lockte ein riesiger Markt, und mit Milliarden von Steuergeldern wurde jeder noch so schmierige Wirtschaftskriminelle mit reichlich Subventionsgeldern, insgesamt im mehrstelligen Milliardenbereich, für seinen Dienst am Vaterland belohnt. Allein die Mechanismen des Ausverkaufs, der gezielten Zerstörung, der Enteignung und Abwicklung der DDR-Wirtschaft füllen Aktenordner und beschäftigen Konferenzen. Eine Ausarbeitung zur Anatomie der Annexion, die allen Zusammenhängen gerecht wird, steht bis heute aus.18

In den Jahren 1990 und 1991 sank die gesamtwirtschaftliche Leistung in der annektierten DDR um mehr als 30% unter den Stand des Jahres 1989, die Industrieproduktion um 60%.19 Solche Einbrüche hat es in der Wirtschaftsgeschichte zu Friedenszeiten noch nicht gegeben.

Erst 18 Jahre später, 2007, näherte sich Ostdeutschland, jetzt ein vollkommen vom Westen abhängiger Absatzmarkt für westdeutsche Produkte, gestützt durch unzählige Millionen an Transfermitteln, dem Stand der Wertschöpfung des verarbeitenden Gewerbes vor der Annexion an. Westdeutschland hatte in diesem Zeitraum die Wertschöpfung seines produzierenden Gewerbes bereits auf den Stand von 124% erweitert.20 Bis heute haben die sogenannten »neuen Länder« den Anteil der DDR am gesamtdeutschen BIP des Jahres 1989 nicht erreicht.21 Zum Vergleich: Die DDR erreichte 1950, also ein Jahr nach ihrer Gründung, auferstanden aus Ruinen, den Vorkriegsstand der Wirtschaftsleistung in Ostdeutschland trotz der immensen Zerstörung durch den 2. Weltkrieg.22 Ein weiteres Merkmal der massiven Nicht-Eigenständigkeit der ostdeutschen Wirtschaft sind die sehr geringen Werte für Forschung und Entwicklung; dieser Bereich ist Voraussetzung für jeden wie auch immer gearteten »Aufschwung Ost«. An die Stelle der entwickelten Wissenschaftslandschaft der DDR ist eine Wissenschaftsbrache getreten. Von den in der BRD 2006 für Forschung und Entwicklung aufgewendeten 48 Mrd. Euro entfielen lediglich 2 Mrd. auf die annektierte DDR. 2003 lagen die privaten Aufwendungen für Forschung und Entwicklung je Einwohner in Ostdeutschland bei 42% des bundesdeutschen Durchschnitts, wobei Baden-Württemberg beispielsweise 220% erreicht, Mecklenburg Vorpommern ganze 10%. Mit solchen Werten ist die Entwicklung einer progressiven Wirtschaftsstruktur ausgeschlossen.23

Auch das nach der Zerschlagung der über 250 riesigen Kombinate der DDR fast vollständige Fehlen von Großbetrieben im Osten fördert natürlich diesen Umstand, denn wie in der DDR unterhalten überall nur Großbetriebe Forschungs- und Entwicklungsabteilungen. Nach der Zerstörung der Kombinate und Großbetriebe der DDR, allein die 9 größten beschäftigen 1989 jeweils 50 000 Arbeiter, gibt es heute in der annektierten DDR etwa so viele Großbetriebe wie im Bundesland NRW.24 Der Umstand, dass es im Zuge der Konterrevolution solch eine Auslöschung von Großbetrieben in keinem der Staaten des Warschauer Pakts gegeben hat (und nicht zu vergessen, die DDR stand 1989 nach der SU wirtschaftlich gesehen an der Spitze dieser Staaten), macht die besonderen Ausmaße der Annexion der DDR sichtbar. Mit der Zerstörung der riesigen Kombinate der DDR wurde bereits ein beträchtlicher Teil der sozialen Errungenschaften mitzerstört. Sportund Erholungsstätten, Kindergärten und Ausbildungs- und Kulturzentren, medizinische Versorgung, ganze Wohnviertel gingen mit den Kombinaten unter. Die Zusammensetzung der Wertschöpfung durch die verschiedenen Wirtschaftsbereiche der Volkswirtschaft hat sich vollkommen geändert.

Der wichtigste Wirtschaftsbereich, das produzierende Gewerbe, ist bis zum Jahr 2000 auf fast die Hälfte eingebrochen, im gleichen Zeitraum hat sich die Wertschöpfung des Wirtschaftsbereichs »Finanzierung, Vermietung, Unternehmensdienstleistung« vervielfacht – klare Indikatoren für die Zerstörung des produktiven Sektors im Osten.25 Dies ist aber auch Indikator für die Transformation eines Industriestaats, der mit Überschuss seine produzierten Güter exportierte, in dem sich kein Profit mit Grund und Boden oder Finanzdienstleistungen erbeuten ließ und in dem die Mieterrechte generell weit höher eingestuft waren als die Vermieterrechte, hin zu einer Region der Industriebrachen, in der seit 1989 Mietsteigerungen von mehreren tausend Prozent an der Tagesordnung sind und die Verdrängung ärmerer Mieterschichten im Umfang ganzer Stadtbezirke stattfindet.

