Konferenz
»Der Haupt­feind steht im eigenen Land«

Die jährlich stattfindenden Konferenzen gegen den deutschen Imperialismus sollen den politischen Austausch und die Zusammenarbeit derjenigen revolutionären Kräfte fördern und vorantreiben, die in der Arbeiter- und demokratischen Bewegung für die Linie »Der Hauptfeind steht im eigenen Land« kämpfen wollen.

Kriegsschauplätze Kosovo und Kaukasus

Albertine Schuman (Autorin)

Mai 2009

Kosovo und Kaukasus haben zunächst einmal geographisch nichts miteinander zu tun, und ich werde sie auch erstmal im Wesentlichen getrennt behandeln. Aber sie sind natürlich Bestandteil einer neuen deutschen Großraum-Politik, wie sie sich herausgebildet hat nach der Konterrevolution, insbesondere nach der Einverleibung der DDR.

Ich will vielleicht vorweg sagen, dass ich mich auf die Hauptakteure beschränken werde, nämlich Deutschland, USA und Russland. Das Ganze ist natürlich um einiges komplizierter, z.B. muss man auch die innereuropäischen Widersprüche einbeziehen, von denen hier weitestgehend abgesehen wird.

Wir schreiben das Jahr 1991: Die DDR ist einverleibt, im Pentagon kommt eine Studie zur Neubewertung der Weltlage heraus, in der Deutschland als »new global enemy« (neuer globaler Feind) bezeichnet wird. Es geht dabei um den Aufstieg Deutschlands, der zu erwarten ist nach der Einverleibung der DDR. Brzeszinski gibt ein Memorandum heraus, wonach die Eindämmung Deutschlands in Zukunft eine zentrale, strategische außenpolitische Orientierung der USA sein müsse – neben zahlreichen anderen Kriegsschauplätzen, die man anvisiert. Es handelt sich geographisch um den so genannten eurasischen Bogen, von Mitteleuropa über das Schwarze Meer bis zum Kaspischen Meer, Zentralasien bis nach China, der als neu zu ordnende hegemoniale Sphäre angesehen wird.

Wir haben spiegelbildlich dazu vom deutschen Imperialismus, namentlich Klaus Naumann, von 1991-99 Generalinspekteur der Bundeswehr, das Diktum von 1992 – noch bevor die Verteidigungspolitischen Richtlinien in die Welt gesetzt wurden – wonach Deutschland sich nun sicherheitspolitisch neu orientieren müsse, konkret: das Einflussgebiet müsse von Marokko bis Indonesien reichen. Es handelt sich dabei, wenn man sich die Karte anschaut, ungefähr um den gleichen eurasischen Bogen, an den Deutschland sich da machen will.

Das ist auch das Wesentliche, was die beiden Kriegsschauplätze miteinander verbindet: Es sind relativ kleine Staaten, die wir uns hier anschauen, der eine auf dem Balkan, der andere im Kaukasus. Beide sind Pforten zu Vorder- und Zentralasien, also Kosovo in erster Linie zur Türkei und zum Nahen Osten und Kaukasus zu Zentralasien bis nach China.

Ursachen des Kosovo-Krieges 1999

Beim Kosovo muss ich ein bisschen historisch ausholen. Das hängt damit zusammen, dass gemäß Aussagen deutscher Strategen – unter anderem des damaligen Verteidigungsministers Scholz, getätigt auf einer Tagung in Fürstenfeldbruck 1991, die die Bundeswehr gemeinsam mit dem Arbeitgeberverband veranstaltet hat – Jugoslawien als eine besonders kritische Region gilt, weil es hier darum gehe, nicht nur den Zweiten Weltkrieg zu bewältigen, sondern auch den Ersten.1

Ich zitiere das einmal im Original, das hört sich so an: »Der Jugoslawienkonflikt hat unbestreitbar fundamentale gesamtdeutsche Bedeutung. Wir glauben, dass wir die wichtigsten Folgen des Zweiten Weltkriegs überwunden und bewältigt hätten [Einverleibung der DDR – A.S.], aber in anderen Bereichen sind wir heute damit befasst, noch die Folgen des Ersten Weltkrieges zu bewältigen. Jugoslawien ist, als eine Folge des 1. Weltkrieges, eine sehr künstliche, mit dem Selbstbestimmungsrecht nie vereinbar gewesene Konstruktion.«

Also – Jugoslawien hätte es eigentlich nie geben dürfen. Warum nicht, fragt man sich. Kosovo als zentrale Region auf dem Balkan, das so genannte Kosovo Polje, das Amselfeld, spielt nicht nur historisch als Kriegsschauplatz eine wesentliche Rolle, sondern bereits eine strategische Rolle bei der Auseinandersetzung zwischen Ost- und West-Rom. Da hat sich nämlich im 14. Jahrhundert ein relativ großes Fürstentum eingenistet, die so genannte Nemanjiden-Dynastie, die es geschafft hat, die Widersprüche zwischen Ost- und Westrom zu ihren Gunsten auszunutzen und sich – obwohl slawisch – vom katholischen Papst bestätigen zu lassen, d.h. der erste Zar hat die Krone aus der Hand der katholischen Kirche bekommen. Damit war das Fürstentum zugleich autokephal, kirchlich unabhängig von der byzantinischen Orthodoxie. In der Region war es das in dieser Zeit höchst entwickelte Land – reich mit den Trepça-Minen, die heute noch eine Rolle spielen und damals schon ziemlich viele Erze geliefert haben, darunter Gold und Silber. Damit konnte man schon gut Handel treiben und sich ökonomisch entwickeln.

