Konferenz
»Der Haupt­feind steht im eigenen Land«

Die jährlich stattfindenden Konferenzen gegen den deutschen Imperialismus sollen den politischen Austausch und die Zusammenarbeit derjenigen revolutionären Kräfte fördern und vorantreiben, die in der Arbeiter- und demokratischen Bewegung für die Linie »Der Hauptfeind steht im eigenen Land« kämpfen wollen.

Entwicklung der deutschen Bourgeoisie seit dem Bauernkrieg

Erika Wehling-Pangerl, Kommunistische Arbeiterzeitung

Mai 2009

Wenn man einen Gegenstand kennen und beurteilen will, muss man nicht nur seinen gegenwärtigen Zustand, sondern auch seine Geschichte kennen. Wir beschäftigen uns heute mit dem deutschen Imperialismus und seiner besonderen Aggressivität. Warum reden wir von einer besonderen Aggressivität des deutschen Imperialismus, und wie ist es dazu gekommen? Welche Vergangenheit hat die herrschende Klasse in der BRD?

Das erste große Verbrechen des deutschen Bürgertums, das seine spätere Rolle als zu spät und zu kurz gekommene Kapitalistenklasse und schließlich aggressivsten aller Imperialisten begründete, liegt im 16. Jahrhundert. Wir sind beim deutschen Bauernkrieg, der demokratischen Revolution der Bauern, dem ersten großen Versuch auf deutschem Boden, dem feudalistischen Gesellschaftssystem den Garaus zu machen. Dieser große, hoffnungsvolle Kampf wurde vom deutschen Bürgertum verraten, obwohl er eigentlich für die Zukunft des Bürgertums geführt wurde. Wie ist es dazu gekommen? Ausgangspunkt des Bauernkriegs waren gesellschaftliche Veränderungen aufgrund eines bedeutenden Aufschwungs der Produktion in den letzten beiden Jahrhunderten. Allerdings war Deutschland im Vergleich mit anderen Ländern zurückgeblieben. Engels schrieb dazu in seiner Schrift »Der deutsche Bauernkrieg«: »Der Ackerbau stand weit hinter dem englischen und niederländischen, die Industrie hinter der italienischen, flämischen und englischen zurück, und im Seehandel fingen die Engländer und besonders die Holländer schon an, die Deutschen aus dem Felde zu schlagen.«

Das war auch hemmend für den politischen Fortschritt. Engels führte weiter aus: »Während in England und Frankreich das Emporkommen des Handels und der Industrie die Verkettung der Interessen über das ganze Land und damit die politische Zentralisation zur Folge hatte, brachte Deutschland es nur zur Gruppierung der Interessen nach Provinzen, um bloß lokale Zentren, und damit zur politischen Zersplitterung; einer Zersplitterung, die bald darauf durch den Ausschluss Deutschlands vom Welthandel sich erst recht festsetzte. In demselben Maß, wie das reinfeudale Reich zerfiel, löste sich der Reichsverband überhaupt auf … Wer in dieser Verwirrung … schließlich gewann und gewinnen musste, das waren die Vertreter der Zentralisation innerhalb der Zersplitterung, … die Fürsten …«. Durch diese ungünstige Ausgangssituation war die Position des aufstrebenden deutschen Bürgertums geschwächt und die Grundlage für seine sprichwörtliche Feigheit gelegt.

Ein so genannter deutscher Nationalheld, der heute immer mal wieder gern aus dem Zylinder gezogen wird und in dieser Zeit eine entscheidende Rolle gespielt hat, war Martin Luther. Er hat vor dem Bauernkrieg zunächst eine positive und der demokratischen Revolution nützliche Funktion gehabt. 1517 hat er mit seinen 95 Thesen in Wittenberg die gesamte Opposition gegen die klerikale feudale Reaktion vereinigt und mobilisiert. Mit seiner Bibelübersetzung und der daraus folgenden Vereinheitlichung der deutschen Sprache hat er den Bauern und den besitzlosen Plebejern eine geistige Waffe in die Hand gegeben, die sie stärkte im Kampf gegen die in Auflösung begriffene Feudalordnung. Engels schreibt, dass drei Lager in den folgenden Jahren das Feld bestimmten: »Während sich in dem ersten der drei großen Lager, im konservativ-katholischen, alle Elemente zusammenfanden, die bei der Erhaltung des Bestehenden interessiert waren, also die Reichsgewalt, die geistlichen und ein Teil der weltlichen Fürsten, der reichere Adel, die Prälaten und das städtische Patriziat, sammeln sich um das Banner der bürgerlich-gemäßigten lutherischen Reform die besitzenden Elemente der Opposition, die Masse des niederen Adels, die Bürgerschaft und selbst ein Teil der weltlichen Fürsten, die sich durch Konfiskation der geistlichen Güter zu bereichern hoffte und die Gelegenheit zur Erringung größerer Unabhängigkeit vom Reich benutzen wollte. Die Bauern und Plebejer endlich schlossen sich zur revolutionären Partei zusammen, deren Forderungen und Doktrinen am schärfsten durch Münzer ausgesprochen wurden.« Als 1525 der große Aufstand der Bauern begann, zerbrach der bürgerliche Teil der Opposition das Bündnis und schlug sich, je entschlossener die Bauern und Plebejer gegen die Besitzenden kämpften, auf die Seite des konservativ-katholischen Lagers: »Gegenüber der Revolution wurden die alten Feindschaften vergessen; … und Bürger und Fürsten, Adel und Pfaffen, Luther und Papst verbanden sich gegen, wie sie sagten, ›die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern‹.« Im Namen der vereinigten katholischen und evangelischen Barmherzigkeit verkündete Luther das Urteil der gerade erst aufkommenden deutschen Bourgeoisie gegen die bäuerlichen Rebellen: »Man soll sie zerschmeißen, würgen und stechen, heimlich und öffentlich, wer da kann, wie man einen tollen Hund totschlagen muss!« Die Bauern konnten gegen diese vereinigte Konterrevolution nicht siegen. Ihre Revolution wurde zerschlagen. Sieger in diesem Kampf waren die weltlichen Fürsten, während die Kirchenfürsten gewaltig an Reichtum und Macht verloren. Dem Bürgertum hatte sein feiger Verrat gar nichts gebracht. Der Kampf um die bürgerliche, demokratische Nation, der so verheißungsvoll mitten in einem Europa des Feudalismus begann, rückte für Deutschland in nicht mehr greifbare Ferne. Deutschland war zersplittert wie nie, die Fürsten bekämpften sich untereinander und behinderten den freien Aufstieg der Bourgeoisie.

Ein Jahrhundert später ruinierte der dreißigjährige Krieg das Land vollends. Dieser Krieg zwischen der zentralen deutschen Reichsgewalt und den einzelnen deutschen Fürsten hatte dazu geführt, dass aus so genannten Landsknechten und Söldnern sich bekriegende Heere entstanden waren. Ihr Beruf war der Krieg, der mit den barbarischsten mittelalterlichen Formen der Verheerung des Landes, mit Mord, Raub, Plünderung und Gewaltanwendung jeglicher Art gegen die friedliche Bevölkerung geführt wurde.

Das also hatte das deutsche Bürgertum erreicht. Sein Verrat und die daraus folgende Niederschlagung der Bauernrevolution von 1525 »hatte (wie Engels sagte) zur Folge, dass Deutschland für 200 Jahre aus der Reihe der politisch tätigen Nationen Europas gestrichen wurde«.

Noch eine Anmerkung zu Luther, dem Repräsentanten des feigen deutschen Bürgertums. Er hatte den deutschen Bürgern auf ihrem weiteren Weg neben der furchtsamen Feindseligkeit gegenüber den arbeitenden Massen auch noch eine weitere Wegzehrung mitgegeben, von der sie sich bis heute nähren: den Judenhass. Früher war es die katholische Kirche als eine der wichtigsten feudalen Mächte gewesen, die das Hauptinteresse am Judenhass hatte – die Juden verkörperten nämlich am augenfälligsten den ökonomischen, bürgerlichen Fortschritt gegenüber der Feudalordnung. Jetzt hatte der Judenhass eine wichtige Funktion für das deutsche Bürgertum, das vor den Fürsten gekuscht hatte und sich selbst damit der Möglichkeiten seiner Entwicklung beraubt hatte. Nun musste es »den Juden«, den unliebsamen Konkurrenten bekämpfen. Denn »der Jude« kannte sich eben auch besser als das junge Bürgertum mit den bürgerlichen Geschäften unter widrigen mittelalterlichen Verhältnissen aus. Das lag an der besonderen Stellung, in die die Juden seit den Kreuzzügen hineingezwungen worden waren. Luther lieferte die Anleitung zur Judenverfolgung, die Jahrhunderte später von den Hitlerfaschisten wörtlich aufgegriffen wurde. Er forderte dazu auf, die Synagogen anzuzünden und die Häuser der Juden zu plündern. Kurz vor seinem Tod predigte er, dass alle Juden aus Deutschland vertrieben werden müssten.

