Konferenz
»Der Haupt­feind steht im eigenen Land«

Die jährlich stattfindenden Konferenzen gegen den deutschen Imperialismus sollen den politischen Austausch und die Zusammenarbeit derjenigen revolutionären Kräfte fördern und vorantreiben, die in der Arbeiter- und demokratischen Bewegung für die Linie »Der Hauptfeind steht im eigenen Land« kämpfen wollen.

China und der deutsche Imperialismus

Sebastian Carlens, www.secarts.org

Mai 2009

Das Thema China knüpft teils an das an, was schon im Referat »Entwicklung der deutschen Bourgeoisie seit dem Bauernkrieg« ausgeführt ist. In den Text wurden Ausschnitte aus den Artikeln »China und die Einflussversuche des deutschen Imperialismus« (KAZ 324) und »Bestens integriert« (konkret 8/09) eingearbeitet, an denen der Referent mitgewirkt hat.

Im Referat »Entwicklung der deutschen Bourgeoisie« wurde geschildert, wie die deutsche Bourgeoisie sozusagen zu kurz und zu spät gekommen die Weltbühne betreten hat; zu einem Zeitpunkt, als die Welt im Wesentlichen bereits aufgeteilt war, zumindest in der vor-monopolistischen, nicht-imperialistischen Phase des Kapitalismus: meist im Sinne von direkt abhängigen Kolonien, die maßgeblich durch die Kolonialmächte England und Frankreich unter Kontrolle gebracht wurden. Das deutsche Reich, 1871 gegründet, war dort zu spät dran und bekam vom kolonialen Kuchen nur wenig ab. Ungefähr um die Jahrhundertwende könnte man den Eintritt in die imperialistische Phase festlegen; hier will ich mich auf das Jahr nicht festlegen, da es sicherlich unterschiedliche Definitionen gibt. Als Kriterium sei erwähnt, dass der Eintritt in die imperialistische Phase auch die Politik gegenüber abhängigen Ländern ändert und ohne direkte Kolonialisierung und statt dessen mit einer Vielzahl von Mechanismen funktioniert, durch die abhängige Länder unter imperialistische Kontrolle gezwungen werden.

China ist nicht nur das bevölkerungsmäßig größte Land der Welt, sondern auch dasjenige mit der längsten kontinuierlichen Geschichte und Geschichtsaufzeichnung, also ein Land, welches zu den klassischen Kulturnationen gehört und bereits vor rund 2500 Jahren über einen zentralistischen Staat mit gemeinsamer Schrift und Währung, vereinheitlichten Maßen und einheitlicher Zeitmessung verfügte und damit dem Europa dieser Zeit weit voraus war. Das chinesische Reich war während seiner langen Existenz verschiedenen Machtwechseln unterworfen und hat, genauso wie europäische Staaten, verschiedene Epochen durchlebt und von der Sklavenhaltergesellschaft in den Feudalismus gewechselt; allerdings mit einem großen Unterschied zu Europa: der chinesische Feudalismus verfügte über eine außerordentliche Stabilität und hat über ungefähr 2400 Jahre existiert und dabei eine große kulturelle und zivilisatorische Blüte hervorgebracht. Im Gegensatz zum europäischen Feudalismus, während dessen viele Errungenschaften, die aus der römischen Sklavenhalterzeit bereits bekannt waren, wieder verloren gingen und kulturelle Stagnation und Rückschritt herrschte, hat der chinesische Feudalismus – im Kontrast zu den vorangegangenen Phasen – dem chinesischen Reich eine große Ausdehnung und eine in Asien dominierende Kultur gebracht. Auch wenn China nie eine Form direkter Kolonialpolitik betrieben hat, übte das chinesische Reich indirekte, kulturelle und wirtschaftliche Kontrolle über den südostasiatischen Raum aus. Insbesondere über Handel und Warenverkehr war China in Kontakt mit Afrika und über die Seidenstraße wie auch die sog. »Seidenstraße zu Wasser« mit Europa. Bereits vor Kolumbus’ großen Fahrten nahm eine chinesische Armada, aus über 300 großen Schiffen bestehend, mehrere Exkursionen in den Indischen Ozean bis nach Afrika vor. Die chinesische Technik und Wissenschaft war der europäischen – damals im Spätmittelalter befindlichen – weit überlegen, und eine hypothetische Überlegung, was bei einem – weniger friedlichen – Zusammentreffen in Europa geschehen wäre, wenn die chinesische Flotte bis nach Europa weiter gereist wäre, käme sicher zu dem Ergebnis, dass daraus eine vernichtende Niederlage für Europa und eine lang andauernde Phase chinesischer Dominanz über den bekannten Erdball entstanden wäre.