Die Schlacht auf dem Amselfeld war dem Vormarsch des Osmanischen Reiches geschuldet. Ihm fiel auch dieses Fürstentum zum Opfer. Das Osmanische Reich hat sich über mehrere Jahrhunderte hinweg ausgedehnt und die Region weitestgehend islamisiert. Bis auf eben das Kosovo bzw. Serbien. Serbien ist auch weiterhin religiös unabhängig geblieben und hat seinen wirtschaftlichen Status weitestgehend beibehalten können. Das Osmanische Reich hat schließlich seine Grenze gefunden am Habsburger Reich, entschieden nach der Schlacht um Wien Ende des 16. Jahrhunderts. Das Habsburger Reich hat sich daraufhin auch auf dem Balkan ausgebreitet und in der Grenzregion zwischen Ungarn und Serbien – der so genannten Krajina – serbische Bauern angesiedelt, um ein Bollwerk gegen das Osmanische Reich zu bilden.

In der weiteren Auseinandersetzung tritt dann vor allem das russische Zarenreich auf den Plan sowie das Königreich England. Im 18. und 19. Jahrhundert wird die gesamte Region im Wesentlichen beherrscht vom so genannten Great Game – das heißt, England und Russland streiten sich um die zentralasiatischen Regionen, und das Osmanische Reich und Russland streiten sich um den Balkan. Die Folge: Es gibt acht Kriege zwischen Russland und dem Osmanischen Reich, in dem sich nach dem achten Krieg die ersten Zerfallserscheinungen zeigen. Der Ansturm des Zarenreiches war also insofern erfolgreich, als sich auf dem Balkan daraufhin einige Staaten für unabhängig erklärten. Dazu muss man berücksichtigen, dass das ganze Osmanische Reich aus kleinen Reichen bestand, die relativ selbständig waren. Der osmanische Sultan hat im so genannten Pfründe-Feudalismus Land zur selbständigen Beherrschung vergeben. Solange die einzelnen Reiche loyal waren, konnten sie sich selbst verwalten.

Diese Selbstverwaltung schlug mit dem Übergang zum Kapitalismus dann um in den Drang nach Nationenbildung. Die hat den Engländern nicht so gut geschmeckt, weil sie zunächst davon ausgingen, dass dieser Prozess wiederum die slawische Herrschaft vergrößert, und zwar über Zentralasien hinaus. Und daher hat man den Newcomer, damals der deutsche Imperialismus, am Ende des 19. Jahrhunderts auf den Plan gerufen – bzw. der deutsche Imperialismus hat sich rufen lassen und Bismarck zur Berliner Konferenz 1883/84 eingeladen, vier Jahre nach dem Frieden von San Stefano (das war nach dem letzten Krieg zwischen dem Osmanischen Reich und Russland), der diese autonomen Republiken hervorgebracht hat, und Bismarck sollte sie als scheinbar neutrale Instanz absegnen.

Hintergrund war der Widerspruch zwischen Russland und England, und Bismarck war klug genug, diese Widersprüche auszunutzen. Er hat sich gesagt (sinngemäß): Prima, es soll auf dem Balkan diese Staaten geben, und wir stellen auch gerne das Führungspersonal zur Verfügung. Es war dann tatsächlich so, dass die Hohenzollern und die von Sachsen-Gotha in Rumänien und Bulgarien die neuen Fürsten stellten, und für das emporstrebende Albanien mit wachsendem Nationalbewusstsein hat man auch einen König gefunden, nämlich einen bis dato unbekannten Prinz Wilhelm von Wied aus dem Hut gezaubert und damit signalisiert, erstens: Der Balkan entwickelt sich nicht ohne uns, und zum zweiten wollen wir auch nicht, dass Russland bis ans Mittelmeer vorstößt.

Die Russen ihrerseits haben den serbischen Staat unterstützt und Deutschland, wie gesagt, damals Albanien, um Russland auf dem Balkan eine Grenze zu setzen. So weit, so gut. Der Erste Weltkrieg sortiert allerdings die Situation neu: Das Habsburger Reich wird zerschlagen – es hatte ja eine Grenze zum osmanischen Reich (Serbien), die in der Krajina lag, und hatte auf der Berliner Konferenz auch noch etwas dazu bekommen, nämlich Bosnien; England hatte dort Zypern bekommen, und auch die anderen Imperialisten gingen nicht ganz leer aus. Nach dem Ersten Weltkrieg war das aber dann obsolet, zumindest die Verlierer hatten Pech gehabt: Österreich-Ungarn wurde aufgelöst, und statt dessen wurde ein jugoslawischer Staat geschaffen. Damals hieß er noch »Staat der Slowenen, Kroaten und Serben«. Die Slowenen, Kroaten und Serben haben jenen Staat gebildet, dessen Territorium dann auch im wesentlichen dem des nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Jugoslawien entsprach, nur etwas kleiner im Süden (ohne Montenegro und Mazedonien).