Zurück zu den Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges: Durch ihn wurden selbst die schwachen Bindungen gelockert, die die zahlreichen deutschen Fürstentümer im Rahmen des Reiches zusammenhielten. Deutschland stellte jetzt ein buntscheckiges Gemenge voneinander unabhängiger Staaten dar, die von kleinen despotischen Fürsten regiert wurden.

In diesem Haufen wurde Preußen einer der reaktionärsten deutschen Staaten, das Preußentum zur Hauptstütze und Verkörperung der Reaktion. Es ist die Geschichte Preußens, die eine Antwort auf die Frage gibt, warum die reaktionären Klassen auch in der nachfolgenden Entwicklungsgeschichte Deutschlands die Oberhand behielten.

Die Herrschaft der Reaktion in diesen damals existierenden deutschen Staaten wurde noch durch eine besondere Form des Absolutismus (Diktatur der Adelsklasse) verstärkt, die dieser in Deutschland angenommen hatte. »Während in England und Frankreich die absolutistische Monarchie eine zentralisierende Rolle spielte, die Bildung eines einheitlichen Nationalstaates förderte und dem bürgerlichen Fortschritt diente, artete der Absolutismus in Deutschland in Despotismus aus. Die Träger der absolutistischen Gewalt waren hier die Regenten der kleinen und kleinsten Staaten, die deutschen Fürsten, die in ihrer Politik die Interessen der reaktionären Klassen widerspiegelten. Der Absolutismus in Deutschland, der in die engen Rahmen der Kleinstaaten gezwängt war und keine fortschrittlichen gesamtnationalen Aufgaben hatte, verwandelte sich in eine Tyrannei, die jedes Aufkommen einer Initiative und Aktivität der Massen unterdrückte, in eine kleinliche gehässige Bevormundung, die alle lebendigen Kräfte des Volkes fesselte. Das Produkt dieses so beschaffenen Absolutismus war eine sich maßlos verbreitende Bürokratie, eine Macht des Beamtentums, das hier immer mehr Einfluss auf den Gang des Staatslebens gewann. Das bürokratische System hat der Entwicklung Deutschlands so fest seinen Stempel aufgedrückt, dass ein spezifisch deutscher bürokratischer Beamtengeist entstanden ist mit seiner Verbeugung vor dem Buchstaben des Gesetzes, mit seiner sklavischen Unterwürfigkeit vor der Macht der Besitzenden. Diese bürokratische Maschine lastete mit ihrer ganzen Schwere auf den fortschrittlichen und revolutionären Elementen des deutschen Volkes und verstärkte die Kräfte der Reaktion.« (Marx und Engels über das reaktionäre Preußentum, S. 7/8)

Beladen mit der Hypothek aus Verrat und Niedertracht in der Vergangenheit betrat die deutsche Bourgeoisie Anfang des 19. Jahrhunderts vorsichtig wieder die politische Bühne Europas. England hatte schon längst die feudalen Fesseln abgestreift, und die strahlenden Siege der bürgerlichen Revolution in Frankreich und Nordamerika Ende des 18. Jahrhunderts hatten ohne das deutsche Bürgertum stattgefunden. Überall waren bürgerliche Nationen entstanden, die als Sieger über die feudalen Klassen dem Kapitalismus freie Bahn garantierten und die Gleichheit aller Menschen proklamierten – nur Deutschland war zersplittert, reaktionär, dem Mittelalter verhaftet, und das auch in wirtschaftlicher Hinsicht: die im 16. Jahrhundert beginnende Manufakturperiode, die in England, Frankreich und Holland die Entwicklung der kapitalistischen Produktion einleitete, war am deutschen Bürgertum infolge der selbst verschuldeten Niederlage im deutschen Bauernkrieg vorbeigegangen. Die schon begonnene kapitalistische Produktion war rückläufig, Feudalverhältnisse hatten wieder Platz gegriffen. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gab es verstärkt kapitalistische Manufakturen auf deutschem Boden. Aus diesem Grund wurde es für das deutsche Bürgertum notwendig, wenn auch zögernd und lustlos, sich von den alten Fesseln zu befreien. Mit Missmut und Unbehagen erinnerten sich die zu spät gekommenen Spießbürger Deutschlands an den Sturm der französischen Revolution 1789 – die von der deutschen Reaktion aktiv bekämpft worden war: Das vor der Revolution in Frankreich nach Deutschland geflüchtete adelige und andere reaktionäre Gesindel war mit deutschem Geld bewaffnet und für den Überfall aufs eigene Land und Volk vorbereitet worden.

Das deutsche Bürgertum solidarisierte sich überhaupt nicht mit den Bürgern Frankreichs gegen diese konterrevolutionären Angriffe, ganz im Gegenteil. Davon gibt z.B. einen Eindruck Friedrich Schillers 1799 geschriebenes, sehr populäres, aber nicht sehr kluges »Lied von der Glocke«, das behäbigen deutschen Bürgerfleiß gegen die revolutionäre Erhebung der französischen Nation ausspielt. Zitate daraus: »Wenn sich die Völker selbst befrein, da kann die Wohlfahrt nicht gedeihn«, und gegen die französischen revolutionären Frauen: »Da werden Weiber zu Hyänen«, im Gegensatz zur drinnen waltenden züchtigen deutschen Hausfrau.

Die napoleonischen Eroberungskriege, gegen die sich die Staaten Europas zusammenschlossen und die 1813 bei Leipzig und 1815 bei Waterloo siegreich zurückgeschlagen wurden, waren ein Anlass, auch das deutsche Bürgertum endlich in Bewegung zu bringen. Die Siege über Napoleon erhöhten überall bei den europäischen Völkern das Selbstbewusstsein. In Deutschland begann sich zwar so etwas wie eine bürgerlich-demokratische Bewegung zu regen, die allerdings vor der bürgerlichen Gleichheit zurückschreckte, die Gegnerschaft zu dem Despoten Napoleon in eine Gegnerschaft gegen den früheren Revolutionär Napoleon umwandelte und aufgrund der ökonomischen Rückständigkeit von ihrem Judenhass nicht weg kam. Bezeichnend war das Wartburgfest der deutschen Burschenschaften 1817, wo unter revolutionären Vorwänden deutsche Studenten erstmals eine Bücherverbrennung veranstalteten. Verbrannt wurde der Code Napoleon, das erste bürgerliche Gesetzbuch, ebenso Bücher jüdischer Schriftsteller. Heinrich Heine sagte damals, was 1933 noch genau so stimmte: »Dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen.«

Als die demokratische Revolution von 1848 über Europa fegte, hatte das deutsche Bürgertum trotz seiner Vergangenheit in Feigheit und Reaktion eine Chance, noch den Anschluss an die Gegenwart zu finden und das Mittelalter zu überwinden – zumal es einen starken Bündnispartner an seiner Seite hatte. Das war die inzwischen stark angewachsene Arbeiterklasse, die ein Interesse an der schnellen kapitalistischen und demokratischen Entwicklung in Deutschland hatte. Denn nur so konnte die Grundlage für ihre eigene Befreiung von Ausbeutung und Unterdrückung geschaffen werden. Aber gerade dieses Proletariat machte den deutschen Bürgern mehr Angst als Mut: So schreibt Friedrich Engels: »Und zwar erschrak die deutsche Bourgeoisie damals nicht so sehr vor dem deutschen wie vor dem französischen Proletariat. Die Pariser Junischlacht 1848 zeigte ihr, was sie zu erwarten habe; das deutsche Proletariat war gerade erregt genug, um ihr zu beweisen, dass auch hier die Saat für dieselbe Ernte schon im Boden stecke; und von dem Tage an war der politischen Aktion der Bourgeoisie die Spitze abgebrochen. Sie suchte Bundesgenossen, sie verhandelte sich an sie um jeden Preis … Diese Bundesgenossen sind sämtlich reaktionärer Natur. Da ist das Königtum mit seiner Armee und seiner Bürokratie, da ist der große Feudaladel, da sind die kleinen Krautjunker, da sind selbst die Pfaffen. Mit allen diesen hat die Bourgeoisie paktiert und vereinbart, nur um ihre liebe Haut zu wahren, bis ihr endlich nichts mehr zu schachern blieb. Und je mehr das Proletariat sich entwickelte, je mehr es anfing, sich als Klasse zu fühlen, als Klasse zu handeln, desto schwachmütiger wurden die Bourgeois.« (Engels, Der deutsche Bauernkrieg) So wie der Bauernkrieg endete die Revolution von 1848/49 mit einer Niederlage. Es ist der zweite große Verrat der deutschen Bourgeoisie. Sie verbindet sich auf Gedeih und Verderb mit den untergehenden Klassen. Und auch diese halbe Revolution wird von antijüdischen Pogromen begleitet. Währenddessen lässt der deutsche Nationalstaat auf sich warten. Aber auch wenn die Revolution 1848 verloren ging, ist ihr Beginn am 18. März 1848 als heldenhafter »Berliner Barrikadenkampf«, als Beispiel für die im ganzen Land geführten Befreiungskämpfe in die Geschichte der Arbeiterbewegung eingegangenen. In einer 16 Stunden währenden kriegerischen Auseinandersetzung schlugen die Berliner Arbeiter gemeinsam mit mutigen, demokratisch gesinnten Bürgern die preußische Armee in die Flucht.