Im vierten Jahr der sogenannten Einheit hatten schon drei Millionen Arbeiter der DDR ihren Arbeitsplatz verloren. Die sich damit einstellende Arbeitslosenquote im Osten ist bis heute doppelt so hoch wie in Westdeutschland, obwohl bereits bis 2006 der Bevölkerungsverlust Ostdeutschlands durch die annexionsbedingte innerdeutsche Migration auf 1,74 Millionen Menschen angestiegen war.26 Die üblichen Verfälschungen der Arbeitslosenzahlen gab und gibt es natürlich auch im Osten, wonach Arbeiter, die eigentlich gegen ihren Willen in den Vorruhestand gedrängt werden, in der Statistik nicht auftreten. Die Zahl dieser Fälle, die arbeitslos wurden, aber es amtlich nicht waren, war in den ehemaligen Kombinaten und Betrieben der DDR besonders groß. Trotz allen Angaben ist es schwer, die wirkliche Dimension dieses Schocks der ostdeutschen Bevölkerung aus den genannten trockenen Wirtschaftsfakten herauszulesen. Der Schock, den die Gesellschaft in der annektierten DDR durch die Massenarbeitslosigkeit erlitt, wird vorstellbar angesichts der Tatsache, dass Arbeit in der DDR mehr was als nur ein Job. Sie war ein sehr wichtiger, wenn nicht der wichtigste Teil des Lebens, der sich in den Kollektiven abspielte. Mannigfaltige Aktivitäten außerhalb der Arbeit und damit die ständige Auseinandersetzung mit den Kollegen wurde gefördert. Hier entstanden feste Bindungen und Verlässlichkeiten. DDR-Arbeiter waren es nicht gewöhnt, wie ihre Kollegen im Westen mit der Sorge um den Arbeitsplatz und die Erhaltung der Existenz überhaupt morgens aufzustehen und sich abends wieder hinlegen zu müssen. Das Auseinanderbrechen der Kollektive durch die Massenentlassungen war sehr oft nur das Ende einer Hatz, in der nun genau der Individualismus und Egoismus wieder sein Haupt erhob, der gerade durch die solidarische Struktur der Kollektive und die Integration vieler sozialer Aspekte ins Kombinat zurückgedrängt werden sollte. Die Ungewissheit schürte dies und brachte nun einen widerwärtigen Konkurrenzkampf um die schwindenden Arbeitsplätze hervor. Schnell bemerkte man, dass nicht diejenigen ihren Arbeitsplatz ein wenig länger behielten, die für den Zusammenhalt der Kollektive eintraten, sondern diejenigen, die sich vermeintliche Vorteile verschaffen konnten, die für sich im Verborgenen Absprachen trafen, denunzierten und sich den neuen Besitzern anbiederten. Mit dem Wegbrechen der Produktionsverhältnisse der DDR und der Transformation in die privatkapitalistische Produktion – in der annektierten DDR hieß das zuallererst Schließung der Produktionsstätten – kamen schnell all die typischen Begleiterscheinungen des »althergebrachten« Lohnarbeitsverhältnisses wieder. Doch wurden nicht alle Teile der Arbeiterschaft der DDR mitgerissen; überall fanden sich Kollegen zusammen, die miteinander um ihre Betriebe kämpften. Auch wenn diese Kämpfe mit einigen Ausnahmen im Ökonomischen hängenblieben, hat sich bis heute in den letzten größeren DDR-Betrieben eine Gemeinschaftlichkeit und eigene Herangehensweise an die Probleme erhalten, die zwar im Vergleich mit der Zeit vor der Annexion nur Rudiment ist, sich jedoch von den Verhältnissen im Westen scharf abgrenzt.

Man war in der DDR sehr bestrebt, auch Kollegen mit niedrigem Ausbildungstand, sozial labilen Menschen mit fehlender Qualifikation und älteren Kollegen, die nicht mit der Rente aus dem Betrieb ausscheiden wollten, eine Möglichkeit zu geben, sich in die Produktion einzubringen. Hierfür wurden geeignete Arbeitsplätze geschaffen, und gerade diese Schwächeren, die bis dahin ihre Stütze in den Kollektiven fanden, fielen nun ins Bodenlose. Alkoholismus und Verwahrlosung waren oft die Endstation dieser Talfahrt; die Aspekte der Verelendung sind bereits so umfassend, dass sie sich in bemerkenswert üppiger Statistik niederschlagen. Psychoterror ging einher mit massenhafter Aberkennung von Dienstjahren und Qualifikationen, mit Aberkennung der Existenzberechtigung ganzer Produktions- und Forschungsbereiche, ganzer Lebensleistungen. In vielen Kombinaten wechselten vor der endgültigen Liquidation mehrmals die neuen Besitzer.

Oft verzichteten die Arbeiter auf Lohn im Gegenzug für falsche Versprechungen. Nach dem Rauswurf ging die Hatz weiter. Dass man jetzt nur noch irgendetwas machte, um zu überleben, und nicht mehr einem Beruf nachging, war eine Umstellung, die Einflussnahme und Engagement abtötete und durch Gleichgültigkeit ersetzte.

In den ersten Jahren wurden noch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen über den Osten ausgeschüttet, um die Hochzeit der Massenentlassungen zu entschärfen, denn an vielen Orten in der annektierten DDR brodelte es gewaltig gegen die Treuhand und ihre Auftraggeber. ABM und Umschulungsmaßnahmen wurden in den Folgejahren nach und nach gedrosselt, die ABM ganz eingestellt, was nun noch mehr Arbeitslose im Osten in den sozialen Abstieg trieb. Konzentriert in der staatlichen Verwaltung, in den wissenschaftlichen Instituten und kulturellen Einrichtungen der DDR und den Verwaltungsabteilungen der Betriebe kam es zusätzlich zu den ohnehin unerträglichen Auflösungsprozessen der Kollektive zu Kampagnen gegen Mitarbeiter und vermeintliche Mitarbeiter des Staatsapparats. Drinnen wurden die Fragebögen ausgeteilt, die Zwietracht und Spaltung säten, und draußen liefen die medialen Hetzkampagnen auf Hochtouren. Nicht selten wählten Betroffene den Freitod oder wanderten in andere Staaten aus. Dort wurden gerade Spitzenmediziner und Naturwissenschaftler aus der DDR mit Kusshand empfangen.