Und das war Ausdruck der neuen Kräfteverhältnisse, Jugoslawien als – wie der erste Ministerpräsident (und mehrfache Regierungschef) des damaligen Staates, Nikola Pasic, sagte – »Bollwerk gegen den deutschen Drang nach Osten«.

Mit dem zweiten deutschen Revancheakt, dem Faschismus, wurde Jugoslawien durch Besetzung zerschlagen und Albanien den Italienern zugeschustert, zusammen mit dem Kosovo. Deutschland konnte an seine Geschichte anknüpfen, nämlich den albanischen Nationalismus zu unterstützen, und hat dort mit der SS-Division Skanderbeg den albanischen Nationalismus erneut angeheizt. Wir kennen auch das Schlachten der Serben über die kroatische Ustascha – als Rache, Rache für diesen Bollwerk-Gedanken. Über die Rache hinaus war es ein Signal an die konkurrierenden Mächte, dass Deutschland sich zurückgemeldet hat und den Balkan »aufrollt«.

Genau diese Situation galt es nun, nach der Wiedervereinigung wiederherzustellen. Jugoslawien als »Völkergefängnis«, dessen Völker befreit werden müssen. Natürlich hat man nicht offiziell gesagt, man müsse mit den Folgen des Ersten Weltkriegs aufräumen, man hat nicht gesagt, man müsse endlich die Macht auf dem Balkan behaupten, und zwar diesmal nachhaltig, sondern natürlich ging es darum, »die Völker zu befreien«. Ihr kennt alle die Geschichte, wie das dann ging: 1991 wurde als erstes Slowenien anerkannt, einseitig von Deutschland. Deutschland hat die EU unter Druck gesetzt, hat ein Junktim gesetzt mit den Verhandlungen über Maastricht und die Einheitswährung. Die Aufgabe der D-Mark hatte ihren Preis: Der Preis war die Anerkennung von Slowenien und Kroatien. Ein Jahr später, auch noch zum Jahrestag des faschistischen Überfalls auf Jugoslawien, wurde auch Bosnien anerkannt.

Mit diesen einseitigen Aktionen kam eine Kettenreaktion, eine Brandstiftung in Gang, die den ganzen Balkan in einen Kriegsschauplatz verwandelt und schließlich auch die USA auf den Plan gerufen hat. Spätestens da empfanden die USA Eisenhowers Politik, keine militärischen Stützpunkte auf dem Balkan zu errichten, als schweren Fehler. Wir wissen, dass die USA das Heft in die Hand bekamen, zunächst mit dem Vance-Owen-Plan, der die neue Grenzziehung entlang des ethnischen Flickenteppichs in Bosnien vorgesehen hatte. Den haben aber die Serben nicht mitgetragen, statt dessen wurde die merkwürdige Zwei-Staaten-Lösung erfunden und durchgesetzt, im Vertrag von Dayton, 1995.

Der nächste Kandidat war Serbien. Serbien-Montenegro galt als »Restjugoslawien« und hat genau drei Jahre lang existiert. Für Deutschland ging es bei Serbien auch wieder nicht nur um Rache, sondern vor allem darum, dass man mit Bosnien und Dayton das Heft hatte an die USA übergeben müssen, und das ging nicht. Man konnte das nicht akzeptieren.

Also hat man in Albanien das dortige korrupte Berisha-System errichtet und gestützt, hat es hoch bewaffnet – mit Waffen aus der DDR, Altbeständen – und hat dann von da aus die UCK aufgerüstet, systematisch, um die Wühlarbeit im Kosovo gegen Serbien anzuheizen. Zum damaligen Zeitpunkt, 1995, stand die UCK noch auf der Terrorliste der USA, während die Rugovas, die Haradinajs und die Thacis sich in Berlin schon die Klinke in die Hand gegeben haben und mit Geld versorgt worden sind. Sie stellen heute die politische Elite im Land, obwohl die ganze Welt weiß, dass sie sich zahlreicher Verbrechen schuldig gemacht haben.

Zum Kosovokrieg 1999

Ich brauche nicht im einzelnen zu erklären, wie der Krieg gelaufen ist, wie Rambouillet gelaufen ist. Für Deutschland war es der erste offene Krieg seit dem Zweiten Weltkrieg. Es wurden alle möglichen Verträge gebrochen, das Grundgesetz, der Zwei-plus-Vier-Vertrag und die KSZE-Akte, alles über den Haufen geworfen. Auch NATO-Richtlinien, für die NATO war dies auch ein Novum. Ich komme später darauf zurück, wenn ich über den Kaukasus rede. Die Frage stand damals um die Existenzberechtigung der NATO: »out-of-area oder out-of-business«, da wählte man lieber den out-of-area-Einsatz, der insofern »nötig« war, weil Russland den Krieg nicht mittragen wollte. Man musste den Krieg zunächst ohne Russland führen.