Mit ihren Ergebnissen blieb sie allerdings weit hinter denen der französischen Revolution von 1789 zurück. Bei einem Vergleich beider Revolutionen kommt Lenin zu folgender Feststellung: »Worin besteht der Hauptunterschied zwischen den beiden Wegen? Darin, dass die bürgerlich demokratische Umwälzung, die 1789 von Frankreich, 1848 von Deutschland verwirklicht wurde, dort vollendet wurde, hier aber nicht; im ersten Falle ging die Umwälzung bis zur Republik und zur vollen Freiheit, im zweiten machte sie halt, ohne die Monarchie und die Reaktion gebrochen zu haben … es kam rasch zur ›Beruhigung‹ des Landes, d. h. zur Unterdrückung des revolutionären Volkes und zum Triumph des ›Polizeiwachtmeisters und des Feldwebels‹.« (zit. nach: Über das reaktionäre Preußentum, S. 57)

In den folgenden Jahren schritt die Industrialisierung stürmisch voran, und so feige und zaghaft die deutsche Bourgeoisie im politischen Kampf war, so flott und kühn war sie beim Ausbeuten und Profitemachen. Der bürgerliche Nationalstaat oder wenigsten so etwas Ähnliches wurde zu einer dringenden Notwendigkeit gegenüber der Zersplitterung Deutschlands, die Handel und Wandel behinderte. Natürlich nicht mit revolutionärem Kampf gegen die feudalen Kräfte wurde für diesen Nationalstaat gekämpft, sondern durch Blut und Eisen, durch Krieg und Annexionen unter der Führung Preußens, unter Führung der ostelbischen Junker.

Eine Kriegserklärung des unter reaktionärer Regierung stehenden Frankreich eröffnete 1870 der deutsche Bourgeoisie die historisch letzte Chance, durch einen gerechten und revolutionären Krieg den Anschluss an die Gegenwart zu finden und ihren Nationalstaat auf bürgerlich-revolutionärer Grundlage zu errichten. Denn noch ging es um die Entwicklung des Kapitalismus, noch war die Bourgeoisie eine potentiell revolutionäre Klasse. Aber unter der Fuchtel der junkerlich-großbourgeoisen und militaristischen Kräfte in Deutschland wurde dieser Krieg zu einem reaktionären Eroberungskrieg in dem Moment, als die Monarchie in Frankreich gestürzt und die französische Republik wieder errichtet war. Im März 1871, als die französische Bourgeoisie schon vor den deutschen Truppen kapituliert hatte, wurde von den Pariser Arbeitern erstmals in der Geschichte eine Diktatur des Proletariats errichtet – die Pariser Kommune. Zwei Monate konnte sie sich halten und den Arbeitern der Welt ein leuchtendes Beispiel geben, das bis heute nicht veraltet ist. Die deutschen Militaristen schafften es gemeinsam mit der französischen Reaktion, die Pariser Kommune blutig niederzuschlagen.

Auf dieser grauenerregenden Grundlage gelang nun endlich die Herstellung von so etwas wie einem deutschen Nationalstaat – das deutsche Reich wurde gegründet. Das war sicherlich ein gewisser für die Arbeiter nutzbarer Fortschritt, aber doch im Vergleich zu den anderen Nationalstaaten eine schauderhafte Missgeburt:

  • Nicht durch eine Volksrevolution wurde diese Einheit erkämpft, sondern durch den Krautjunker Bismarck als Ausdruck des reaktionären Bündnisses der deutschen Bourgeoisie mit den Kräften der feudalen Reaktion.

  • Dieses deutsche Reich wurde auf dem Rücken Frankreichs errichtet, begann seine Existenz mit Annexionen und der Mithilfe bei der Niederschlagung der revolutionären französischen Arbeiter, der Pariser Kommune.

  • Statt bürgerlicher Demokratie erlaubte das deutsche Reich nur Dreiklassenwahlrecht und – getreu der Lehre Martin Luthers – Gehorsam gegen die Obrigkeit.

  • Die zersplitterte, föderalistische Struktur wurde trotz der Reichsgründung aufrechterhalten, so dass reaktionäre Kräfte leichtes Spiel hatten, konterrevolutionäre Eigenmächtigkeiten zu organisieren und die Vorherrschaft Preußens zu sichern.

  • Die Staatsbürgerschaft wurde nach der völkischen Zugehörigkeit und nicht nach dem Territorialprinzip geregelt wie in anderen Nationalstaaten (das ist bis heute im Grundgesetz der BRD so). Das war die Fortsetzung der pervertierten, völkischen Auffassung der Nation. Sie dient bis heute dazu, völkerrechtswidrige Gebietsansprüche zu erheben und durchzusetzen. Und diese Staatsbürgerregelung öffnete nun dem Antisemitismus, dem rassistisch weiterentwickelten Judenhass, Tür und Tor.

In den folgenden Jahrzehnten erhöhte sich in allen kapitalistischen Ländern die Konzentration des Kapitals. Der Kapitalismus war gegen Ende des 19. Jahrhunderts beherrschend auf dem Erdball, die Welt war unter den Großmächten aufgeteilt. Der Kapitalismus war in sein letztes und höchstes Stadium gelangt, den Imperialismus. So auch der Kapitalismus in Deutschland. Aber nun stellte sich heraus, dass die deutsche Bourgeoisie nicht nur zu spät, sondern auch zu kurz gekommen war: sie hatte kaum Kolonien abbekommen, und auf dem Erdball war so gut wie kein weißer Fleck mehr.

Um die Jahrhundertwende war der deutsche Imperialismus bestrebt (und musste es sein), das zunehmende Missverhältnis zwischen seiner wachsenden ökonomischen, politischen und militärischen Stärke einerseits und der Verteilung der Kolonien und Einflusssphären unter den imperialistischen Mächten andererseits mit Hilfe eines Krieges zu beseitigen. Der Kampf gegen die imperialistischen Rivalen konnte nicht sofort aufgenommen werden. Erst wurde auf Kosten der werktätigen Bevölkerung eine Kriegsflotte aufgebaut. Und natürlich wurde ideologisch gerüstet, die Köpfe wurden verseucht.

Am Ende des 19. Jahrhunderts war eine neue Ideologie entstanden: der Antisemitismus. Er basierte auf dem alten Judenhass, unterschied sich aber durch seinen rassistischen Charakter. Der Antisemitismus ist Rassismus, aber eine besondere Art von Rassismus. Rassismus ist mit dem Imperialismus entstanden, also auch gegen Ende des 19. Jahrhundert. Die Welt war vollständig unter den imperialistischen Großmächten aufgeteilt. Die Völker in den Kolonien waren in das imperialistische System geprügelt, missioniert und niedergeschossen worden. Der Rassismus gegen Menschen nicht weißer Hautfarbe hat seine Ursache in diesem Kolonialismus, in der imperialistischen Arroganz gegenüber den unterdrückten Völkern. Dieser Rassismus ist im Großen und Ganzen nicht auf Vernichtung, sondern auf Unterwerfung und Versklavung von nach Meinung der Kolonialisten »minderwertigen« Völkern aus. Der Antisemitismus ist Rassismus anderer Art: er ist der Aufstand der Mittelmäßigkeit gegen das weiter Entwickelte, das Erfolgreichere. Er ist die Ideologie und Politik der zu spät und zu kurz Gekommenen.

Und weil die deutsche Bourgeoisie zu spät und zu kurz gekommen ist und daraus ihre besondere Aggressivität erwächst, ist der Antisemitismus eine ihr besonders entsprechende Ideologie.

In Ermangelung einer tatsächlichen deutschen Nationaltradition wurde dem bösen Judentum das gute Germanentum oder Deutschtum mystischen Inhalts gegenübergestellt. Mit solchen Dingen konnte man allerdings die Arbeiterklasse nicht ruhig stellen, die schon die Sozialistengesetze gut überstanden hatte und ihre politischen und gewerkschaftlichen Organisationen trotz Verfolgung und Verboten gestärkt hatte. Da gab es aufgrund der imperialistischen Entwicklung andere Möglichkeiten für die Imperialisten.

Lenin schreibt dazu: »Es sind eben der Parasitismus und die Fäulnis des Kapitalismus, die seinem höchsten geschichtlichen Stadium, d.h. dem Imperialismus, eigen sind. … (So) hat der Kapitalismus jetzt eine Handvoll … besonders reicher und mächtiger Staaten hervorgebracht, die durch einfaches ›Kuponschneiden‹ die ganze Welt ausplündern. Der Kapitalexport ergibt Einkünfte von 8-10 Milliarden Francs jährlich, und zwar nach den Vorkriegspreisen und der bürgerlichen Vorkriegsstatistik. Gegenwärtig ist es natürlich viel mehr.