Dass es dazu nicht kam und die chinesische Zivilisation ihre Flotte versenkte, anstatt zum Griff nach der Herrschaft über die Weltmeere anzusetzen, hängt direkt mit dem wesentlichen Faktor, der später zur Stagnation und zum Verfall des chinesischen Feudalismus führen sollte, zusammen: der Größe des eigenen Binnenterritoriums, das groß genug war, um sich ökonomisch darauf beschränken zu können.1 Nach dem Abbruch aller Versuche, durch Handel Einfluss in aller Welt aufzunehmen, blieb China ungefähr seit der Ming-Dynastie auf sich selbst beschränkt. In diesem Moment trat der chinesische Feudalismus in eine Phase des Niedergangs ein und konnte seine großen technischen und wissenschaftlichen Errungenschaften nicht mehr ausbauen und weiterentwickeln. Mit der Erstarrung des Gesellschaftssystems ging eine voranschreitende Formalisierung des zivilisatorischen Lebens einher. Im Bildungssystem entwickelte sich eine Kultur des Auswendiglernens und Herbetens konfuzianischer Lehr- und Glaubenssätze. Technik und Kultur verharrten auf einem Niveau, das bereits seit Jahrhunderten erreicht und konsolidiert war.

An diesem Punkt der Entwicklung war klar, dass China nicht dauerhaft als feudales Reich weiter existieren konnte, zumal ursprünglich schwächere Mächte, insbesondere in Europa, eine tiefgreifende Wandlung durchmachten: Mit der industriell-technischen Revolution, gesellschaftlich in Form des Eintritts in die kapitalistische Phase, die in China noch nicht einsetzte, schwangen sich neu entstehende Nationen auf, die Welt mit überlegenen Waffen und höher entwickelter Technik zu erobern.

Nichtsdestotrotz gab es auch in China immer wieder Versuche, die feudale Ordnung zu stürzen; neben Bauernaufständen kam es zu Revolutionsversuchen, die allerdings den Feudalismus bis in das 20. Jahrhundert nicht beendet konnten. Europa befindet sich in der Epoche des Kapitalismus, China ist als großes feudalistisches Land erstarrt und bereits sehr geschwächt, und Europa hat China spätestens im beginnenden 19. Jahrhundert technisch überrundet – erst mit diesen Vorraussetzungen bestand die Möglichkeit, China mit fortschrittlicheren Waffen militärisch angreifen und über China Dominanz ausüben zu können. Mit dem sog. 1. Opiumkrieg 1848 begannen die Briten, aus einem zunächst ganz profanen Grund China zu attackieren: Indien war damals bereits britische Kolonie, und mit China bestanden durchaus größere Handelsbeziehungen; China allerdings hatte festgelegt, dass sämtliche chinesischen Waren ausschließlich in Silber zu bezahlen waren. Da unter anderem der gesamte Teebedarf Englands aus China gedeckt wurde,2 führte dies zu einem riesigen Silberabfluss nach China, da die Briten sozusagen alles »in barer Münze« zahlen und tonnenweise Silber an China abgeben mussten und keine andere Möglichkeit hatten, mit China zu handeln – bei den Handelsgütern handelte es sich vor allem um Tee, Porzellan, Seide und Textilien. Der britische Versuch, dieses Handelsungleichgewicht auszubalancieren, ging über den groß angelegten Export von Opium nach China, das wiederum mit Silber von China eingekauft werden musste – so ließ sich der einseitige Silberabfluss stoppen und die Handelsbilanz ausgleichen. Der chinesische Versuch, den aufgezwungenen Opiumimport zu stoppen, führte zu einem militärischen Angriff Englands auf China und endete mit einer Niederlage Chinas: die fortschrittlicheren Waffen und die höher entwickelte Marinetechnik Englands hatten sich durchgesetzt; China wurde zu empfindlichen Souveränitätsaufgaben, unter anderem zur Öffnung mehrerer Häfen für den Handel mit Europa und zur Zulassung fremder Garnisonsstützpunkte und christlicher Missionen, gezwungen.

Der zweite Opiumkrieg 14 Jahre später erweiterte die ausländischen Rechte innerhalb China, neben den Briten nahmen nun auch andere kapitalistische Mächte – vor allem Frankreich – am Ringen um die Aufteilung des riesigen Landes teil. Spätestens ab diesem Zeitpunkt war China kein unabhängiges Land mehr, sondern bereits in der Phase der Abhängigkeit von kapitalistischen Nationen als zumindest halbkoloniales oder teilkolonialisiertes Land.

Mit der erneuten Niederlage auch im Zweiten Opiumkrieg begann der »große Run« der kapitalistischen Nationen um die Aufteilung Chinas. Auch Deutschland war nunmehr, nach der Reichseinigung 1871, in der Lage, nach China zu greifen.

Im November 1897 hatte das deutsche Kaiserreich die Jiaozhou-Bucht in Shandong okkupiert. Dem entstehenden deutschen Imperialismus gelang es damit, verspätet auch in China Fuß zu fassen; im Gegensatz zu den allermeisten anderen kolonialisierten Ländern war China trotz der beiden »Opiumkriege«3 noch nicht vollständig zerstückelt und aufgeteilt worden. Somit begannen alle imperialistischen Mächte im Wettlauf, einen möglichst großen Teil Chinas unter Kontrolle zu bringen.