Die Friedensverhandlungen allerdings gingen dann wieder einseitig von Deutschland aus, weil eine Bodenoffensive hauptsächlich von den USA geführt worden wäre. Das wollte man auf gar keinen Fall, denn dann hätten die USA nicht nur den Krieg gewonnen, sondern auch die Nachkriegsordnung bestimmt. Geschickter Weise hat man dann Russland für eine UN-Resolution ins Boot geholt und ihnen eine Rolle in der Nachkriegsordnung angeboten. Das war den Russen ganz recht so, und dann kam es zu folgender Situation: Russland war ja ebenfalls in Bosnien im Rahmen der so genannten SFOR-Befriedungsmission stationiert. Einen Tag nach Friedensschluss fuhren russische Panzer in den Kosovo ein, auf denen das »S« mit einem »K« übermalt war, weil die K-FOR Truppen bereits mit 50.000 Soldaten einfuhren und Russland bei dieser Mission dabei sein wollte. Der K-FOR-Chef, damals ein U.S.-Amerikaner, meinte, man müsse die ohne Absprache einrollenden russischen Panzer angreifen. Darauf sagte sein britischer Kollege, der das Feuer freigeben sollte, er riskiere keinen Dritten Weltkrieg.

Es war also eine ziemlich heikle Situation. Die Russen haben sich dann auch ziemlich bald zurückgezogen – das war noch in der Jelzin-Zeit, das darf man nicht vergessen, da war die russische Regierung noch ein bisschen spontaneistischer mit ihren Entscheidungen. Sie hat sich dann zunächst herausgehalten, weil man es sich mit den Amerikanern dann doch nicht all zu sehr verscherzen wollte.

Kosovo wurde dann umgewandelt in ein UN-Protektorat und war als UN-Protektorat damit auch schon halb in deutscher Hand. Aufgeteilt in fünf Besatzungszonen, haben die imperialistischen Hauptländer USA, Deutschland, Frankreich und Italien alle eine eigene Besatzungszone bekommen – bis auf Großbritannien. England hat in der Region keinen Stich mehr gemacht seit dem 19. Jahrhundert. Und dann gab es noch die fünfte Besatzungszone für die Kleinen, da durften sich dann die Tschechische Republik, Schweden etc. aufstellen. Soweit die Aufteilung zu den Besatzungszonen gemäß Resolution 1345 des UN-Sicherheitsrats. Die so genannte administrative Seite, der administrative Überbau, wurde von den »Hohen Repräsentanten« der UNMIK geleitet. Diese UN-administrative Konstruktion wurde abwechselnd von den Besatzungsländern, darunter allein dreimal von einem Deutschen, geleitet – also auch hier schon war die Tendenz sichtbar, dass es in Richtung deutscher Hegemonie geht. Die vierte Säule dieser UNMIG, neben den drei Säulen Justiz und Politik, politische Verfassung, Parlament und Verwaltung, war das sogenannte »Institution Building«. Dieser Institutionenaufbau mit Kommunalverwaltungen sowie dem Aufbau der lokalen Polizei oblag der OSZE.

Nachdem ich mir das mehrfach, immer wieder angeschaut habe, wer was wo zu sagen hat, bin ich auf folgende, sicherlich vereinfachte, Strukturierung gekommen: Man kann davon ausgehen, dass die NATO für eine US-dominierte »Mission« steht. Eine »Mission« unter dem Dach der UNO ist hingegen der Versuch, Russland einzubeziehen und die imperialistischen Widersprüche zunächst abzupuffern. Wenn Entscheidungsgewalt übergeht auf die OSZE, dann geht es in erster Linie darum, Russland einzubeziehen, aber die USA möglichst herauszuhalten, und wenn letztlich die EU übernimmt, ist es tatsächlich eine deutsche bzw. eindeutig deutsch dominierte Aktion.

Der deutsche Imperialismus hat es tatsächlich geschafft, überall diese Strukturen, diese innerimperialistischen Widersprüche auszunutzen, z.B. die USA zu reduzieren auf Camp Bondsteel in Ferizaj im Kosovo. Interessanterweise wird auf dieses Camp Bondsteel in erster Linie – auch in der Linken – die Aufmerksamkeit gelenkt, wenn es um Menschenrechtsverletzungen auf dem Balkan geht. Man muss aber sehen, dass sich darauf der US-Einfluss im wesentlichen beschränkt, während Deutschland nicht nur zum ersten Mal seine eigene Besatzungszone bekommen hat, sondern auch beim »zivilen« Nation Building an vorderster Front mitmischt, als einer der ersten Kosovo als eigenen Staat anerkennt, nachdem der Ahtisaari-Plan gescheitert ist, und mit EULEX als rein europäischer Initiative die Führung übernimmt und im Wesentlichen die Verwaltung bestimmt. (Der Plan des ehemaligen finnischen Ministerpräsidenten und zu diesem Zeitpunkt UN-Sondergesandten für den Kosovo Ahtisaari war, nebenbei bemerkt, der Versuch, in Übereinstimmung mit Russland eine Art Protektorat der EU zu schaffen, also in Ablösung der UNO und mit Unterstützung von Russland). Russland hat dem Ahtisaari-Plan nicht zugestimmt (Serbien natürlich auch nicht), und dann wurde alternativ der EULEX-Plan entwickelt, wonach 2000 Richter und Verwaltungsbeamte durch schiere Selbsternennung der EU – da gab es überhaupt keinen UNO-Beschluss, Resolution etc. – nach dem Tag der Unabhängigkeit entsendet wurden.