Es ist klar, dass man aus solchem gigantischen Extraprofit (denn diesen Profit streichen die Kapitalisten über den Profit hinaus ein, den sie aus den Arbeitern ihres ,eigenen‹ Landes herauspressen) die Arbeiterführer und die Oberschicht der Arbeiteraristokratie bestechen kann. Sie wird denn auch von den Kapitalisten der ›fortgeschrittenen‹ Länder bestochen – durch tausenderlei Methoden, direkte und indirekte, offene und versteckte.

Diese Schicht der verbürgerten Arbeiter oder der ›Arbeiteraristokratie‹, in ihrer Lebensweise, nach ihrem Einkommen, durch ihre ganze Weltanschauung vollkommen verspießert, ist die Hauptstütze der II. Internationale und in unseren Tagen die soziale (nicht militärische) Hauptstütze der Bourgeoisie. Denn sie sind wirkliche Agenten der Bourgeoisie innerhalb der Arbeiterbewegung, Arbeiterkommis der Kapitalistenklasse …, wirkliche Schrittmacher des Reformismus und Chauvinismus. Im Bürgerkrieg zwischen Proletariat und Bourgeoisie stellen sie sich in nicht geringer Zahl unweigerlich auf die Seite der Bourgeoisie, auf die Seite der ›Versailler‹ gegen die ›Kommunarden‹.« (Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, Vorwort zur französischen und deutschen Ausgabe)

Mit Versailler sind hier die französische Bourgeoisie und die ganze französische Reaktion gegen die Arbeiter, die die Pariser Kommune gegründet haben, gemeint. Die hier genannten opportunistischen Arbeiterführer sind nirgends so reaktionär, so auf Gedeih und Verderb mit dem Imperialismus verbunden wie in Deutschland. Aufgrund der allgemein reaktionären deutschen Entwicklung gab es aber schon am Vorabend des Imperialismus bei Marx und Engels große Sorgen über die Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie. So wendete sich Engels im »Anti-Dühring« gegen die Predigten der »Gewaltlosigkeit«:

»Und das in Deutschland, wo ein gewaltsamer Zusammenstoß, der dem Volk ja aufgenötigt werden kann, wenigstens den Vorteil hätte, die aus der Erniedrigung des Dreißigjährigen Kriegs in das nationale Bewusstsein gedrungne Bedientenhaftigkeit auszutilgen. Und diese matte, saft- und kraftlose Predigerdenkweise macht den Anspruch, sich der revolutionärsten Partei aufzudrängen, die die Geschichte kennt?« Eine der großen Auseinandersetzungen in der deutschen Sozialdemokratie Anfang des 20. Jahrhunderts war die Massenstreik-Debatte, die unter dem Eindruck der revolutionären Kämpfe in Russland 1905 geführt wurde.

Die opportunistischen Gewerkschaftsführer fielen über die Forderung nach Generalstreik her. Auf dem Kölner Kongress der Gewerkschaften im Mai 1905 setzten sie eine Resolution durch, in der es hieß: »Der Kongress hält daher auch alle Versuche, durch die Propagierung des politischen Massenstreiks eine bestimmte Taktik festlegen zu wollen, für verwerflich; er empfiehlt der organisierten Arbeiterschaft, solchen Versuchen energisch entgegenzutreten.«

Es war systematische Entwaffnung der Arbeiterklasse, die von den rechten Partei- und Gewerkschaftsführern betrieben wurde, und das ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als der deutsche Imperialismus sich anschickte, durch einen Eroberungskrieg aufzuholen, was ihm durch seine eigene Rückständigkeit versagt geblieben war. Es ging um Rohstoffquellen und Einflusssphären, um ein Europa unter deutscher Vorherrschaft, stark genug, um den Kampf gegen Großbritannien und später gegen die USA aufnehmen zu können.

Nicht nur die militärische Aufrüstung war 1914 so weit vorangetrieben, dass man glaubte, das wagen zu können. Auch die politische Partei der Arbeiterklasse, die Sozialdemokratie, war inzwischen so korrumpiert, dass sie bedenkenlos die Arbeiter in den Krieg schickte – unter dem Vorwand, den reaktionären Zarismus zu bekämpfen. In Wirklichkeit hatte die deutsche Bourgeoisie 1870/71 die letzte Chance vertan, einen gerechten, demokratischen Krieg zu führen. Es ging von Anfang an nur um das Ziel, die Welt neu aufzuteilen, woran eben der zu spät und zu kurz gekommene deutsche Imperialismus ein besonderes Interesse hatte, um seinen »Platz an der Sonne« zu bekommen, wie es der Staatssekretär im Auswärtigen Amt Bülow 1897 formuliert hatte.

»Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche«, äußerte Kaiser Wilhelm II. beifällig zum Verrat der Sozialdemokratie – und das in einem Land, das seinen Nationalstaat nur mühsam durch Blut und Eisen, durch Konterrevolution und Verrat zustand bekommen hatte und sich auf Germanentum und Blutsbande berief statt auf revolutionäre Traditionen.

Es gab aber auch die Kräfte in der Arbeiterbewegung, die nach wie vor an den Beschlüssen der II. Internationale festhielten, die daran festhielten, dass der drohende imperialistische Krieg, wenn er nicht verhindert werden kann, in einen Bürgerkrieg gegen die Bourgeoisie umgewandelt werden muss. Das waren vor allem die im Spartakus-Bund mit Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg organisierten Genossen. 1915 schrieb Karl Liebknecht ein Flugblatt, dessen Inhalt uns bis heute begleitet. Es trug die Überschrift: »Der Hauptfeind steht im eigenen Land!« Darin heißt es:

»Wir haben erlebt, dass beim Kriegsausbruch die Massen von den herrschenden Klassen mit lockenden Melodien für den kapitalistischen Kriegszweck eingefangen wurden. Wir haben erlebt, wie die schillernden Seifenblasen der Demagogie zerplatzten, die Narrenträume des August verflogen, wie statt des Glücks Elend und Jammer über das Volk kamen; wie die Tränen der Kriegswitwen und Kriegswaisen zu Strömen anschwollen; wie die Erhaltung der Dreiklassenschmach, die verstockte Heiligsprechung der Viereinigkeit: Halbabsolutismus – Junkerherrschaft – Militarismus – Polizeiwillkür zur bitteren Wahrheit wurde. …

Der Hauptfeind des deutschen Volkes steht in Deutschland: der deutsche Imperialismus, die deutsche Kriegspartei, die deutsche Geheimdiplomatie. Diesen Feind im eigenen Lande gilt es für das deutsche Volk zu bekämpfen, zu bekämpfen im politischen Kampf, zusammenwirkend mit dem Proletariat der anderen Länder, dessen Kampf gegen seine heimischen Imperialisten geht.

Wir wissen uns eins mit dem deutschen Volk – nichts gemein haben wir mit den deutschen Tirpitzen und Falkenhayns, mit der deutschen Regierung der politischen Unterdrückung, der sozialen Knechtung. Nichts für diese, alles für das deutsche Volk. Alles für das internationale Proletariat, um des deutschen Proletariats, um der getretenen Menschheit willen!«

Streiks und Demonstrationen, Widerstand aller Art gab es gegen den Krieg im Sinne Karl Liebknechts. Aber die Kraft reichte nicht aus, um die Kriegstreiber zu stürzen und aus dem imperialistischen Krieg auszuscheiden – im Gegensatz zu Russland, wo die Arbeiter 1917 ihre Diktatur errichteten – zum ersten Mal seit der Niederlage der Pariser Kommune. Der deutsche Imperialismus nutzte den unbedingten Willen zum Frieden des jungen Sowjetrussland für den Schandfrieden von Brest-Litowsk, der dem proletarischen Staat einiges an Gebietsverlusten, aber wenigstens einen Zeitgewinn zu seiner Konsolidierung brachte.

Der 1. Weltkrieg endete mit der Niederlage Deutschlands und Österreich-Ungarns, das gleich ganz von der Bildfläche verschwand. Der deutsche Imperialismus musste sich dem Versailler Vertrag unterwerfen, der bedeutete: Verlust der Kolonien und sonstige massive Gebietsverluste (13 Prozent seines Territoriums, 10 Prozent seiner Bevölkerung), starke militärische Einschränkungen, starke wirtschaftliche Einschränkungen, internationale Kontrolle des Ruhrgebiets.