Neben den Folgen der Deindustrialisierung auf die Leute im Osten, also den Begleiterscheinungen, sollte in der Analyse die direkte Diskriminierung der Menschen in der annektierten DDR unterstrichen werden. Nicht nur, dass sie, ohne gefragt zu werden, abgespeist mit falschen Versprechungen, zwangseingebürgert wurden und sich über Nacht in einem anderen Staat wiederfanden, ab dem 3. Oktober fast 800 neue Gesetze übergestülpt bekamen, die sie nicht kannten, werden sie auch und im wachsenden Maße unverhüllt und gesetzlich legitimiert zu Menschen zweiter Klasse herabgestuft. Die Leute in der annektierten DDR müssen länger arbeiten für weniger des schlechten Lohns, der im Westen gezahlt wird, ihnen steht weniger Nahrung zu, wenn sie aus der Lohnarbeit in Hartz IV gespieen werden, sie bekommen weniger Rente, es greifen andere Verjährungsfristen, auch das Rückwirkungsverbot ist für sie aufgehoben. Vor Gericht sind sie den Brüdern und Schwestern im Westen also nicht gleichgestellt und somit eines der grundsätzlichsten bürgerlichen Rechte beraubt. Obwohl es schon viel aussagt, dass die Angleichung der Arbeitseinkommen seit 1996 bei 77%27 stagniert, bringt ein Blick auf die Entwicklung des Lohndumpingsektors in Ost und West einen neuen Eindruck von der Dimension dieser Ungleichbehandlung. Schon 2006 standen den 19% Lohndumpingarbeitern im Westen 41% im Osten gegenüber. Der durchschnittliche Niedriglohn im Osten betrug 2006 4,86 Euro und ist somit gegenüber 2000 noch abgesunken.28

Näher eingehen möchte ich auf die Lage der Frauen in der annektierten DDR, speziell die Lage kurz nach der Annexion bis etwa 1995. Ende Dezember 1993 sind mit 64,1% fast zwei Drittel aller Arbeitslosen auf dem Gebiet der DDR Frauen, erschreckende 84% der Langzeitarbeitlosen sind Frauen. Entsprechend lag die Arbeitslosenquote der Frauen vier Jahre nach dem Anschluss um 10,3 Prozentpunkte29 höher als die der Männer. Denn gerade in den Wirtschaftszweigen der DDR mit hoher Frauenbeschäftigungsquote (Textilindustrie, Landwirtschaft) kam es zu gewaltigen Massenentlassungen im Zuge der Zerstörung der ostdeutschen Industrielandschaft und der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften. So waren 1993 70% aller Frauen in den ländlichen Regionen Brandenburgs arbeitslos. Die hilflosen Maßnahmen des Staats gegen die im System Kapitalismus angelegte Massenarbeitslosigkeit entspricht der skizzierten frauenfeindlichen Ausrichtung. Frauen wurden weniger in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen vermittelt. 1990 lag ihr Anteil sogar nur bei einem Drittel. Hinzu kommt, dass die Mehrheit der angebotenen ABM-Stellen auf »Männerberufe« ausgerichtet war.

Ältere Frauen sind besonders von Erwerbslosigkeit betroffen.30 Dass es für sie keine Chance mehr auf dem Arbeitsmarkt gibt, räumt nun auch schon das Arbeitsamt selbst ein.

60% aller erwerbslosen Frauen sind unter 34 Jahre alt, denn diese müssen häufig noch kleine Kinder versorgen.

Betreuung der Kinder ist mit dem Wegfall der sozialen Strukturen der DDR ein ungesichertes Feld und die Kinder zur »Behinderung«, damit zum »Kostenfaktor« herabgesetzt. »Frauen, die sich in der DDR für Kinder entschieden haben oder sich entschieden haben, Kinder alleine großzuziehen, sehen sich jetzt vielfach durch die westdeutsche Sozialpolitik mit enormen Problemen konfrontiert. […] Mittlerweile zählen arbeitslos gewordene Mütter, Alleinerziehende und ältere Frauen zu den ›neuen Risikogruppen‹ in Ostdeutschland; sie finden nur schwer wieder Arbeit und sind im besonderen Maße von Armut bedroht. […] Auch die Auswirkungen auf alleinerziehende Frauen sind bereits messbar. Schon im Spätherbst 1990 war jede/r zehnte SozialhilfeeempfängerIn in Ostberlin eine alleinerziehende Mutter mit Kindern bis zu sieben Jahren.«31