Man kann auch sagen, der Kosovo ist das erste offizielle Protektorat, das heute de facto Deutschland gehört. Man kann den Einwand machen, natürlich ist es nicht »rein-deutsch«, weil immer noch Franzosen mit dabei sind und andere europäische Länder. Aber wenn man sich die Dokumente dazu anschaut, die strategischen Dokumente deutscher Denkfabriken (SWP, IP, CAP), hat man doch den Eindruck, der Anspruch ist nicht nur da, sondern auch ein Stück Wirklichkeit geworden. Da heißt es unter anderem in einer Studie, die das IP von der Bundeswehr übernommen hat: »Der Kosovo ist das unzweifelhaft zentrale sicherheitspolitische Handlungsfeld Deutschlands. Deutschland ist dabei nicht nur der wichtigste Truppensteller auf dem Balkan, dem eine erhebliche Verantwortung beim Schutz eigener ziviler und militärischer Kräfte sowie der lokalen Zivilbevölkerung zufällt, sondern verkörpert obendrein die bedeutendsten Geldgeber für den regionalen Wiederaufbau, was nahezu zwangsläufig ein aktives Interesse am Gelingen der internationalen Stabilisierungsbemühungen mit sich bringt.«

»Wir« zahlen, »wir« sagen, was gespielt wird. Ein anderes Zitat, das den Konkurrenzkampf mit den USA verdeutlicht: »Kosovo als zentrales Experimentierfeld der ESVP (europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik). Es geht um die einzigartige Chance zur Weiterentwicklung gemeinsamer europäischer Fähigkeiten sowie der Vernetzung ziviler und militärischer Krisenmanagementakteure, da faktisch alle sicherheitspolitischen Kompetenzbereiche betroffen sind. Dies gilt insbesondere für das Kosovo, welches sich angesichts wachsender Interessenkonflikte mit den USA und Russland zunehmend zu einem Prüfstein für die EU entwickelt.«

Soweit zunächst zum Kosovo. Man muss schauen, wie sich das tatsächlich weiterentwickelt. Ob jetzt noch weitere Territorien in der Region »unabhängig« werden dürfen aufgrund von Minderheitenproblemen etwa in Rumänien oder Ungarn, Mazedonien oder Albanien – wer auch immer dort noch Ansprüche hat, sich zu verändern. Oder Ansprüche haben könnte, die man ihm nahe legt.

Entscheidend ist, dass ein zentrales Pipelineprojekt mit dem neuen Status Quo ganz gut abgesichert ist, auch strategisch, nämlich die Nabucco-Pipeline – die vor allem Gas aus Turkmenistan und Öl aus dem Iran über das Kaspische Meer und das Schwarze Meer bis nach Österreich transportieren soll. Das Konsortium steht unter offizieller Führung der österreichischen OMV, wobei aber RWE einer der zentralen Geldgeber und Mitmischer ist. So lief sogar der turkmenische Präsident bei Frau Merkel auf, der ihr versichert hat, dass man von der Liefertreue seines Staates ausgehen darf. Damit sind wir eigentlich schon hinübergerutscht nach Zentralasien und zum Thema Kaukasus.

Kaukasus-Strategien der BRD und der USA

Diese Pipeline hat nämlich auch den Zweck, Russland zu umgehen. Wie ihr wisst, gibt es seit den 70er Jahren eine zentrale Versorgung Deutschlands mit russischem Gas und russischem Öl über Röhren, die damals von Mannesmann geliefert worden sind in der Sowjetzeit. Damit wurden zwei Ziele verfolgt: Zum einen wollte man von der Abhängigkeit vom Nahen Osten wegkommen, Stichwort Ölkrise, zum anderen die Sowjetunion unterwandern, ökonomisch unterwandern mit Handelsbeziehungen und -verpflichtungen. Aber noch viel wichtiger war, die DDR als Transitland zu umgehen.

Das Verhältnis zu Russland heute ist doppelgleisig. Das ist nicht außergewöhnlich, das hat schon historische Tradition. Russland und vor allem auch die Sowjetunion haben sich in der Geschichte für Deutschland als etwas zu groß erwiesen, als dass man sie in irgendeiner Form beherrschen könnte. Damals ging es vor allem darum, die Sowjetunion zu unterwandern, und zwar unabhängig von den USA, unabhängig von dem gemeinsamen imperialistischen Kalten Krieg, den man gegen die sozialistischen Länder geführt hat. Für Deutschland ging es darüber hinaus darum, für die Zukunft den Raum nach Osten, den Drang nach Osten, abzusichern.