Seit Mitte der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts drängten Kapitalkreise die deutsche Reichsregierung, einen Marinestützpunkt an der chinesischen Küste zu errichten, um von dieser Ausgangsbasis China aufrollen zu können; die Wahl fiel auf die strategisch günstig gelegene Jiaozhou-Bucht (»Kiautschou«). Als Anlass für die Aggression wurde die Ermordung zweier deutscher Missionare durch Chinesen genommen. Am 14. November 1897 landete ein 720 Mann starkes Landungskommando mit drei Kampfschiffen in der Bucht und erzwang mit der Drohung, die Hafenstadt Qingdao (»Tsingtau«) zusammenzuschießen, den Abzug der chinesischen Garnison. Einen Monat später traf kaiserliche Truppenverstärkung ein; im März 1898 zwang die deutsche Reichsregierung die chinesischen Qing-Herrscher im sog. »Kiaotschou-Vertrag« zur Abtretung eines 515 Quadratkilometer großen Gebietes – in der Sprache der Imperialisten ein »Pachtvertrag« für »99 Jahre«. »Der Griff des deutschen Imperialismus nach Kiaotschou löst ein erbittertes Ringen fast aller imperialistischen Mächte um die Aufteilung Chinas aus, und China geriet immer mehr in eine politische und wirtschaftliche Abhängigkeit von den imperialistischen Mächten. Das chinesische Volk beantwortete diesen Raubzug jedoch mit dem machtvollen Yihetuan-Aufstand.«4

Nur drei Jahre nach Besetzung der Jiaozhou-Bucht drohte der Volksaufstand der Yihetuan die koloniale Beute zunichte zu machen. Der Tod des deutschen Gesandten von Ketteler während des Yihetuan-Aufstandes in Beijing diente der deutschen Führung zur propagandistischen Untermauerung ihrer Invasion. Die Qing-Herrscherin Cixi versuchte, den zunächst erfolgreichen Aufstand für sich zu vereinnahmen; die Yihetuan-Organisation wurde als legal anerkannt. Um die chinesischen Besitztümer vor der vollständigen Eroberung durch die erstarkende Yihetuan-Bewegung zu retten, schiffte sich ein internationales Expeditionskorps unter dem britischen Admiral Seymour nach China ein – zunächst zusammengesetzt aus 300 Engländern, 112 Amerikanern, 26 Österreichern und 40 Italienern. Am 10. Juni stießen auch russische, französische und deutsche Abteilungen, letztere mit 350 Soldaten, dazu. Admiral Seymour war jedoch kein Kriegsglück beschieden: Am 21. Juni trieben Yihetuan-Kämpfer und reguläre chinesische Truppen das Expeditionskorps in die Enge.

Nun jedoch schlug die Stunde der Deutschen. Admiral Seymour gab das Kommando an Kapitän von Usedom, der mit vier Kompanien das Korps befreite: »the Germans to the front«. Unter dem Eindruck des militärischen Erfolgs der Interventen ließ die Qing-Herrschaft von ihrer Unterstützung für die Yihetuan ab und schickte gar reguläre chinesische Soldaten auf Seiten der Angreifer mit in den Kampf. Bis zum 14. August hatten sich die Truppen gegen den blutigen und heldenhaften Widerstand der Yihetuan bis nach Beijing vorgekämpft; die Stadt wurde drei Tage lang geplündert und teilweise niedergebrannt. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs, am 7. November 1914, wurde die damalige deutsche Kolonie Qingdao nach 3 Monaten Belagerung durch japanische Truppen besetzt. 5.000 deutsche Soldaten konnten gegen die Übermacht von 30.000 Japanern nichts ausrichten; das deutsche Ostasiengeschwader floh in den Pazifik, die deutsche Garnison ging in japanische Kriegsgefangenschaft. Mit der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg 1918, dem durch den Versailler Vertrag festgelegten Verlust sämtlicher deutscher Kolonien und der drastischen Verkleinerung der deutschen Armee war der Traum vom mit Bajonetten errichteten deutschen Weltreich zunächst vorbei. Bis nach Ostasien sollten deutsche Soldaten nie wieder kommen.

Mit dem raschen Ende der deutschen kolonialen Expansion nach China waren neue Strategien erforderlich, um dort gegen die bereits etablierten Konkurrenten zum Zuge zu kommen: Großbritannien hatte Indien in der Hand, operierte mit Militär im chinesischen Kernland und arbeitete dort bei der Aufteilung des riesigen Landes mit Frankreich, das mit der damaligen Kolonie »Indochina« (Vietnam, Kambodscha, Laos) an der südlichen Grenze Chinas einen militärischen Posten innehatte, zusammen. Russland war nach der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution aus dem Wettrennen ausgeschieden und hatte, zu Sowjetzeiten, gar besetzte Gebiete geräumt – dafür aber eine große gemeinsame Grenze mit China und der verbündeten Mongolischen Volksrepublik, was das Land für die Imperialisten noch attraktiver machte. Hinzugekommen waren neue imperialistische Mitspieler: Die Japaner, die seit den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts einen immer aggressiver werdenden Kurs gegen China einschlugen, hatten den Deutschen die Kolonie Qingdao abgenommen und rüsteten für eine militärische Intervention im chinesischen Kernland, die in den dreißiger Jahren beginnen sollte. Und die USA, die sich aus militärischen Scharmützeln weitestgehend hinaushielten, aber dennoch begehrlich nach Asien schielten: Spätestens mit der beginnenden Konfrontation mit Japan sollte China für die USA der erste Austragungsort für die zwischenimperialistischen Widersprüche mit Japan werden.