Die immer wieder von Lenin ausgesprochene Mahnung, dass die Arbeiter im imperialistischen Krieg die Niederlage ihres eigenen Imperialisten wünschen müssen, wurde mit der Niederlage des deutschen Imperialismus hundertprozentig bestätigt. In keinem anderen imperialistischen Land hat es das nach dem 1. Weltkrieg gegeben: eine fünfjährige revolutionäre Krise erschütterte Deutschland – von 1918 bis 1923. Novemberevolution, Errichtung von Arbeiter- und Soldatenräten, Münchner Räterepublik, Rote Ruhrarmee, proletarische Hundertschaften, Kontrollausschüsse, revolutionäre Betriebsräte, Arbeiterregierungen, Hamburger Aufstand. Dass diese – zum großen Teil bewaffneten – Kämpfe alle nicht siegreich waren, ist der Sozialdemokratie zu verdanken. Sie hatte voll und ganz das Erbe Martin Luthers übernommen, sie war von Anfang an entschlossen, gemeinsam mit den kaiserlichen Generälen und Offizieren die Revolution gewaltsam zu unterdrücken. Als Anfang Januar 1919 die Regierung dem Sozialdemokraten Gustav Noske den Oberbefehl über die konterrevolutionären Truppenverbände übertrug, quittierte der das mit den zynischen Worten: »Meinetwegen! Einer muss der Bluthund werden, ich scheue die Verantwortung nicht!«

Es gibt die Legende, Ursache für den deutschen Faschismus sei der Versailler Vertrag gewesen – ein deutlicher Widerspruch zu der vorhin erwähnten These Lenins, dass die Niederlage des eigenen Imperialismus von Vorteil für die Arbeiter, für den Fortschritt im eigenen Land ist. Die Wahrheit ist: die Ursache für den Faschismus war nicht der Versailler Vertrag, sondern Ursache waren die Niederlagen der Arbeiter in der revolutionären Nachkriegskrise. Der 1. Weltkrieg hatte auch die Grundlage der faschistischen Massenbasis ausgeschwemmt, die Freicorps, entwurzelte Elemente, Landsknechte ohne Aufgabe. Sie durften mithelfen, die revolutionäre Arbeiterschaft zu bekämpfen. Die Putschversuche ihrer Führer 1920 und 1923 waren zwar erfolglos, weil verfrüht für das Monopolkapital, aber das Blutbad, das sie gegen die revolutionären Arbeiter in Sachsen und Thüringen 1923 anrichteten, trug weiter zu ihrer Organisierung und Stärkung bei. 1924 beginnt weltweit eine Phase der relativen Stabilisierung des Kapitalismus. Für die Sozialdemokratie ist es jetzt ein Leichtes, mit reformistischen Maßnahmen die Arbeiter zur Ruhe zu bringen. Der deutsche Imperialismus kann sich konsolidieren, sich als friedfertig und »ganz normal« hinstellen, seine Kriegsschuld vergessen machen. Im Vertrag von Locarno, der sich auch gegen die Sowjetunion richtete, versprach Deutschland die Anerkennung der neuen Westgrenze zu Polen und versprach auch sonst totale Friedlichkeit. Deutschland durfte nun auch in den Völkerbund eintreten. Der deutsche Außenminister Stresemann – erklärtes Vorbild von Joseph Fischer – betätigte sich auch als Vermittler zwischen imperialistischen Mächten, so 1928 zwischen USA und Frankreich. Am Ende der relativen Stabilisierung 1928/29 hatte der deutsche Imperialismus also viel erreicht – mit uns wohlbekannten Mitteln. Und er hatte mal wieder zur See aufgerüstet durch den von der KPD und den Arbeitermassen heftig bekämpften Panzerkreuzerbau.

Mit der Weltwirtschaftskrise wuchs für den deutschen Imperialismus sowohl die Möglichkeit als auch die Notwendigkeit, direkt und mit verschärftem Tempo auf die Kriegsvorbereitung zuzusteuern.

Auch wenn es unterschiedliche Strömungen in der Monopolbourgeoisie darüber gab, wie lange die offene Kriegserklärung gegen die imperialistischen Konkurrenten hinauszuzögern sei, mit welchen Schritten das Expansionsprogramm zu verwirklichen ist, das Ziel war klar: sich endlich aus den Fesseln des Versailler Vertrages zu befreien und sich das zu holen, wofür man bereits 1914 angetreten war. Die Situation stand für das deutsche Finanzkapital Anfang der dreißiger Jahre noch schärfer als vor dem 1. Versuch, die Welt zu seinen Gunsten neu aufzuteilen. Auf der einen Seite stark geschwächt durch den Verlust großer Absatzgebiete und eigener Rohstoffquellen, konnte es auf der anderen Seite aufgrund massenweise einströmenden ausländischen Kapitals während der zwanziger Jahre den gesamten Produktionsapparat modernisieren, so dass sich die Kapazität der Monopole erheblich ausweitete. Durch die große Krise ab 1929 spitzte sich dieser alte (und bis heute aktuelle) Widerspruch, von den ökonomischen Möglichkeiten her ein Riese zu sein, politisch aber ein Zwerg mit einem noch kleineren eigenen Herrschaftsgebiet als 1914, weiter zu. Doch der Krieg von 1914 konnte nicht einfach wiederholt werden, denn dieser Krieg hatte die Welt stark verändert. Die Oktoberrevolution, die die deutsche Bourgeoisie tief erschreckende revolutionäre Nachkriegskrise im eigenen Land und die zunehmenden Bestrebungen der unterdrückten Völker nach Unabhängigkeit erforderten neue Mittel und Methoden.

Eine mögliche Antwort für die Herrschenden auf die veränderten Bedingungen war die aus der Niederlage des 1. Weltkrieges hervorkriechende faschistische Bewegung. Diese vereinnahmte in ihrer Ideologie und in ihren Programmen alles, was an reaktionären Ideologien, an aggressiven Zielen und entsprechenden Methoden, sie durchzusetzen, bereits vorher vorhanden war, verband sie mit der Kampfansage gegen die Arbeiterklasse und organisierte alles zu einer Bewegung.

Ein Testlauf dieser faschistischen Bewegung an der Macht war bereits in Italien gestartet worden. Die barbarische Diktatur gegen die Arbeiterklasse konnte offenbar funktionieren. Die deutsche Version allerdings stellte die italienische bei weitem in den Schatten:

Dazu Georgi Dimitroff auf dem 7. Weltkongress der Kommunistischen Internationale 1935: »Die reaktionärste Spielart des Faschismus ist der Faschismus deutschen Schlages. Er hat die Dreistigkeit, sich Nationalsozialismus zu nennen, obwohl er nichts mit Sozialismus gemein hat. Der Hitlerfaschismus ist nicht bloß bürgerlicher Nationalismus, er ist ein tierischer Chauvinismus. Das ist ein Regierungssystem des politischen Banditentums, ein System der Provokationen und Folterungen gegenüber der Arbeiterklasse und den revolutionären Elementen der Bauernschaft, des Kleinbürgertums und der Intelligenz. Das ist mittelalterliche Barbarei und Grausamkeit, zügellose Aggressivität gegenüber anderen Völkern und Ländern. … Der deutsche Faschismus spielt die Rolle des Stoßtrupps der internationalen Konterrevolution, des Hauptanstifters des imperialistischen Krieges, des Initiators eines Kreuzzuges gegen die Sowjetunion, das große Vaterland der Werktätigen der ganzen Welt.«

Darüber hinaus hatte der deutsche Faschismus eine grauenhafte und einzigartige Besonderheit unter allen faschistischen und imperialistischen Herrschaftsformen bis heute, nämlich den praktischen, mörderischen Antisemitismus als eins der obersten Gebote staatlichen Handelns.

Mit der Kampfansage der Faschisten an das »Weltjudentum«, das vernichtet werden sollte, war von Anbeginn an die Kampfansage an die realen Feinde des deutschen Imperialismus verbunden: an den »jüdischen Bolschewismus«, also die Arbeiterklasse im Lande, vor allem aber die Arbeiterklasse an der Macht in der UdSSR, deren Macht nicht nur gebrochen werden sollte, sondern deren Land und Reichtümer geraubt werden sollten. An das weltweite »Finanzjudentum«, also die überlegenen imperialistischen Konkurrenten England, Frankreich und die USA, die ein für alle mal so vernichtend geschlagen werden sollten, dass sie dem Expansionsstreben der deutschen Monopole nie mehr im Wege stehen konnten.

So war der deutsche Antisemitismus mehr als nur eine reaktionäre Ideologie, er fungierte als Kriegswaffe. Jede der Maßnahmen, die Hitler, an die Macht gebracht, gegen die jüdische Bevölkerung richtete, hatte entsprechend eine doppelte Funktion: Sie dienten der Kriegsvorbereitung im Inneren des Landes und trugen gleichzeitig auch immer schon den Keim der Vernichtungskrieges gegen den äußeren Feind in sich. Welche Verbrechen gegen jüdische Menschen wann, wo und in welcher schließlich an Grausamkeit nicht mehr zu überbietenden Form durchgeführt wurden, hing dabei vom konkreten Kriegsverlauf und damit immer auch von den jeweiligen politischen Kräfteverhältnissen ab, auf die auch der faschistische deutsche Staat Rücksicht nehmen musste.

Die imperialistischen Konkurrenten nahmen vor dem Krieg diese umfassende Kampfansage des deutschen Imperialismus nicht ernst. Sie glaubten, ihn durch Zugeständnisse von sich fernhalten und seine Aggressivität gegen die Sowjetunion ablenken zu können. So ist das schändliche Münchner Abkommen zu verstehen, so ist zu verstehen, dass sie dem Einmarsch der Hitlerfaschisten nach Wien und Prag tatenlos zusahen.