Nach der Konterrevolution war dieses Spiel offen, aber natürlich mit einem starken Konkurrenten aus den USA. Wir erinnern uns an den eurasischen Bogen, die Brzeszinski-Strategie: Die USA haben sich zunächst massiv in Russland eingekauft, eine Marionettenregierung mit Jelzin errichtet und den ganzen zentralasiatischen Raum aufgerollt, überall ihre Militärberater entsandt, nach und nach die ehemaligen Ostblockländer in die NATO überführt und für die Zentralasiaten die Sicherheitspartnerschaften angeboten. Heißt: Die USA haben zunächst den ganzen Raum innerhalb kürzester Zeit in den 90er Jahren militärisch beherrscht. Man hat den Kapitalabfluss aus Russland gesteuert bzw. unterstützt. Was aber nun konkrete Projekte in Russland betrifft, gelangen nur einige Joint Ventures, z.B. im pazifischen Raum, der Halbinsel Sachalin, mit ein paar kleineren Ölförderprojekten. Aber die zentralen Erdgasvorkommen in Westsibirien sind weiterhin im Wesentlichen in deutscher Hand. Traditionell und auch dadurch, dass EON Ruhrgas übernommen hat, womit ein Riesenkonzern entstanden ist, der in einer neuen Dimension vor Ort investiert, Förderrechte bekommt, direkte Anteile an Gasprom hat und damit direkten Zugriff auf Russlands Wirtschaft, was den USA bisher in dieser Form nicht gelungen ist.

Was nun die zentralasiatischen Staaten betrifft, haben die USA auch nicht wirklich einen Stich gemacht. Die sogenannte Sicherheitspartnerschaft war im übrigen nicht eine ursprüngliche Idee der USA, sondern eine Reaktion auf Rühes Ansinnen von 1993, Polen und die Tschechische, damals noch die Tschechoslowakische Republik, und Ungarn noch vor einem EU-Beitritt in die NATO zu holen. Das war wiederum die deutsche Perspektive, den Hauptgewinn aus der neuen Situation zu ziehen, gemäß dem damaligen Außenminister Kinkel.2 Es ging darum, den Osten nicht nur ökonomisch aufzurollen – durch Übernahmen im Bankensektor, Telefon- und Kommunikationssektor, Medien und in der kriegswichtigen Industrie wie Fahrzeug- und Maschinenbauindustrie. Im Grunde hat man alles, was man früher noch mühevoll besetzen musste, aufgekauft und dachte nun, militärisch gemeinden wir diese Länder auch ein, indem wir sie in die NATO ziehen und dann die Kontrolle darüber haben.

Da waren aber die USA davor. Es gab hierzu eine lebhafte Diskussion in der Zeitschrift »Foreign Affairs«. Zum einen gab es die deutlich dominierende Strategie, weiterhin in Europa präsent zu bleiben, um nicht die Kontrolle über das wiedererstarkte Deutschland zu verlieren. Da gab es nun zwei Varianten: Erstens, die Pläne Deutschlands zu unterlaufen, indem man die osteuropäischen Staaten NICHT in die NATO aufnimmt. Oder, die zweite Variante, indem man Deutschland mit der Aufnahme und militärischen Anbindung dieser Staaten zuvorkommt. Letztere Variante hat sich unter anderem deshalb durchgesetzt, weil man durch die Verhinderung eines NATO-Beitritts keinesfalls Deutschland ermutigen wollte, diese Länder dann in die bis 2010 bestehende WEU (Westeuropäische Union/Militärbündnis, zwischenzeitlich abgelöst durch die GASP, Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik mit EU-Battlegroups) einzubinden und damit jegliche Kontrolle über sie und über Deutschland zu verlieren. Es schien klar: Wenn man jetzt die neuen Anwärter nicht in die NATO lässt, dann macht das Deutschland eben über die EU/WEU.

Deutschland hingegen, auch das ist unsichtbar für die Meisten, Deutschland treibt die USA quer über Zentralasien und die Aufnahme möglichst vieler osteuropäischer Staaten in die NATO, um ein Gegengewicht zum wachsenden deutschen Einfluss zu bilden.

Hinzu kommt noch, dass Russland zunehmend ein neuer Gegner bzw. eigenständiger Spieler im hegemonialen Gefecht wird, wie sich spätestens mit dem Amtsantritt Putins zeigte. Putin stärkt die eigene nationale Bourgeoisie, bestraft jene, die russische Betriebe ans Ausland verkaufen wollen. Es gibt das YUKOS-Beispiel, bei dem der Unternehmer Chodorkowski an die USA verkaufen wollte: Er wurde zunächst in den Knast geschickt und sein Unternehmen juristisch zerschlagen und in staatliche Unternehmen integriert.

Des weiteren ist Russland auch in politischer Hinsicht in der Region zum Player geworden, hat sich mit China zur Shanghaier Kooperation für Zusammenarbeit (SOZ) zusammengetan und dort die zentralasiatischen Länder im Wesentlichen eingemeindet. Was zu deutsch heißt, dass die zentralasiatischen Staaten ihre sicherheitspolitischen Interessen eher bei Russland und China aufgehoben sehen als bei den USA. Den USA ist es unter dem Strich nur gelungen, vorübergehend nach 2001 und im Afghanistankrieg, u.a. mit einem Militärstützpunkt in Usbekistan, die zentralasiatischen Länder in den »Krieg gegen den Terror« einzubinden. Aber das hat nicht lange gehalten. Nach zwei Jahren musste der Stützpunkt wieder abgebaut werden.