In China selbst herrschte Chaos. Die bürgerliche Revolution unter Dr. Sun Yat-Sen, die in den Jahren 1911/12 den Sturz der letzten chinesischen Kaiserdynastie, der Qing, vermochte, war stecken geblieben und an der kompletten Befreiung des Landes gescheitert; nicht nur Kämpfe mit verschiedenen Warlords,5 die einzelne Teile des Landes unter ihre Kontrolle brachten, sondern auch interne Streitigkeiten schwächten und zerstörten schließlich die bürgerlich-demokratische Befreiungsbewegung Chinas: Nach Dr. Sun Yat-Sens Tod 1925 änderte sein Nachfolger Chiang Kai-shek6 den Kurs, brach mit der 1922 gegründeten und bis dahin gemeinsam mit der chinesischen nationalen Bourgeoisie um nationale Unabhängigkeit kämpfenden Kommunistischen Partei Chinas und ließ sich mit verschiedenen Imperialisten ein. Aus der nationalen Befreiungsbewegung war ein Instrument der Kompradoren geworden; die Führung im nationalen Befreiungskampf ging an die Arbeiterklasse über, die unter Führung des Genossen Mao Zedong ihre Kommunistische Partei und Volksbefreiungsarmee in verschiedenen Kämpfen stählen, in aufreibenden Märschen durch das gesamte Land konsolidieren und ganze Landstriche Chinas unter die Kontrolle des Volkes bringen konnte. Dies brachte ihr die Todfeindschaft der ausländischen wie inländischen Reaktionäre ein.

Deutschland und China zwischen 1927 und 1938/39

Nach dem Scheitern der kolonialen Vorstöße Deutschlands in das Herz Chinas und der Niederlage im Ersten Weltkrieg – mit allen damit verbundenen Folgen, insbesondere dem Versailler Vertrag – wurde die neu entstandene Weimarer Republik gezwungen, die Republik China als gleichrangiges Land anzuerkennen und sämtliche einst mit Gewalt erpressten Sonderrechte gegenüber China aufzugeben. Doch die weltpolitisch isolierte Lage Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg machte es verschiedenen Ländern – wie beispielsweise auch der jungen Sowjetunion mit den sog. »Rapallo-Verträgen« – möglich, von den zwischenimperialistischen Widersprüche zu profitieren: Die junge chinesische Republik nahm nicht nur enge Kontakte zur UdSSR auf, sondern versuchte auch die Schwächung und Bündnisbereitschaft Deutschlands zu nutzen, um von deutschem Know-How, insbesondere im militärischen Bereich, zu profitieren. 1928, drei Jahre nach dem Tod Dr. Sun Yat-Sens, kam es schließlich zu einer offiziellen deutschen Beraterschaft, die sich in der Stadt Nanjing niederließ. 1927 brach der neue Machthaber der Guomindang, Chiang Kai-shek, mit der einst verbündeten Sowjetunion und begann in China einen Ausrottungsfeldzug gegen die Kommunisten. Damit verbunden war der Rückzug der bis dahin in China tätigen sowjetischen Militärberater; ihren Platz nahmen nun die deutschen Gesandten ein. Max Bauer, einstige rechte Hand des deutschen Militärs Erich Ludendorff und prominenter Teilnehmer des Kapp-Putsches, fand während einer von deutschen Industriellen anberaumten Inspektionsreise durch China Kontakt zu Chiang Kai-shek und freundete sich mit diesem an; er wurde von chinesischer Seite wie von Kreisen deutscher Industrieller beauftragt, die Auswahl der militärischen und zivilen Berater zu treffen, die nach China entsandt werden sollten. Bauer verstarb im Jahre 1929, als er sich während seiner Teilnahme am Feldzug der Nationalisten gegen die Rebellen in Guangzi eine Pockeninfektion zuzog.7