Ihre Hoffnungen blieben vergeblich. Sie hatten den deutschen Imperialismus unterschätzt (schon damals). Jetzt sahen sie sich gezwungen, an der Seite der Sowjetunion den deutschen Imperialismus zu bekämpfen. Was für eine paradoxe Situation hat der deutsche Imperialismus da durch seine besondere Aggressivität hervorgebracht, dass sogar imperialistische Mächte in einen Befreiungskrieg gezwungen werden konnten und mussten!

Mai 1945. Die Hitlerfaschisten sind besiegt. Das Grauen, das sie hinterlassen haben, ist so ungeheuerlich, dass kein Verbrechen in der bisherigen Menschheitsgeschichte damit verglichen werden kann.

Für die Mehrheit der Weltbevölkerung stand fest, dass diese Bestie, als die sich der deutsche Imperialismus entpuppt hatte, nie wieder ihr Haupt erheben darf. Das Potsdamer Abkommen, das die Vernichtung des deutschen Faschismus, Militarismus und der deutschen Monopole anordnete, wurde von der Sowjetunion und drei imperialistischen Mächten – USA, Großbritannien und Frankreich – unterschrieben.

Zum zweiten Mal bewahrheitete sich die Lehre Lenins, dass es in einem Krieg am besten ist, wenn der imperialistische Hauptfeind im eigenen Land eine Niederlage erleidet. Wobei die Lage der Arbeiter in den anderen imperialistischen Ländern viel schwieriger war, durften sie doch gar nicht auf eine Niederlage ihrer eigenen Herren hoffen, die ja in einen Befreiungskrieg gegen das faschistische Deutschland bis hin zum Bündnis mit der Sowjetunion gezwungen worden waren. Deshalb war nach diesem Krieg die Lage der deutschen Arbeiterklasse erst mal einzigartig günstig. Man musste ja das Potsdamer Abkommen nur noch tatkräftig durchführen und hatte dabei die stärksten Mächte der Welt an seiner Seite …

Wie ihr alle wisst, war es so einfach dann doch nicht. Zum einen hatte die deutsche Arbeiterklasse 12 Jahre Hitlerfaschismus hinter sich, die nicht spurlos an ihr vorübergegangen waren. Sie hatte die Hitlerfaschisten nicht verhindert und auch nicht gestürzt, die Befreiung kam von außen. Die Arbeiterjugend kannte außer Krieg und Faschismus nichts, kein zivilisiertes Leben, keine Arbeitersolidarität. Zum anderen zerbrach die Einheit zwischen den Alliierten sehr schnell.

Die USA hatten unter Präsident Roosevelt einen demokratischen Kurs gegen das faschistische Deutschland eingeschlagen, der auch die Auswirkung hatte, dass bis hin zu Offizieren in der US-Armee viel Hass auf den deutschen Faschismus und viel Sympathie mit der Arbeiterbewegung existierte, bis hin zu Sympathien mit der Sowjetunion. Schon die Verhandlungen in Potsdam wurden ungünstig durch eine Änderung der US-Politik beeinflusst, die mit dem Namen des Präsidenten Truman verbunden ist. Während der Besatzungszeit wurden schon sehr bald antifaschistische Militärs nach Hause geschickt. Großbritannien verlor sofort nach Kriegsende sehr viel von seiner bisherigen Macht, die es an die USA abgeben musste. In Berlin versuchte es sich durch eigenmächtige antisowjetische Aktionen gegen den US-Imperialismus zu behaupten. Ein Beispiel dafür ist die Übertragung der sog. Währungsreform in den Westzonen auf Westberlin 1948, also die Einführung der DM, was gleichzeitig auch eine ungeheure Provokation der Sowjetunion war. Alle drei Westmächte ließen im Kampf gegen den deutschen Imperialismus nach und hofften auf ihn als Bollwerk und Speerspitze gegen die Sowjetunion. Die deutschen Imperialisten hatten all diese Widersprüche schon in ihrem Entstehen, seit 1944, auszunutzen verstanden und immer wieder Verbindungen vor allem zum US-Imperialismus geknüpft.

In ganz Deutschland wurde nun von Arbeitern und Antifaschisten um die antifaschistisch-demokratische Umwälzung, die Verwirklichung des Potsdamer Abkommens gekämpft. Es ging um die Vollendung der bürgerlichen Revolution, um die Beseitigung der halbfeudalen Zustände, wie sie im Osten Deutschlands durch die Junker immer noch geherrscht hatten. Die von den Alliierten (auch den westlichen) verfügte Bodenreform wurde durchgeführt. Des Weiteren ging es um die Säuberung des Staatsapparats, die Enteignung der Kriegsverbrecher-Konzerne und um Demokratie für die Arbeiter, für die werktätigen Massen. In Ost und West waren die Arbeiter nicht bewaffnet – das ist ein großer Unterschied zur revolutionären Nachkriegskrise 1918-1923. Im Osten reichten große Streiks, um die reaktionären Kräfte zur Räson zu bringen. Die Waffen der Sowjetarmee sorgten, ohne einen Schuss abzugeben, dafür, dass kein Streik zusammengedroschen oder -geschossen wurde. Im Westen erlaubten die Waffen der Alliierten, die Arbeiter zu behindern und zu bekämpfen – so dass die heftigen, aber eben auch unbewaffneten Kämpfe 1947 mit Niederlagen endeten. Die Sozialdemokratie nahm sich genau die Freiheiten, die die jeweiligen Besatzungsmächte ihr ließen: Im Osten nahm sie sich die Freiheit, aus ihrer Niederlage gegen den Hitlerfaschismus zu lernen und sich 1946 mit der KPD zu vereinigen. Im Westen nahm sie sich die Freiheit, sich erneut der deutschen Monopolbourgeoisie anzudienen.

Die deutschen Monopolherren wussten, dass sie mit einer Regierung namens Alliierter Kontrollrat und verschiedenen Besatzungszonen, wovon eine ihnen völlig verschlossen war, wenig Chancen für einen erneuten Aufstieg hatten. Sie einigten sich mit den westlichen Besatzungsmächten auf einen westdeutschen Separatstaat, den die Westmächte hofften, einzig gegen die Sowjetunion hetzen zu können und den sie ansonsten unter Kontrolle halten könnten. Zu beiden Zwecken sollte dann später auch die NATO dienen. Da die SPD nicht für Separatismus zu haben war, wurde Adenauer an die Regierung dieses neuen Staates gehievt. Der war nicht nur ein Separatist, sondern verstand auch die Widersprüche unter den anderen Imperialisten auszunutzen – er schloss später Freundschaft mit dem Frankreich de Gaulles, um den USA besser entgegentreten zu können. Ein Grundgesetz wurde für den neuen Staat in Kraft gesetzt. Und dieses Grundgesetz atmet den Geist der Reichsgründung von 1871:

  • Nichts deutet mehr auf die Bestimmungen des Potsdamer Abkommens hin, außer einem zähneknirschenden fußnotenartigen Hinweis auf das Kontrollratsgesetz (Art. 139 GG),

  • Das Grundgesetz nahm ausdrücklich für sich in Anspruch, für alle Deutschen zu sprechen, und hatte dadurch von Anfang an einen chauvinistischen, annexionistischen Charakter (siehe insbesondere Präambel sowie Art. 16, 23, 116 GG),

  • Es enthält wichtige Arbeiterrechte, v.a. das Streikrecht nicht, es enthält keine antifaschistischen Bestimmungen,

  • Die zersplitterte reaktionäre föderalistische Struktur wird aufrecht erhalten. Die Alliierten hatten die Auflösung Preußens verfügt, in der BRD war aber der Freistaat Bayern ein Bestandteil und Störfaktor, der schon Gewichtiges zum Aufstieg der Hitlerfaschisten beigetragen hatte.

  • Wieder wird die Staatsbürgerschaft nach Blutsbanden, nach dem völkischen und nicht dem Territorialprinzip definiert (Art. 116 GG).

Wenige Monate nach der Gründung der BRD wurde die DDR gegründet – die Deutsche Demokratische Republik, die eigentlich als Umsetzung des Potsdamer Abkommens für ganz Deutschland gedacht war.

Für den deutschen Imperialismus war damit die Marschrichtung der nächsten Jahre klar. Die Beherrschung Europas war überhaupt nicht erreichbar, solange die DDR existierte. Die DDR musste weg, mit welchen Mitteln auch immer. Sie wurde von der BRD darum auch niemals völkerrechtlich anerkannt. Der Antisemitismus nützte in dieser Situation dem deutschen Imperialismus gar nichts. Um die DDR wegzufegen, brauchte er die Unterstützung der Westalliierten (die er nicht immer bekam, wie wir noch sehen werden), und der Antisemitismus war doch zu offensichtlich gegen die imperialistischen Konkurrenten gerichtet, als dass er noch hätte nützlich sein können. So wurde man also über Nacht philosemitisch, d.h. heuchlerisch-judenfreundlich.