Nach einer Studie des DGB32 bezogen bereits 2008 43% aller Alleinerziehenden in der BRD Hartz IV, so viele wie in keiner anderen Bevölkerungsgruppe. 95% von ihnen sind Frauen. Nicht etwa »blinde Marktgesetze«, wie gern behauptet, sondern der Staat mit seinen Gesetzen fördert gnadenlos die Benachteiligung der Frauen im Zuge des Anschlusses. Allein folgendes Beispiel aus einer Ausarbeitung von Jenny Niederstadt33 zeigt auf, wie gesetzliche Diskriminierung der Frauen gerade im Osten greift: »Geben sie auf dem Arbeitsamt an, dass die Betreuung ihrer Kinder nicht gesichert ist, werden sie entsprechend dem westdeutschen System zur Hausfrau erklärt, gelten nicht als arbeitslos. Der entscheidende Hebel dieser Diskriminierung34 ist § 103 AFG (Arbeitsförderungsgesetz) zur ›Verfügbarkeit‹, nach dem Mütter für den Arbeitsmarkt nur dann ›frei‹ und ›verfügbar‹ sind, wenn die Versorgung von Hausarbeit und Kinderbetreuung gesichert sind [sic]. Diese Klausel gilt ausschließlich für Mütter und nicht für Väter. Trifft das nicht zu, so haben Frauen keinen Anspruch auf AFG-Leistungen wie Arbeitslosengeld und -hilfe oder auf finanzielle Unterstützung bei Fortbildung, Umschulung und ABM. […] Die zuvor staatliche garantierte Kinderbetreuung wird abgeschafft, ist sie dann folglich nicht mehr gesichert, werden Mütter nicht mehr unterstützt. Eine Falle, wie man sie sich besser nicht ausdenken könnte.«35

Die Frauen Ostdeutschlands – und dies betrifft auch die kurz vor und lange nach der Annexion Geborenen – sahen und sehen es weiterhin nicht ein, sich ihr Recht auf gleichberechtigte Teilhabe an erwerbstätiger Verwirklichung, das in der DDR den bis jetzt höchsten Grad gefunden hatte, von den Verhältnissen der BRD nehmen zu lassen. 1993 erklärten 90% der arbeitslos geworden ostdeutschen Frauen, dass sie wieder arbeiten wollen.36

Zum einen gehen die ostdeutschen Frauen in den Westen, um wenigstens ihre Chance auf einen Arbeitsplatz zu erhöhen, zum anderen reagierten und reagieren sie auf den Angriff der Besatzer auf ihr Recht mit der Verweigerung, Kinder zu bekommen. Das geht bis hin zu der Tatsache, dass sich Frauen im Zuge der ersten Annexionsjahre für vermeintlich bessere Berufschancen vermehrt sterilisieren ließen. Die Zahl der Sterilisationen stieg zwischen der Vorwende-Zeit und 1992 in Ost-Berlin um das Siebzigfache. 1989 wurde beispielsweise an der Medizinischen Akademie Magdeburg an acht Frauen ein solcher Eingriff vorgenommen, 1991 waren es 1.200.37

Die vermehrten Auswanderungen der Frauen und ihre Entscheidung gegen eine Schwangerschaft führten im Osten zu einem Geburtenknick von historischem Ausmaß. Abgesehen vom Vatikan wurden nun in keinem Staat der Welt so wenig Kinder geboren wie auf dem Gebiet der annektierten DDR. Brachte 1980 jede ostdeutsche Frau fast zwei Babys auf die Welt (dies war übrigens die höchste Geburtenziffer, die im letzten Vierteljahrhundert in Deutschland überhaupt registriert wurde38), gingen jetzt im Zuge der Annexion die Geburtenziffern um 60%39 zurück. Auch dieser Aspekt zwingt die Analyse dazu, die Wirkung der Annexion auf die Bevölkerung mit einem existenziellen Schock gleichzusetzen, der die Grundfeste der ostdeutschen Gesellschaft erschütterte. Einen Geburtenratenrückgang in dieser Dimension findet man sonst lediglich im Zuge gesamtgesellschaftlicher Katastrophenerlebnisse. So erfolgte im Zuge des 1. Weltkriegs 1914-1918 ein ähnlicher Rückgang der Geburtenrate.40 Nach dem sprunghaften Absturz der Geburtenziffer 1990-1993 auf den historisch niedrigen Wert 0,7 hat sich der Osten, was die Geburtenrate betrifft, heute etwa auf westdeutschem Niveau eingepegelt, das nicht mal die einfache Reproduktion deckt.41

Der demographische Werdegang der DDR-Bezirke Neubrandenburg und Rostock, heute Mecklenburg-Vorpommern, legt stellvertretend für alle ländlichen Gebiete der DDR die Dimension dieses Absturzes offen. Sie stellten vor der Annexion die jüngste Region Gesamtdeutschlands, heute nach der sogenannten »friedlichen Revolution« und den versprochenen »blühenden Landschaften« ist Mecklenburg-Vorpommern die jugendärmste Region der BRD.

Dies zeigt auch auf, wie der Jahrzehnte andauernde schwere Kampf der DDR um die Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Stadt und Land und um die Industrialisierung und Versorgung der Agrargebiete wie z.B. der Bezirke Neubrandenburg und Rostock mit Kultureinrichtungen und modernen Wohnungen binnen wenigen Jahren durch die Annexion rückgängig gemacht wurde. Diese Gebiete versinken seit 25 Jahren im totalen Stillstand.

Selbst die bürgerliche Statistik weist auf die gesunkene Lebenserwartung junger Männer in Mecklenburg-Vorpommern hin und begründet sie mit dem im Bundesdurchschnitt dreimal so hohen sogenannten »kritischen Alkoholkonsum« und den bundesweit traurigen Rekorden an Übergewicht und Kreislaufkrankheiten. Begründet ist beides mit dem sozialen Abstieg der ganzen Region, was auch die bürgerliche Analyse eingesteht.42 Der Umfang des Elends im Osten wird verdeutlicht, wenn er sich schon in diesem Ausmaß in der bürgerlichen Statistik niederschlägt. Ostdeutschland als soziale Krisenregion an sich wird hier sichtbar und herausgerissen aus dem eingeschränkten Sichtfeld der auf den Einzelfall reduzierten Berichterstattung der bürgerlichen Medien.