Zur Interessenkonstellation im Georgienkonflikt

Georgien hat Abchasien überfallen, nachdem nach Ausrufung der georgischen Unabhängigkeit 1991 Abchasien und Südossetien versucht haben, ebenfalls unabhängig zu werden. Diese Unabhängigkeit hat ihnen allerdings Georgien verwehrt, und es gab kriegerische Auseinandersetzungen darum bis 1994. Sie wurden insofern beigelegt, als beiden Territorien eine relative Autonomie innerhalb Georgiens zugestanden wurde, die wiederum überwacht wurde von UN-Einheiten sowie der OSZE. Und wie ich bereits versucht habe zu deklinieren, UNO oder UN-Einheit heißt immer, möglichst die innerimperialistischen Widersprüche klein zu halten und alle Akteure einzubinden und jedem etwas abzugeben. Und OSZE ist europalastig und damit mit großem deutschen Einfluss, also starker deutscher Präsenz.

Als es dann 2008 zu dem Versuch kam, diese Unabhängigkeitsbewegung, die natürlich auch von Russland gefördert wurde, durch Ausgabe russischer Pässe an Südossetien abrupt zu bremsen mit dem Angriff auf Zingvali, da hat Russland sofort reagiert, nicht lange gefackelt und große Teile von Georgien besetzt. Das Geschrei war natürlich dann groß, vor allem in der imperialistischen Welt.

Unisono klang es aber nur einen Tag lang. Schon am zweiten, dritten Tag haben sich die ersten klaren Differenzierungen gezeigt. Die USA haben eine unglaubliche verbale Attacke gefahren, »Russland raus aus Georgien«, alle Gespräche mit dem NATO-Russland-Rat sofort aussetzen, Sanktionen überlegen … und Deutschland ist auf die Bremse gestiegen: »Dialogfähigkeit aufrecht erhalten«, hieß hier das Motto. Auf der einen Seite ist Merkel sofort nach Tiflis gefahren, mit dem Bekenntnis, die »New Friends of Georgia« zu unterstützen.

Auf der anderen Seite hat man Russland signalisiert, keine Sorge, wir machen weiter wie bisher, wir müssen jetzt zunächst die Situation deeskalieren und klären. Diese Doppelstrategie war also auch im Kaukasuskonflikt präsent: Ständig geht es darum, Russland einerseits als Partner an sich zu binden, möglichst nicht weiter auf die Idee kommen zu lassen, sich zu sehr mit China oder den USA zu verbünden, also als Bündnispartner unter Kontrolle zu halten.

Um das zu können, muss man selbstverständlich die kleinen, osteuropäischen Staaten unterstützen, vor allen Dingen diejenigen, die früher zur Sowjetunion gehört haben. Dazu gehört eben auch Georgien, dazu gehört aber auch die Ukraine. Und hier befindet man sich im Widerspruch zu den USA, die es in beiden Ländern geschafft haben, Marionettenregierungen aufzubauen, aber das bleibt instabil. Der deutsche Imperialismus wird auch in Zukunft einiges unternehmen, um die politische Orientierung in diesen Staaten in seinem Sinne mitzubestimmen bzw. überhaupt zu bestimmen (u.a. mit der Initiative »Östliche Partnerschaft«3).

Ein Wort noch zu den anderen, kleineren Staaten wie Polen und der Tschechischen Republik, den »New Friends of Georgia«: Die sind tatsächlich in dieser Klammer zwischen dem deutschen Imperialismus und russischem Machtstreben und versuchen, sich an den US-Imperialismus ranzuhängen. Sie waren furchtbar enttäuscht, dass es seitens der USA gegenüber Russland außer großen Tönen letztlich keine weiteren Konsequenzen gab. Während die deutsche Presse gehöhnt hat, dass die USA offensichtlich den Mund zu voll genommen hätten, letztlich aber nicht mit Aktionen zugunsten Georgiens in die Bresche gesprungen seien. Die USA gaben wiederum auf der nachfolgenden NATO-Sicherheitskonferenz ein deutliches Signal an Deutschland, dass es sich nicht mehr ohne weiteres pro Russland positionieren kann, wenn es seine Glaubwürdigkeit für die europäischen Kollegen im Osten erhalten will. Also zeigen die USA eine offene Skepsis (und versteckte Drohung) gegen die deutsche Brüderschaft mit Russland.

»Östliche Partnerschaft«

Zur Zeit gibt es noch eine weitere Entwicklung, Thema »östliche Partnerschaft«. Ihr habt sicher mitbekommen die Initiative der kaukasischen Republiken, Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Ukraine, Weißrussland und Moldawien, die sich in dieser neuen Partnerschaft zusammenfinden wollen. Die Idee selbst ist nicht neu, es gab seit 2003 die Idee des so genannten Kaukasus-Stabilitätspakts nach dem Vorbild des Balkan-Stabilitätspaktes, nämlich die Einbindung jener Länder, die vorher in einer U.S.-animierten Konstruktion, der sogenannten GUAM, zusammengeschlossen waren. Es geht also darum, dort vorzustoßen, wo vorher der US-Einfluss stark war (und teilweise immer noch ist), diese Länder an sich zu binden. Und die Ironie dabei ist, die Initiative geht von Schweden und Polen aus. Polen verspricht sich damit tatsächlich auch eine Stärkung gegenüber Russland. Auf dem ersten Treffen war Merkel ganz groß dabei, während die Kollegen der Konkurrenz eher die zweite oder dritte Garnitur entsandt haben und damit verdeutlichten, dass das nicht »ihr Bier« ist.