Was gebraucht wurde, um das erste Ziel, die Vernichtung der DDR, zu erreichen, war wütender und militanter Antikommunismus. Die BRD wurde das einzige imperialistische Land, in dem die Kommunistische Partei verboten war. Das zu einem Zeitpunkt, als der Einfluss der KPD schon sehr gering geworden war. Es ging also nicht um ihre Tätigkeit in Westdeutschland, es ging um Antikommunismus bis in den letzten Winkel der Republik. Zwar war auch in Spanien die kommunistische Partei verboten, aber Spanien ist kein imperialistisches Land.

Was ebenfalls gebraucht wurde, war absolute Ruhe an der Heimatfront. Das Streikrecht wurde durch Tarifvertragsgesetz und Richtersprüche eingeschränkt und bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Und die Sozialdemokratie war eben die deutsche Sozialdemokratie, die nach wie vor jeden Opportunisten, wo auch immer auf der Welt, in den Schatten stellte. Der sog. Sozialstaat diente in Westdeutschland vor allem dem Ziel der Zerstörung der DDR, dem Ziel, ihr Arbeitskräfte zu entziehen und die BRD als klassenkampffreies Paradies darzustellen. Gegen die DDR wurde täglich und stündlich gekämpft. Ich kann hier nur auf einzelne Schlaglichter eingehen.

Ein wichtiges Datum ist der 17. Juni 1953, von der Reaktion bejubelt als »Arbeiteraufstand« gegen den Kommunismus. Organisiert wurde dieses Spektakel von der SPD. Die SPD war bis 1961 Teil der inneren Widersprüche der DDR. Denn in ganz Berlin konnte sie schalten und walten und organisieren. Das kam daher, dass in Berlin sich sowohl Sozialdemokraten mit der KPD zur SED vereinigten (die dann auch in Westberlin organisiert war), als auch die rechten Teile der SPD nach wie vor in ganz Berlin tätig waren. Die SPD nutzte ihren Einfluss in den Betrieben und ihre Erfahrungen mit den Arbeitern, um auf der Grundlage bestehender Versorgungsprobleme in der DDR Streiks und Demonstrationen zu organisieren, die auch Einfluss auf den Gang der Dinge außerhalb Berlins hatten. Der RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor) gab die Anweisungen der sozialdemokratischen Führer bekannt. Im Lauf des Tages mischten sich auch reaktionäre und faschistische Elemente, teilweise auch aus Westberlin, mit Brandstiftung und Plünderung in die Geschehnisse ein. Ziel der ganzen Aktion war – jedenfalls von ihren Urhebern her – die Einverleibung der DDR in die BRD. Die Sowjetunion sah sich gezwungen, ihre Panzer aufzufahren und für Ordnung zu sorgen.

Ein »Arbeiteraufstand« war das Ganze nicht. Auch westdeutsche Historiker geben zu, dass sich an dem sog. »Generalstreik« am 17. Juni höchstens 10 Prozent der Arbeiter der DDR beteiligt hatten. Trotzdem war es eine Niederlage der Arbeiter, dass dieser konterrevolutionäre Angriff von den Panzern der Sowjetunion beendet werden musste und nicht von den Arbeitern selber.

Ein weiteres wichtiges Datum ist der 13. August 1961. In den Monaten vor diesem Datum herrschte eine hysterische Kriegsstimmung gegen die Sowjetunion. Die Sowjetunion gab mit dem Angebot, aus Westberlin (das völkerrechtlich zur DDR gehörte) eine sog. Freie Stadt ohne Besatzungsmächte zu machen, eine falsche Antwort. Zum einen reizte sie damit die USA noch mehr, zum anderen öffnete sie damit dem deutschen Imperialismus faktisch die Tür nach Westberlin – wo er aufgrund der Westmächte nicht so schalten und walten durfte, wie er wollte.

Nun witterte der deutsche Imperialismus Morgenluft und organisierte eine Kampagne zur wirtschaftlichen Zerstörung der DDR. Er wirbt Arbeiter aus der DDR an und verspricht Riesenlöhne. Sie bekommen wirklich höhere Löhne, die Kapitalisten können das leicht finanzieren, sowieso durch die imperialistischen Extraprofite und weil sie Zuschüsse von den westdeutschen Arbeitern bekommen, um diese höheren Löhne zu zahlen. Insbesondere kümmert man sich um Facharbeiter und technische Intelligenz. Man versucht, fast die DDR auszuräumen und macht auch die größten Geschäfte mit Schwindelkurs 1:8 (man bekommt 1 DM für 8 Mark der DDR). In Massen kamen diese Deutschen reingeströmt, die sehr liebevoll behandelt wurden (im Gegensatz übrigens zu Flüchtlingen, die später kamen, aber eben nicht deutsch waren). Man redete von einer Abstimmung mit den Füßen. Im Sommer 1961 wird dann die Tätigkeit des deutschen Imperialismus immer hektischer, auch angesichts dessen, dass die USA nach wie vor nichts davon wissen wollen, dass Westberlin oder ganz Berlin zur BRD gehören soll. Sie organisieren Landsmannschaftstreffen usw. in Westberlin, um die Stimmung anzuheizen. Und dann wird schließlich Strauß tätig, der im Juli 1961 in die USA reist und McNamara, dem Kriegsminister der USA, seine Forderungen vorträgt. Er verlangt z.B., dass in die »Berliner Krise«, wie er es nennt, der gesamte Westen einbezogen wird, und erklärt, dass Westdeutschland seinerseits entschlossen sei, diese Krise bis zur letzten Konsequenz zuzuspitzen. Außerdem hat Strauß auf einer Pressekonferenz in den USA darauf hingewiesen, dass der Westen auf eine Art Bürgerkrieg vorbereitet sein müsse. Gleichzeitig gibt es Aufmärsche an der Reichstagsruine, es gibt auch wieder die üblichen Brandstiftungen in der DDR (ohne die geht’s beim deutschen Imperialismus nicht), und der »Industriekurier« hat, nachdem dieser ganze Zauber vorbei war, sehr offenherzig erläutert, wie sich das Monopolkapital die ganze Geschichte vorgestellt hat. Die Eroberung der DDR sollte »mit Girlanden und wehenden Fahnen und siegreichem Einzug der Bundeswehr durchs Brandenburger Tor unter klingendem Spiel« gefeiert werden. (Industriekurier, 2.9.1961)

Am 13. August 1961 schließt die DDR ihre Grenze in Berlin. Und da ist jetzt die Reaktion des Westens interessant, die den deutschen Imperialismus sehr erbost hat. Die »Welt« schrieb am 15. August 1961: »Es mag schockierend sein es auszusprechen, aber in dem Kommunique, mit dem Washington auf die Abriegelung Ost-Berlins reagiert hat, ist ein Ton der Erleichterung unüberhörbar.« Die Pariser Zeitung »Liberation« schrieb am 14. August: »Die von der DDR auf Verlangen der sozialistischen Länder getroffenen Maßnahmen sind Vorsichts- und Verteidigungsmaßnahmen, die in keiner Weise die Interessen der Westmächte und der Bundesrepublik benachteiligen. Ist es nicht ganz normal, dass sich die DDR vor jeder Provokation – man weiß, dass die Bonner und Westberliner Politiker Meister auf diesem Gebiet sind – schützt. Jede Maßnahme, die verhindern kann, dass das Pulverfass in Brand gesteckt werden kann, ist nicht einzig und allein deshalb schlecht, weil sie vom Osten kommt.«

Es hatte wegen des 13. August ernste Verstimmungen zwischen dem deutschen Imperialismus und den USA gegeben. Die USA waren froh, dass der deutsche Imperialismus in Berlin in die Schranken gewiesen war, und wollten für sich selbst diesen Einflussbereich sichern. Nichts anderes bedeutete auch der berühmte Ausspruch des amerikanischen Präsidenten Kennedy bei seinem Westberlin-Besuch 1963: »Ich bin ein Berliner«. Dass das manche dumme Reaktionäre bis heute nicht verstehen, ist ihr Problem. Die Richtung der US-Politik wurde erst viel später durch Präsident Reagan geändert, doch dazu später.

In den siebziger Jahren begannen die noch auf Westdeutschland zusammengedrängten deutschen Monopolherren Licht im Tunnel ihrer geheuchelten Ergebenheit gegenüber den USA zu sehen. Ökonomisch waren sie stärker geworden und konnten selbstbewusst in den Handel mit der Sowjetunion einsteigen. Währenddessen hatte der Ziehvater USA alle Hände voll zu tun mit dem aufsässigen vietnamesischen Volk, das seinen eigenen Weg in Richtung Frieden und Sozialismus gehen wollte. Der »Entwurf für Europa« von Franz Josef Strauß wurde zum Handbuch westdeutscher Politik. Dieses Buch läuft auf die Empfehlung hinaus, gemeinsam mit Frankreich zu gehen, auf diesem Wege den Widerstand Großbritanniens gegen ein Erstarken Westdeutschlands und gegen eine deutsche »Wiedervereinigung« aufzuweichen und so eine europäische Großmacht gegen die USA zu schaffen. Und Strauß war es auch gewesen, der 1969 den für die deutschen Monopolherren befreienden Schlachtruf losgelassen hatte: »Ein Volk, das diese wirtschaftlichen Leistungen erbracht hat, hat ein Recht darauf, von Auschwitz nichts mehr hören zu wollen.« (siehe Frankfurter Rundschau, 13.9.1969)

Das Zerstörungswerk gegen die DDR lief nun unter der Überschrift »Wandel durch Annäherung«. Ein wichtiges Vertragswerk in dieser Richtung war der Moskauer Vertrag von 1970 zwischen BRD und Sowjetunion. Die Sowjetunion hatte darin dem deutschen Imperialismus weitgehende Zugeständnisse gemacht, die auch die Souveränität der DDR betrafen. Die DDR verlor danach das Recht, souverän über die Transitwege zwischen Westdeutschland und Westberlin zu entscheiden.