Neben den meisten Großstädten der DDR, die bis heute alle massive Einwohnerverluste hinnehmen mussten, manche gar um ihr Stadtrecht fürchten, sind es gerade die ländlichen Gebiete, die unter der Völkerwanderung aus dem Osten in den Westen leiden. Dies geht so weit, dass in den nächsten Jahren nicht wenige Ortschaften der annektierten DDR quasi geschlossen werden müssen. Die Versorgung der wenigen noch verbliebenen Einwohner mit der nun völlig überdimensionierten Infrastruktur ist nicht mehr bezahlbar.43

Dies ist nur ein Beispiel für die schockwellenartige Ausbreitung der Auswirkungen der Entvölkerung der annektierten DDR durch Wegzug und Absturz der Geburtenzahl. Wie sich diese Entwicklung auf kommende Generationen rückkoppelt, zeigt ein Blick auf den Schulbildungssektor der DDR-Bezirke Karl-Marx-Stadt und Dresden, heute Bundesland Sachsen.

»Der Geburtenknick nach dem Mauerfall, als die Kinderzahl je Frau in den neuen Bundesländern in kurzer Zeit von 1,7 (1988) auf 0,7 (1994) sank, schlägt eine Schneise durch die gesamte ostdeutsche Bildungslandschaft. Denn sechs Jahre später gab es nur noch halb so viele Erstklässler. Die Schulen blieben halb leer, seit 1995 mussten allein in Sachsen 650 Schulen ihren Betrieb einstellen, über 7 000 Lehrerstellen wurden im Freistaat gestrichen. Nach heftigen Elternprotesten und -Lehrer-Warnstreiks im Mai 2005 will die sächsische Staatsregierung nun weniger Schulen schließen als ursprünglich geplant. Dennoch werden bis Ende 2008 etwa 80 weitere Schulen aufgegeben. Die Landesregierung beruft sich bei den Schließungen auf die nach wie vor sinkenden Schülerzahlen. Gab es 1995 noch etwa 630 000 Jugendliche an allgemeinbildenden Lehranstalten, so waren es 2004/2005 gerade noch 366 000. Nach Angaben der Kultusministerkonferenz wird erst 2009 mit rund 303 000 Schülern der Tiefpunkt erreicht sein.44 […] Schon heute brauchen manche Kinder mehr als eine Stunde, um per Bus zur Schule zu kommen. Zudem hat der Verlust der Lehranstalten für kleine Gemeinden fatale Folgen. Denn wo nach den Lebensmittelläden, der Post und der Bankfiliale auch noch die Schule schließt, packen immer mehr Familien für immer die Koffer.«45

Wurde früher von Seiten der Politik und Wirtschaft gebetsmühlenartig der vor der Tür stehende Aufschwung Ost beschworen, mehren sich heute die Stimmen, die meinen, dass ja schließlich jedes reiche Land sein Mezzogiorno habe. Ernsthaft wird in Erwägung gezogen, gerade die ländlichen Gebiete der annektierten DDR, kontrolliert durch die Belohnung des Wegzugs und die Einstellung von Fördermitteln zugunsten entstehender Naturreservate entvölkern zu lassen.

Bis 2050 weisen aktuelle Prognosen für Ostdeutschland einen weiteren Rückgang der Erwerbstätigen um fast 60% aus, in der annektierten DDR wird es dann nur noch knapp vier Millionen Erwerbspersonen geben.46

»Dies alles ist mit erheblichen negativen Konsequenzen für die wirtschaftliche, soziale, ökologische und kulturelle Entwicklung verbunden. […] Die betreffen das Wirtschaftswachstum und die ökonomische Reproduktion ebenso wie die Infrastruktur, das Bildungswesen, die Kultur, den Arbeitsmarkt, die Einkommensverhältnisse, die Finanzlage, die öffentlichen Haushalte, die privaten Vermögen und die Transferzahlungen. Letztlich alles.«47

Das ohnehin niedrige BIP der sogenannten »neuen Bundesländer« wird in diesem Zeitraum hinter die Marke der 90er Jahre fallen.48 Der Bevölkerungstand wird unter die Zehn-Millionen-Grenze stürzen, was die Halbierung der Population im Osten innerhalb eines Jahrhunderts bedeuten würde. Seit 1989 wurde sie bereits um ein Drittel reduziert. Diese und andere Einschätzungen wurden nicht nur vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung herausgegeben, sondern sind in allen nennenswerten Publikationen zu diesem Thema zu finden.

Obwohl diese Zahlen selbst auf mich den Eindruck der Überdramatisierung machen, ist ihre reale Grundlage schon angesichts der Tatsache nicht von der Hand zu weisen, dass die massiven Transferleistungen, die das katastrophal niedrige soziale, wirtschaftliche wie demographische Niveau nur mit Mühe und Not aufrecht halten, in den kommenden Jahren reduziert und eingestellt werden.

»Die wirtschaftliche Entwicklung und der Aufbau Ost, insbesondere die Investitionen, die Einnahmen der öffentliche Haushalte der Länder und Kommunen und die Sozialleistungen, sind nach wie vor von West-Ost-Finanztransfers und von westdeutschem und ausländischem Kapitaleinsatz abhängig.«49 Eine beträchtliche Reduzierung dieser Gelder für die nächsten Jahre und letztlich ihre Einstellung bis 2019 ist beschlossen.