Auch die deutsche Monopolbourgeoisie hatte den unerschöpflich scheinenden chinesischen Markt wieder stärker im Blick: 1930 bereiste eine Sonderkommission des Reichsverbandes der Deutschen Industrie drei Monate lang China. Als Teilnehmer dieser Delegation fanden sich Vertreter des Maschinenbaus, der Elektro- und Stahlindustrie und auch der Präsident der deutschen Reichsbank. Zeitgleich zur China-Reise der Industriellen übernahm die Reichswehrführung offiziell die Beraterschaft in China und entsandte mit Georg Wetzell einen General der Reichswehr im Ruhestand als Oberhaupt der Beratergruppe nach Nanjing. Unter Wetzell, im Ersten Weltkrieg unter Ludendorff Chef der Operationsabteilung, erreichte die deutsche Beratergruppe ihre größte Ausdehnung: 77 ehemalige deutsche Militärs waren direkt beim Umbau der Guomindang-Armee oder als Lehrende an Militärakademien tätig. Chiang Kai-shek, der sich zu dieser Zeit nahezu ausschließlich auf die deutschen Berater verließ, wurde immer mehr von deren Wirken und Unterstützung abhängig: Deutsche Hilfe wurde für die Diktatur der Guomindang wie auch für Chiangs persönliches Regime zur Überlebensfrage.8 Nicht nur die deutschen Imperialisten, sondern auch die deutsche Arbeiterklasse interessierte sich für China – aus Solidarität mit der Revolution der chinesischen Klassenbrüder. Das immer mehr erstarkende Engagement deutscher Wirtschaftskreise und Militärs führte zu massiven Protesten der organisierten Arbeiterschaft bis hin zu Sabotageaktionen der Werft- und Hafenarbeiter gegen Waffenverschickungen nach Fernost; die Kommunistische Partei Deutschlands mobilisierte zur groß angelegten Kampagne »Hände weg von China«. Das Zentralorgan der KPD, die »Rote Fahne«, sowie die kommunistische Illustrierte »AIZ« (»Arbeiter-Illustrierte Zeitung«) versorgten die damals mehrere Millionen zählende Leserschaft mit aktuellen Berichten aus dem revolutionären China. Insbesondere mit dem als »Kantoner Kommune« bekannt gewordenen Aufstand in Guangzhou im Jahre 1927 übten deutsche Kommunisten proletarische Solidarität; auch über die Gräueltaten der Nationalisten, begangen nach Plänen und mit Waffen des deutschen Militärs, wurde breit berichtet. Bei verschiedenen Kongressen und Veranstaltungen kam es zur Verbrüderung chinesischer, sowjetischer und deutscher Genossen. Proletarischer Internationalismus – für die KPD und ihren Vorsitzenden, Genossen Ernst Thälmann, keine leere Floskel.

Die Machtübertragung an die deutschen Faschisten änderte nichts an den Konzeptionen der deutschen China-Politik, sondern beschleunigte die Entwicklung gar noch: Insbesondere durch die Kommunistische Partei Chinas und ihre befreiten Gebiete war Chiangs Herrschaft, und damit auch der deutsche Einfluss, konstant gefährdet – die KP Chinas konnte verschiedene Provinzen unter ihre Kontrolle bringen, errichtete dort eine Räteherrschaft und schickte sich an, ganze Teile Chinas zu befreien. Chiang reagierte – auf deutschen Vorschlag – mit militärischer Eskalation: General Wetzell ersann eine Strategie befestigter Stützpunkte, schlug die standrechtliche Erschießung sämtlicher habhaft gewordener Kommunisten vor9 und spielte bei allen fünf von Chiang Kai-shek durchgeführten »Umkreisungs- und Vernichtungsfeldzügen« gegen die Kommunistische Partei Chinas eine herausragende Rolle. China sollte, so die Überlegung bedeutender deutscher Militärs und Industrieller, zu einem antikommunistischen Bollwerk ausgebaut werden. Noch vor dem Pakt mit dem faschistischen Japan schloss Deutschland 1936 einen Anleihevertrag mit China, der von Seiten der deutschen Industrie und Wehrmacht seit 1933 gefordert wurde.10 Auf Einladung Chiang Kai-sheks übernahm der prominente deutsche General Hans von Seeckt – einstiger Chef der Reichswehr und nun im Ruhestand – die deutsche Militärberaterschaft, erwarb sich wie seine Vorgänger Bauer und Wetzell das besondere Vertrauen Chiangs und war sogar berechtigt, im Namen des Marschalls eigenständig Befehle zu erteilen. Die Deutschen machten sich den autoritären Herrschaftsstil Chiangs zu Nutze, ermunterten ihn zu hartem Durchgreifen gegen Oppositionelle und Kommunisten und erarbeiteten nach 1933 gar einen Plan für eine Umwandlung der Republik in eine offen faschistische Diktatur: auf deutsches Geheiß wurde 1934 eine faschistische Bewegung namens »Neues Leben« aus der Taufe gehoben. Das Scheitern der hochtrabenden deutschen Pläne an den gesellschaftlichen Realitäten Chinas steht allerdings auf einem anderen Blatt: die chinesischen Faschisten, die so genannten »Blauhemden«, endeten als persönliches Terrorinstrument Chiang Kai-sheks gegen politische Konkurrenten.11