1975 wurden die USA gerupft und geschwächt aus Vietnam verjagt. So bedeutend dieser Sieg des Befreiungskampfes für die internationale Arbeiterklasse war, so verheerend war es doch, dass dieser Kampf nicht von den Arbeitern der imperialistischen Länder gegen ihre eigenen Ausbeuter fortgesetzt wurde und so die deutsche Monopolbourgeoisie als Geier über den Schlachtfeldern aus der Niederlage des US-Imperialismus Nutzen ziehen konnte. Es wuchs das »deutsche Nationalbewusstsein« in seiner durch den zu spät und zu kurz gekommenen deutschen Imperialismus fürchterlich zugerichteten Gestalt. Eine Nazi-Renaissance begann, viele demokratische Rechte wurden unter der Überschrift »Terrorbekämpfung« in Stücke gehauen.

1978 wurde dann das Jahr, in dem Westdeutschland den großen Schlussstrich unter die Verfolgung der Nazi-Verbrechen zog: es wurde von einer breiten Mehrheit des Bundestages endgültig festgelegt, der UNO-Konvention über die Nichtverjährbarkeit von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht beizutreten (der die DDR längst beigetreten war), sondern stattdessen die Unverjährbarkeit jeglichen Mordes festzulegen.

Mit der Entsendung sowjetischer Truppen nach Afghanistan 1979 und der Einmischung der USA in diesen Konflikt verschärften sich die Widersprüche unter den Imperialisten – sie haben bei dem strategisch wichtig gelegenen Afghanistan mit seiner großen Bedeutung für den Zugriff zu den Bodenschätzen Zentralasiens noch nie viel Spaß verstanden. Bundeskanzler Helmut Schmidt findet im Frühjahr 1980 einen bemerkenswerten Vergleich: er meint, die Situation sei mit der des Juli 1914 vergleichbar (siehe Kommunistische Arbeiterzeitung Nr.185, 29.04.1980, S. 1), also der Situation, in der die Widersprüche zwischen den imperialistischen Mächten sich im ersten Weltkrieg entluden (wobei Anstifter und Auslöser dieses Krieges bekanntlich der deutsche Imperialismus war). Westdeutschland begab sich in die achtziger Jahre, in den Weg zur »Normalität«. Dieser Weg war nicht nur gekennzeichnet durch die Kohl’sche »Wende«, sondern auch durch eine große oppositionelle Bewegung, die nicht mehr von internationaler Solidarität getragen war wie die Mehrheit der Studentenbewegung Ende der sechziger Jahre, sondern von der Angst vor der atomaren Bedrohung, von der Angst, Austragungsfeld in einem Atomkrieg zu sein. Ein deutscher Nationalismus wuchs fast unmerklich bei Massen heran, die vorher für ausgesprochen reaktionäre Bestrebungen nicht in Frage gekommen waren. Riesige Kundgebungen »für den Frieden« klagten die USA und die Sowjetunion an und deckten den Hauptfeind im eigenen Land, der ungestört mit seinen »deutsch-deutschen Beziehungen« an der Destabilisierung der DDR arbeiten konnte. 1986 kam es zu einem sehr gewichtigen und zerstörerischen Angriff des Bonner Staates gegen die Souveränität der DDR unter Ausnutzung des Stützpunktes Westberlin. Viele Flüchtlinge, die in Westdeutschland oder Westberlin Asyl beantragen wollten, kamen mit dem Flugzeug auf dem Flughafen Schönefeld (DDR) an, fuhren dann mit der S-Bahn zum Bahnhof Friedrichstraße in Berlin und konnten sich dort als Nicht-DDR-Bürger ohne weiteres eine S-Bahn-Fahrkarte nach Westberlin kaufen. Da der S-Bahnhof Friedrichstraße DDR-Territorium war, konnte die Westberliner Polizei nichts dagegen machen. Das war zwar im Sommer 1986 nichts Neues, aber der westdeutsche Staat hatte sich entschlossen, eine Kampagne zu führen unter dem Leitmotiv »Alles stöhnt unter der Asylantenflut«.

Die DDR hat einen sehr klaren und guten Standpunkt zu dieser Angelegenheit gehabt. In einem Artikel im Neuen Deutschland heißt es, dass Westberlin »unter Besatzungsrecht steht, nicht Bestandteil der Bundesrepublik Deutschland ist und von ihr nicht regiert werden darf. Die Frage der in Westberlin um Asyl nachsuchenden Personen fällt nicht in die Zuständigkeit der DDR. Die Einreise nach Berlin (West) ist ausschließlich Angelegenheit derjenigen, die dort aus den bekannten Gründen zu bestimmen haben. … Im übrigen sei nochmals unterstrichen, dass es die DDR aus politischen und humanitären Gründen ablehnt, die Verfolgung von Ausländern zu fördern, der sie in der BRD ausgesetzt sind. … Jeder Versuch, die DDR zu erpressen, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt.« (ND 30.07.1986) Leider war die DDR dann doch zu erpressen. Nur wenige Tage später erklärte sich die DDR bereit, Asylsuchende zurückzuschicken.

Das war eine der wichtigsten Verletzungen der Souveränität der DDR, die zur Vernichtung der DDR beigetragen haben. Ein Jahr später, 1987, besuchte der damalige Präsident der USA, Ronald Reagan, Westberlin. In einem spektakulären Auftritt forderte er Gorbatschow auf, »die Mauer abzureißen« (»Tear down this wall«). Das war ganz offensichtlich eine Kehrtwendung gegenüber dem »Ich bin ein Berliner« von John F. Kennedy 1962. Er leitete damit eine kurze Periode der Gemeinsamkeit mit dem deutschen Imperialismus ein (weniger mit dem französischen und britischen Imperialismus).

Im Mai 1989 wiederholte Bush die Forderung Reagans. Der Grund dafür war, dass die Beseitigung des Sozialismus in Europa in greifbarer Nähe lag. Allerdings verwickelten sich die Herrschenden in den USA in die altbekannten Widersprüche – man kann nicht mit dem deutschen Imperialismus zusammenarbeiten, man kann ihm keine Zugeständnisse machen, ohne dass er noch aggressiver und noch gieriger wird. Am 3. Oktober 1990 war die staatliche Existenz der DDR zerstört, die BRD hatte die DDR nach tatkräftiger Einmischung in die Herbstereignisse 1989 sich einverleibt. Nach dem Blutsrecht der BRD waren alle Staatsbürger der DDR sowieso schon immer Deutsche im Sinne des Grundgesetzes gewesen. Deshalb konnte man die Funktionsträger der DDR auch reihenweise vor Gericht stellen und bestrafen. Die BRD wurde zum einzigen imperialistischen Land, das nach dem 2. Weltkrieg sein Territorium vergrößert hat. Und dieses Ungetüm machte sich sogleich an die Zerstückelung Jugoslawiens, brachte die Pogrome in Rostock-Lichtenhagen hervor, der Antisemitismus kroch aus allen Löchern …

Ich hoffe, einiges an historischen Argumenten an die Hand gegeben zu haben zum Beleg der These, dass nach wie vor gilt: Der Hauptfeind steht im eigenen Land – und der heißt Deutscher Imperialismus!

Literaturhinweise

  • Friedrich Engels, Der deutsche Bauernkrieg, MEW Bd.7, S. 531 ff.

  • Marx und Engels über das reaktionäre Preußentum, Moskau 1947

  • Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung in 15 Kapiteln, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1967, insbes. Kap. IV – Ausgang des 19. Jahrhunderts bis 1914, Kap. XIV – 1949-1955, Kap. XV – 1956-1961

  • W. v. Goldendach, H.-R.Minow, »Deutschtum erwache!« – Aus dem Innenleben des staatlichen Pangermanismus, Berlin 1994

  • Franz Mehring, Gustav Adolf. Ein Fürstenspiegel zu Lehr und Nutz der deutschen Arbeiter, Berlin 1894 (Diese Schrift behandelt die Widersprüche im 30-jährigen Krieg mit ihren Bezügen zur Gegenwart und ist sehr lesenswert.)

Anmerkung

Die Kommunistische Arbeiterzeitung (KAZ) Nr. 300, Januar 2002 – »Stoppt die Kontinuität des deutschen Antisemitismus« – und Artikel in der KAZ Nr. 313 und 315 zur deutschen Arbeiterklasse und zur deutschen Sozialdemokratie (Oktober 2005/März 2006) wurden als Grundlage für dieses Referat benutzt.