Dass man die Transferleistungen mit dem Wissen einstellt, dass die ostdeutsche Wirtschaft von diesen vollkommen abhängig ist, es seit 10 Jahren keine nennenswerte Entwicklung einer eigenen Tragfähigkeit gegeben hat, es dort keine Kapazitäten gibt, dieses dann entstehende riesige Loch zu stopfen, und nun gar behauptet, dass es den Osten nicht mehr gäbe, sondern nur ein paar schwache Regionen hier und dort, ist auch Beleg dafür, dass der Osten aufgegeben wird.

Zusammenfassend zur Prognose der wirtschaftlichen, demographischen wie sozialen Entwicklung in der annektierten DDR ist festzustellen, dass es in den Kernbereichen zu weiteren massiven Reduzierungen kommen wird.

Sinken werden also weiterhin:

  • »Die Bevölkerung – Kinder, Jugendliche und insbesondere die Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter (Erwerbsfähigenpotenzial)

  • Arbeitskräfteangebot, Fachkräfte

  • Einrichtungen der technischen und sozialen Infrastruktur, u.a. Kapazitäten der Schulen, der Berufsbildung, gesundheitliche Versorgung, des Verkehrs und der Kultur

  • In den ländlichen und peripheren Regionen weit überproportionaler Rückgang der Bevölkerung und noch stärkerer Rückgang der Erwerbstätigen, absolute Reduzierung der Wirtschaftsleistung, absoluter Rückgang der Kaufkraft der Bevölkerung, absolute Verringerung der infrastrukturellen Kapazitäten, Wohnungen und quantitative Versorgungskapazitäten

  • Die Einnahmen der öffentlichen Haushalte – besonders stark in den ländlichen und peripheren Regionen

  • Die Kaufkraft der Bevölkerung: im erwerbsfähigen Alter durch absoluten Rückgang der Erwerbstätigen, im Renten-alter infolge spürbarer geringerer Rentenhöhe der Neurentner«50

Schlussfolgerungen

Der Ansatz, mit dem Verbrechen der Annexion der DDR als einem solchen umzugehen, wie er in den ersten Jahren der Annexion von einigen Organisationen verfolgt wurde, ist heute nur noch selten Thema in der ostdeutschen Linken – und in der westdeutschen schon gar nicht. Dies ist bedauerlich; man drückt sich damit eben nicht um ein unappetitliches Thema, sondern lässt eine potentielle Waffe ungenutzt verrosten. Ein Loslösen von dieser falschen Entwicklung, dem Propagandafeldzug der bürgerlichen Medien auf den Leim zu gehen und sich von den mannigfaltigen Widersprüchen und Fehlentwicklungen in der DDR ins Bockshorn jagen zu lassen, scheint ein schier unmögliches Unterfangen zu sein.

In den meisten von mir angeführten Publikationen wird eine Antwort auf das »Wie weiter?« in Form umfangreicher Kataloge gereicht, die listen, was alles in Ostdeutschland getan werden muss, um die verheerenden Prozesse aufzuhalten und vielleicht sogar irgendwann mehr als Stagnation zu erreichen. Von einem Aufholen und Angleichen der Verhältnisse der annektierten DDR an die der annektierenden BRD geht dabei schon keiner mehr aus. Doch alle diese Vorschläge wie z.B. »Bekämpfung der Arbeitslosigkeit durch Schaffung von Arbeitsplätzen«, »Investitionen in Forschung und Entwicklung« oder »Chancen in der ökologischen Landwirtschaft«, »Schaffung innovativer Industrien mit dem Herzstück Energiewende« usw. laufen letztlich auf das Gleiche hinaus.

Man zerbricht sich anscheinend gern den Kopf der Besatzer und gibt Tipps, wie man das anstehende Verrecken der Kolonien aufhalten könnte. Busch/Kühn/Steinitz kommen nach dem Herunterrasseln ihres durchaus sympathischen Ideenkatalogs, ich nenne ihn mal »Aufbau Ost, der nächste Versuch«, spürbar enttäuscht zu folgender Aussage: »Die Bereitschaft der politischen Klasse der Bundesrepublik, eine solche Aufgabe zu übernehmen, ist gegenwärtig allerdings gering einzuschätzen.«51

Was wohl den Titel »Untertreibung des Jahres« einbringen dürfte. Gemacht wird, was Profit bringt oder wenigstens den Profit der Konkurrenz schmälert. Die Deindustrialisierung der DDR war kein »Fehler« oder sowas, sondern zwingend logische Vorgehensweise des deutschen Imperialismus. Auch weil er gar nicht in der Lage ist, mit solchen konzentrierten Produktionseinheiten wie sozialistischen Kombinaten umzugehen. Warum sollte es bei den Herrschenden ein Interesse an der Errichtung neuer Produktionsstätten im Osten geben? Die Produktionsstätten der DDR wurden vernichtet, auch weil die permanente Überproduktionskrise des Kapitalismus die kapitalistische BRD nicht verschont. Die Lager sind voll, selbst die Produktionsstätten im Westen werden weit unter den Kapazitäten gefahren. Selbst wenn über Nacht ein wundervolles soziales Interesse der westdeutschen Kapitalisten an der Schaffung von Arbeitsplätzen für die arbeitslosen Ostdeutschen vom Himmel fallen würde, ist das kapitalistische System gar nicht mehr in der Lage, das ihm zur Verfügung stehende Lohnarbeiterpotential auszubeuten. Die Kapitalisten müssen mehr von denjenigen ernähren, die ihnen eigentlich den Profit erwirtschaften sollen. Ein Problem der Kapitalisten und, entgegen den gutgemeinten Vorschlägen für eine sozial abgefederte Annexion der DDR, keins, das wir in diesem System zu lösen hätten oder könnten.