Das Hauptinteresse der Beraterschaft unter von Seeckt war jedoch weniger ideologischer, sondern in erster Linie wirtschaftlicher Natur: Der Gesandtschaftsleiter erreichte ein Tauschhandelsabkommen, die Umwandlung des deutsch-chinesischen Tauschhandels in Staatsmonopole auf beiden Seiten und einen Kredit des Reichswirtschaftsministeriums über 100 Millionen Reichsmark – mit dem Ergebnis eines enormen Aufschwungs deutscher Waffenexporte: 1937 gingen 37 Prozent der deutschen Waffenexporte nach China.12 Andere deutsche Wirtschaftsbereiche zogen nach: das riesige Chemiekonglomerat IG Farben erwarb ein Monopol in China, die AEG drängte auf den Markt, und Siemens konnte seine seit der Kolonialzeit bestehenden Verbindungen nach China erfolgreich reaktivieren und ausbauen.13 Stand Deutschland 1932 noch an fünfter Stelle der chinesischen Importe, nahm es 1937 bereits den zweiten Platz mit 17 Prozent der gesamten chinesischen Einfuhr ein – nur übertroffen durch die USA. Andersherum importierte Deutschland 1937 72 Prozent seines Wolfram-Bedarfs aus China – dieses Metall ist insbesondere für die militärisch wichtige Produktion von hochwertigem Stahl bedeutsam und in Deutschland nicht natürlich vorhanden.

»China ist für die Deutschen wie ein offenes Buch«

– zu dieser Erkenntnis gelangte im Jahre 1935 der Bericht einer englischen Handelsmission.14 Doch zur Wende in den bis dahin für Deutschland günstig verlaufenden Beziehungen zu China und zum Abbruch der deutschen China-Strategie kam es, als das verbündete faschistische Japan seine Aggression gegen China steigerte und 1937 direkte kriegerische Aktivitäten entwickelte. Hatte der damalige Leiter der Beraterschaft, der deutsche General Alexander von Falkenhausen, noch auf Seiten der Chinesen an strategischen Verteidigungsplänen für die Schlacht um Shanghai und Nanjing mitgewirkt, stellte die deutsche Regierung nun aufgrund scharfer Proteste Japans die offiziellen Rüstungsverkäufe an China ein. Immerhin bis 1939 gelang es jedoch, mehr oder weniger heimlich einen florierenden Handel mit China aufrecht zu erhalten; noch bis 1939 bezog Deutschland beispielsweise 50 Prozent seines Wolframbedarfs aus China.15 Doch die Weichen waren gestellt:

Mit der deutschen Anerkennung des von Japan geformten Marionettenstaates »Mandschukuo« und dem Abzug der deutschen Militärberater im Sommer 1938 endete die Beraterschaft Deutschlands in China formell; als die deutsche Regierung endgültig den von Japan ausgehaltenen Marionettenherrscher Wang Jing-wei anerkannte, brach Chiang Kai-shek 1941 auch die diplomatischen Beziehungen mit dem deutschen Reich ab. Deutschland hatte sich eindeutig auf die Seite des verbündeten faschistischen Japan gestellt und zog sich aus Ostasien zurück, um beim Kampf in Europa alle Kräfte zur Unterjochung der Nachbarländer frei zu machen. Eine zunächst außerordentlich erfolgreich erscheinende Beziehung faschistisches Deutschland – nationalistische Republik China ging damit zu Ende.

Das Ringen um die Zerschlagung Chinas nahm einen erneuten Aufschwung, als das faschistische Japan mit der Invasion begann. Chiang Kai-shek, sämtlicher Verbündeter verlustig gegangen, versuchte den Widerstand gegen die japanische Intervention so gering wie möglich zu halten und sich statt dessen lieber der Kommunisten zu entledigen.16 Die USA, ebenfalls mit Japan im Kriegszustand, nahmen Chiangs Regime als neuer Komprador unter ihre Fittiche.

Japan gelang es, die chinesische Mandschurei abzutrennen17 und eine Gegenregierung zu Chiang Kai-sheks Nationalisten unter Wang Jing-wei in den besetzten Gebieten zu installieren. Frankreich und Großbritannien hielten in verschiedenen chinesischen Großstädten ganze Stadtteile in ihrer Gewalt und wandelten diese als »Europäerviertel« in Stützpunkte zu weiterer ökonomischer und militärischer Aggression ins Kernland um. Großbritannien hatte obendrein die Halbinsel Hongkong als direkte Kolonie in Besitz und interessierte sich ganz besonders für eine weitere Provinz Chinas, die nur schwer erreichbar war und zudem kulturell besonders einfach zur Abspaltung bewegbar schien – und obendrein als militärisch uneinnehmbar galt und günstig an der Grenze zu Britisch-Indien lag: Tibet. Nur der deutsche Imperialismus, dessen Expansion auch nach China so hoffnungsvoll begonnen hatte, war vorerst nicht mehr dabei.