Island in die EU?

Last not least vielleicht noch ein Wort zu Island, obwohl das hier nicht Thema ist, aber mir gerade in die Hände gefallen. Es war ja die Rede davon, Island in die EU aufzunehmen. Wichtig dabei ist die strategische Position Islands im Nordmeer, das in naher Zukunft eisfrei sein wird. Daher ist es auch eine strategische Option für Deutschland, sich in Island festzusetzen und zugleich eine weitere Kampfansage an die USA, weil Island NATO-Mitglied und bisher vor allem durch britisches bzw. britisch-amerikanisches Kapital finanziert ist. Ein Anschluss an den Euro würde andere Perspektiven eröffnen.

Zusammenfassung

Die ganze Konstellation zwischen USA, Russland und Deutschland hat sich in den letzten 14 Jahren gerade durch diese beiden Kriegsschauplätze deutlich zugunsten des deutschen Imperialismus gewendet und verschärft damit weiter die Konkurrenz mit den anderen imperialistischen Staaten um die Neuaufteilung der Welt, verschärft die Kriegsgefahr, die Gefahr eines Dritten Weltkriegs.


  1. Bereits der Erste Weltkrieg wurde um die Beherrschung des Balkans als »Landweg nach Ostasien« geführt. Offenherzig schreibt der Herausgeber der damaligen Denkfabrik, der geostrategischen Zeitschrift »Deutsche Politik«, über die strategischen Orientierungen der drei Hauptkonkurrenten: »Wird der Zwang zum ›Landweg nach Indien‹ … für Deutschland wie für den Orient zum Willen für ein Mitteleuropa, so ist die Tatsache des ›Seewegs nach Indien‹ für England der Anlass zum Willen für ein englisches ›Mittelasien‹ geworden. (…) Ebenso will Russland ein russisches Mittelasien vorschieben: über die Türkei hin …; ebenso über den Balkan hin durch Rumänien und Bulgarien zum Mittelmeer oder gar noch weiter über Serbien zur Adria hin. (…) Für Deutschland stellte sich die Frage doch so: durch Verzicht auf den Orient ausgeschlossen zu werden aus den nächst gelegenen und sicherst erreichbaren Gebieten mit ihren wirtschaftlich ›unbegrenzten Möglichkeiten‹, und abgeschlossen zu werden von der Weltverbindung durch einen russischen Balkanwall und durch einen englischen Orientring; weiterhin: über die diplomatische Einkreisung durch England hinaus eine geographische Einkreisung durch Russland quer durch den Balkan ertragen zu müssen, d.h. eben nicht ertragen zu können …« (Ernst Jäkh, »›Mitteleuropa‹ als Organismus«, 16.6.1916 (zit. n. R. Opitz (Hrsg.), »Europastrategien des deutschen Kapitals 1900-1945«, 1994). Die Konstellation habe damals zwingend zum Weltkrieg geführt. Sie ist heute nicht grundsätzlich anders, außer dass Englands Hegemonialansprüche weitestgehend durch die der USA ersetzt sind. 

  2. »… nach Außen gilt es etwas zu vollbringen, woran wir zweimal zuvor gescheitert sind: Im Einklang mit unseren Nachbarn zu einer Rolle zu finden, die unseren Wünschen und unserem Potential entspricht … Wir sind auf Grund unserer Mittellage, unserer Größe und unserer traditionellen Beziehungen zu Mittel- und Osteuropa dazu prädestiniert, den Hauptvorteil aus der Rückkehr dieser Staaten nach Europa zu ziehen. Dies gilt nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch für die Stellung der deutschen Sprache und Kultur in Europa.« (Der damalige Außenminister Kinkel, FAZ v. 19.3.1993) 

  3. Zum Gründungsgipfel in Prag am 7.5.2009 waren die sechs ehemaligen Sowjetrepubliken Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Republik Moldau, Ukraine und Weißrussland eingeladen. Was Frankreich mit der »Mittelmeerunion« als sog. EU-»Nachbarschaftspolitik« gestartet hat, treibt Deutschland gen Osten weiter: »allmähliche Integration in die EU-Wirtschaft und Angleichung der Rechtsvorschriften«, »Unterstützung der Partner bei der Entwicklung eines Freihandelsnetzes untereinander, das langfristig zur Schaffung einer Wirtschaftsgemeinschaft zwischen Nachbarländern führen könnte«, »Vereinfachung der Einreisebedingungen in die EU bei gleichzeitiger Erfüllung bestimmter Sicherheitserfordernisse (Bekämpfung von Korruption, organisiertem Verbrechen und illegaler Migration)«, »Verbesserungen im Bereich der Energieversorgungssicherheit für alle Partner«, »Unterstützung der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung«, »intensive und kontinuierliche Unterstützung der Reformbemühungen, Hilfe bei der Verbesserung der Verwaltungskapazitäten und beim Aufbau der Institutionen (z.B. Gerichte, Behörden)«, heißen die offiziell genannten Ziele – also Unterordnung unter EU/Deutschland, »Nation Building« à la carte des deutschen Imperialismus, vor allem auch in Konkurrenz zur französisch dominierten »Mittelmeerunion«.