Innerhalb des imperialistischen Systems gibt es für den Osten keine Aussicht auf wirtschaftliche und soziale Gleichstellung. Ganz im Gegenteil: Die Angleichung, die stattfindet, steht unter entgegengesetztem Vorzeichen. Der Westen ist, was Sozialabbau betrifft, dem Osten auf den Fersen. Weitere massive Verwerfungen sind in der annektierten DDR zu erwarten, soziale Aufstände, weiteres Erstarken der faschistischen Bewegung, aber auch eine weitere Abgrenzung zum Westen mit breiterer Unterstützung der Linkspartei durch die Bevölkerung ist möglich – es gibt viele Optionen.

Dass die Verschärfung der hier angedeuteten Kontraste Reaktionen der Bevölkerung hervorrufen wird, ist jedenfalls sehr wahrscheinlich. Die Angst des Bürgertums vor den weiteren Entwicklungen ist schwer übersehbar. Der viel beachtete Fernsehfilm »Die Grenze« eröffnete einen kleinen Blick auf das, was man sich an Perspektiven im Osten ausrechnet. Natürlich ist ein Film kein guter Beleg für eine Tendenz. Ungleich deutlicher offenbart sich die Hilflosigkeit im ständig neue Blüten treibenden, groß angelegten Versuch, die DDR mit Stumpf und Stiel auszurotten – um Gedanken nicht nur an ein Gegenmodell zu zerstreuen, sondern auch das Einfordern selbst bürgerlicher Reformen zu verhindern.

Genau hier jedoch liegt auch der Hebelpunkt für unsere Arbeit in Ostdeutschland, unsere Arbeit gegen den Hauptfeind im eigenen Land, den deutschen Imperialismus. Mit jeder politischen Frage, die im Osten aufgegriffen wird, muss immer der Verweis auf die Annexion mitschwingen und der Rückblick auf das Erreichte im Osten. Ja, unsere Agitation und Propaganda muss sich auf die besonderen Kampfbedingungen im Osten ausrichten. Jedem Versuch der Bourgeoisie, die DDR zu diskreditieren, muss begegnet werden, und dies endlich offener gegenüber der Bevölkerung, als es bisher geschieht. Hier heißt es, endlich raus auf die Straße mit der Thematisierung der Annexion. Denn wir wissen aufgrund mangelnder Erfahrungen schon gar nicht mehr, wie sich das Bewusstseins der Leute zur DDR in den letzten 25 Jahren entwickelt hat.

Wir haben die Pflicht, dieser Bevölkerung bei all ihren Widersprüchen ihre Würde zurückzugeben und immer wieder den Erfahrungen so vieler im Osten gerecht zu werden, den Erfahrungen, zwei Systeme kennengelernt zu haben. Die Leute wissen von der Friedfertigkeit des einen und dem Zerstörungspotential des anderen, des Systems der BRD, sie haben eine der größten Zerstörungsaktionen des deutschen Imperialismus seit dem 2. Weltkrieg miterlebt: die Annexion der DDR.

Dass der grundlegend andere Bezug zur DDR, der selten ein durchweg positiver und fortschrittlicher ist, sich grundlegend vom Antikommunismus der Gesellschaft im Westen unterscheidet, sich nicht von Generation zu Generation »verwächst«, ist nicht erst 25 Jahre nach der Annexion ersichtlich. Er wird weitergegeben durch die Generationen, und durch die Kontraste zwischen Ost und West wird er immer wieder an die Oberfläche gespült.

Wie anders ist die Sorge der herrschenden Klasse um ein möglichst hohes Maß an Anti-DDR-Hetze an den Schulen zu erklären? An die Schulen gehen nicht mehr diejenigen, die die DDR aufbauten und noch am ehesten einen positiven Bezug dazu haben, auch nicht ihre Kinder, die einen antifaschistischen Staat gegen Bananen und leere Versprechungen drangegeben haben, mit Anti-DDR-Hetze sollen nun auch die Enkel bearbeitet werden.

Auch deshalb haben wir zu unterstreichen, dass jetzt nicht die Zeit und hier nicht der Ort ist, uns über dies oder jenes, was in der DDR danebengegangen sein soll, öffentlich zu balgen. Die Errungenschaften und Siege der DDR sind für uns und unsere öffentliche Arbeit gegen den Hauptfeind entscheidend. Diese sind zu nutzen als Angriffspotential und Mindestforderungskatalog gegen die Reaktion – und eben nicht als sympathische Relikte für tränenfeuchte Rückblicke.


  1. »Die Anwendung von Art. 23 würde praktisch auf eine Annexion der DDR hinauslaufen.« Philip Zelikow / Condolezza Rice: »Germany Unified and Europe Transformed«, Cambridge 1995; Übersetzung: »Sternstunden der Diplomatie«, Berlin 1997 

  2. Daniel Brössler: »Ostdeutsche in Auslandseinsätzen: Aus Not zur Bundeswehr«, Sueddeutsche.de, 21. Juli 2009 

  3. Busch, Ulrich: Zehn Jahre Vereinigungspolitik: Kritische Bilanz und humane Alternativen, trafo-Verlag, Berlin 2002 

  4. Inge Viett, Referat, gehalten auf der Veranstaltung der Antifaschistischen Revolutionären Aktion Berlin, 17. Januar 2010, nachzulesen unter: arab.antifa.de/index.php/themen/klassenkampf/385-texte-zur-ddr-veranstaltung 

  5. Gerhard Heske, »Bruttoinlandsprodukt, Verbrauch und Erwerbstätigkeit in Ostdeutschland. Neue Ergebnisse einer volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung«, Zentrum Historische Sozialforschung Köln, HSR Supplement Berlin Nr. 17, Köln 2005 

  6. Heske, Bruttoinlandsprodukt … 

  7. Zu diesem Zeitpunkt lag keine Europarangliste aus dem Jahr 1989 in Euro (Preise 1995) vor, deswegen greifen wir hier auf die Europarangliste 2000 des Statistischen Bundesamtes zurück. 