Tibet

Das Hochland von Tibet umfasst einen großen Teil des Himalaya-Gebirges und liegt auf einer durchschnittlichen Höhe von 4500 Metern – dies brachte ihm die Bezeichnung »Dach der Welt« ein. Seine größte Zeit erlebte Tibet zwischen dem 7. und 10. Jahrhundert unserer Zeitrechnung; die damalige tibetische Yarlung-Monarchie hatte durch kriegerische Feldzüge viel Gebiet unterworfen und in Innerasien zeitweise als Großmacht die Kontrolle ausgeübt. Die Eroberung durch die Mongolen im 13. Jahrhundert beendete die Eigenständigkeit Tibets jedoch, für immer: Von nun an war Tibet unter mongolischer Schirmherrschaft, und mit der Etablierung der mongolisch-chinesischen Yuan-Dynastie (die durch die Feldzüge der Mongolen zustande kam) wurde das Gebiet unter Kublai Khan in das damalige chinesisch-mongolische Kaiserreich integriert.18 Seitdem sind die Bande zu China, in unterschiedlichem Grade, eng: Tibet ist seit der Einigung der mongolischen Gebiete und Eroberungen mit dem chinesischen Kernland, spätestens jedoch seit der Zuschlagung zum feudalen Protektorat des Mandschu-Reiches (der Qing-Dynastie) im Jahre 1720 und der Errichtung eines Vasallenstaates des Mandschu-Kaiserhauses 179319 eindeutig Teil des chinesischen Reiches. Die innere Struktur Tibets wurde weder durch die mongolischen, noch – nach Ende der Yuan-Dynastie – durch die chinesischen (Ming-Dynastie) oder Mandschu (Qing-Dynastie)-Herrscher angerührt; was innerhalb Tibets geschah, war weitestgehend sich selbst überlassen. Seit Mitte des 17. Jahrhunderts hatte sich die Gelugpa-Sekte, die – nach ihrer traditionellen Mönchskleidung benannte – sogenannte »Gelbmützen«-Sekte, in mehreren blutigen Religionskriegen mit tatkräftiger Unterstützung durch die Mongolen gegen die älteren Vertreter anderer buddhistischer Schulen in Tibet durchsetzen können,20 ohne freilich jemals komplett die religiöse Deutungshoheit übernommen zu haben (so existieren auch heute noch konkurrierende, den Dalai Lama nicht anerkennende Gruppen, wie z. B. die »Rotmützen«, in Tibet). Einer der höchsten Würdenträger dieser buddhistischen Sekte, der so genannte Dalai Lama, der jeweils als Reinkarnation seines verstorbenen Vorgängers ausfindig gemacht und inthronisiert wird, nimmt seit dem 17. Jahrhundert die Regierungsbelange innerhalb Tibets als weltliches und geistiges Oberhaupt wahr. Der »große« 5. Dalai Lama (1617 bis 1682) war der erste Herrscher in dieser Reihe, die bis in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts andauern sollte.

Keineswegs origineller, wohl aber deutlich tatkräftiger als die religiösen Konkurrenten machte sich die Gelugpa-Sekte an die Unterwerfung des Gebiets und seiner Bewohner. Im ganzen Land wurden befestigte und bewaffnete Klöster gegründet, diese wiederum »befriedeten« das Umland. Viele Tibeter oder andere dort lebende Minderheiten hingen dem ursprünglichen »Bön«-Glauben an, einer polytheistischen, atavistischen Urreligion. Auch die fanatischen Gelugpa brachten nie mehr als eine Synthese aus importiertem Buddhismus mit Versatzstücken der Bön-Religion, verschiedener Volksaberglauben und Schutzgötterverehrungen zustande.21 Wohl aber gelang ihnen die absolute weltliche Herrschaft über Tibet. Sie etablierten ein feudal-theokratisches System, das weder an Engstirnigkeit, noch an Grausamkeit oder Armut der Bevölkerung allzu oft überboten werden sollte.

Hatten die tibetischen feudalen Eliten schon unter der chinesischen Herrschaft während der verschiedenen Dynastien des alten Kaiserreiches weitestgehend freie Hand, so konnten sie unter dem Eindruck der Wirren, in die das chinesische Reich nach den beiden Opiumkriegen22 geriet und der damit einhergehenden Schwächung der kaiserlichen Zentralregierung vollends nach der Macht greifen und schlussendlich nach der gescheiterten bürgerlichen Revolution eine Art rechtsfreien Raum herstellen. Die territoriale Zugehörigkeit Tibets zu China wurde dann auch im 19. Jahrhundert ernsthaft in Frage gestellt: Die Briten griffen nach der Provinz und bereiteten von Indien aus deren Übernahme vor. Im Jahre 1894 gelang es dem 13. Dalai Lama mit Schützenhilfe der britischen Imperialisten, den chinesischen Statthalter aus Lhasa zu vertreiben. Die chinesische Zentralregierung konnte wenig dagegen ausrichten, denn im chinesischen Kernland operierten längst britische Truppen, die die separatistischen Tendenzen der tibetischen Feudal-Theokratie reichlich unterstützten. 1911 stürzte die bürgerlich-demokratische Revolution unter Dr. Sun Yatsen die letzte (Qing-)Dynastie in China, und in den darauf folgenden Revolutions- und Bürgerkriegswirren ergriff der 13. Dalai Lama die Initiative: 1913 erklärte er Tibet – gegen den Widerstand der Republik China – für unabhängig.23