  8. Heske, Bruttoinlandsprodukt … 

  9. ebd. 

  10. ebd. 

  11. ebd. 

  12. ebd. 

  13. »Mit 23 F/E-Beschäftigten pro 1 000 Industriebeschäftigten war die DDR im RGW führend und lag etwa gleichauf mit westlichen Industrieländern … Pro 100 000 Einwohner wurden 66 Patente angemeldet, in der BRD waren es 52 … International anerkannte Innovationen waren u.a. die Malimo-Wirktechnik, der Braunkohlen-Hochtemperaturkoks, die Elektronenstrahltechnik, die Multispektralkamera, die Bogenrotations-Offsetmaschine sowie der Flachstrickautomat oder das Polyurethan. Wertvolle Erfindungen wurden ferner auf den Gebieten Schweiß-, Laser-, Mess- und Automatentechnik, Feinmechanik-Optik, Werkzeugmaschinen-, Textilmaschinen-, Schienenfahrzeugbau, Polygraphie, technische Keramik, Substitutions- und Materialwirtschaft und Umwelttechnik gemacht.« In: Gerhard Kehrer, Industriestandort Ostdeutschland. Eine raumstrukturelle Analyse der Industrie in der DDR und in den neuen Bundesländer, Berlin 2000 

  14. Heske, Bruttoinlandsprodukt … 

  15. Siegfried Wenzel: »Was war die DDR wert? Und wo ist dieser Wert geblieben? Versuch einer Abschlussbilanz«, Berlin 2000 

  16. Heske, Bruttoinlandsprodukt … 

  17. Gerhard Beil, aus: junge Welt, 10. April 2010: »Jeder weiß, dass das Stuss ist« 

  18. Einen sehr guten Einstieg in die Thematik erhält man durch das 1996 in Berlin erschienene Buch »Die Liquidatoren« von Ralph Hartmann. 

  19. Busch/Kühn/Steinitz: »Entwicklungen und Schrumpfungen in Ostdeutschland: Aktuelle Probleme im 20. Jahr der Einheit«, Hamburg 2009 

  20. Busch/Kühn/Steinitz, Entwicklungen … 

  21. Heske, Bruttoinlandsprodukt … 

  22. Andre Steiner: »Von Plan zu Plan: Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR«, Berlin 2004 

  23. Busch/Kühn/Steinitz, Entwicklungen … 

  24. ebd. 

  25. Heske, Bruttoinlandsprodukt … 

  26. Busch/Kühn/Steinitz, Entwicklungen … 

  27. ebd. 

  28. ebd. 

  29. Bundesanstalt für Arbeit, 1994 

  30. Stefan Bender / Wolfgang Meyer: »Individuelle Arbeitsmarktchancen und berufliche Anforderungen im Transformationsprozeß: Analysen mit Daten des Sozial-ökonomischen Panels (Ost)«, 1993 

  31. Katharina Belwe: »Arbeitslosigkeit in der DDR bzw. in den fünf neuen Bundesländern im Jahr 1990«, 1991, in: Deutschland Archiv 24 

  32. Studie des DGB, Welt Online, 02.12.2008 

  33. Jenny Niederstadt: »Vereinigung zu Lasten der ostdeutschen Frauen«, in Wolfgang Dümcke/ Fritz Vilmar: »Kolonisierung der DDR – Kritische Analyse und Alternativen des Einigungsprozesses«, Münster 1995 

  34. Uta Gerhard: »Lebenslagen, Armut und Unterversorgung von Frauen«, 1990, in: Informationen für die Frau 1989-90 

  35. Niederstadt, Vereinigung… 

  36. Institut für angewandte Sozialwissenschaften (Infas): »Frauen in den neuen Bundesländern im Prozeß der deutschen Einigung«, Bad Godesberg 1991 

  37. Spiegel, 38/1993: »Lieber ein Hund. In Ostdeutschland bleibt der Nachwuchs aus« 

  38. Müller, Uwe: »Supergau Deutsche Einheit«, Hamburg 2006 

  39. Die Zeit: »Der Familienknick. Die Ostdeutschen stecken im Einigungsschock«, 03.09.1993 

  40. Spiegel 39/1993: »Das Glitzern in der Wüste. Spiegel-Autor W. Bittorf über die Widersprüche in Deutschland« 

  41. Busch/Kühn/Steinitz, Entwicklungen … 

  42. Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung: »Die demographische Lage der Nation: Wie zukunftsfähig sind Deutschlands Regionen?«, München 2007 

  43. Busch/Kühn/Steinitz, Entwicklungen … 

  44. KMK: Veröffentlichungen Nr. 173 01/205 

  45. Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung: Die demographische Lage … 

  46. Busch/Kühn/Steinitz, Entwicklungen … 

  47. ebd. 

  48. ebd. 

  49. ebd. 

  50. ebd. 

  51. ebd.