Sehr weit her war es mit dieser Unabhängigkeit jedoch nicht: weder China, noch irgendein anderes Land der Welt erkannte den neuen Staat an; auch fehlt die chinesischen Unterschrift auf dem »Unabhängigkeitsdokument«.24 Für die Chinesen war diese Episode bloß eine weitere nationale Demütigung, verübt durch die verschiedenen in China operierenden imperialistischen Mächte. Massive Auswirkungen hatte die neue Politik des 13. Dalai Lama jedoch für die tibetische Innenpolitik: nachdem bereits in den vorangegangenen Jahrhunderten wenig Einmischung durch die chinesische Zentralregierung in das tibetische Geschehen stattfand, hatte die herrschende buddhistische Dynastie nun völlig freie Hand.25 In Tibet herrschte zu dieser Zeit tiefstes Mittelalter: 95 Prozent der Bevölkerung waren Analphabeten; regelmäßige Kindesentführungen frischten den Bedarf an Mönchen auf. Der breiten Bevölkerung waren nahezu alle Fortschritte der kapitalistischen Epoche unbekannt; angefangen von völlig fehlender westlicher Medizin, die eigentlich harmlose Krankheiten zur tödlichen Bedrohung machte, über bitterste Armut und Mangel am Notwendigsten bis hin zu unerträglichen hygienischen Zuständen glich Tibet einem Reich, das irgendwo in grauer Vorzeit stehen geblieben war. Um dies zu belegen, braucht man nicht auf chinesische Quellen zurückzugreifen – die wenigen westlichen Reisenden, die in den vor der Befreiung 1950 liegenden hundert Jahren nach Tibet gelangten, zeichnen ein in der Regel vernichtendes Bild. Von christlichen Missionaren, Forschungsreisenden und britischen Offizieren bis hin zu den eigentlich höchst begeisterten deutschen Nazis wird das Leben der einfachen Bevölkerung im alten Tibet als das pure Grauen gezeichnet: unerträgliche soziale Verhältnisse, diktatorisch regierende Kriegermönche, die Menschen niederdrückende Leibeigenschafts- und Ablassgabenregelungen, feudale Familien- und Machtstrukturen, krasse Frauenunterdrückung und ein an Grausamkeit kaum zu überbietendes Strafrecht, das für allerkleinste Vergehen drakonische Strafen vorsah: »Zu den bis weit in das 20. Jahrhundert hinein üblichen Strafmaßnahmen zählten öffentliche Auspeitschung, das Abschneiden von Gliedmaßen, Herausreißen von Zungen, Ausstechen von Augen, das Abziehen der Haut bei lebendigem Leibe und dergleichen. … Wie Dokumente der amerikanischen Illustrierten ›Life‹ belegen, fanden noch bis zum Einmarsch der Chinesen körperliche Verstümmelungen statt: einer Gruppe an Gefangenen sollten öffentlich Nasen und Ohren abgeschnitten werden; auf den Protest der amerikanischen Journalisten hin wurde die Strafe in je 250 Peitschenhiebe umgewandelt.«26 Im krassen Gegensatz zur unbeschreiblichen Armut der einfachen Bevölkerung lebt die prassende Elite des Landes, der buddhistische Klerus und die theokratischen und aristokratischen Feudalherrscher aus Lhasa. Im »Potala«, dem damaligen Sitz des Dalai Lama, wurde ein ungeheurer Goldschatz, über Jahrhunderte der Bevölkerung abgetrotzt, verwahrt; der Palast selbst und viele Klöster starren vor Goldornamenten und Goldstatuen. Die regelmäßige Eintreibung der drückenden Steuerlasten, von denen das Leben am Hofe des »Gottkönigs« bestritten wurde, stellte ein rigides System von Mönchsbeamtenschaften mittels einer ganz und gar nicht friedfertigen, bewaffneten Mönchspolizei sicher: »Tibet war überzogen von einem engmaschigen Netz an Klöstern und monastischen Zwingburgen, von denen aus das Land und die Menschen beherrscht und gnadenlos ausgebeutet wurden. Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit, Polizei und Militär lagen ebenso in den Händen von Mönchsbeamten wie Bildungs- und Gesundheitswesen, Grundbesitz sowie jedwede sonstige Verwaltung. […] Die überwiegende Mehrzahl der Menschen des alten Tibet lebte unter indiskutablen Bedingungen, ihre Behausungen und ihre Ernährung war katastrophal, Bildung oder Gesundheitsversorgung existierten nicht.«27

Jegliche Kritik am »alten Tibet« wird von exiltibetischen Gruppen und ihren westlichen Proliferanten als »chinesische Propaganda« weggewischt. Der Autor Colin Goldner kommt zu dem Fazit: »Für die große Masse der Bevölkerung war das ›alte Tibet‹ tatsächlich die ›Hölle auf Erden‹, von der in der chinesischen Propaganda immer die Rede ist, und aus der das tibetische Volk zu befreien als Legitimation und revolutionäre Verpflichtung angesehen wurde für den Einmarsch 1950.« »Die exiltibetische Gemeinde [also die sog. »Exilregierung« des Dalai Lama in Indien, Anm. d. Verf.] hat sich bis heute gegen jede kritische Beleuchtung der Geschichte des ›alten Tibet‹ mit aggressiver Vehemenz verwahrt.«28

Die »Nazi-Tibet-Connection« und der Ursprung der Tibethysterie in Deutschland

Wenn sich heute manch einer wundert über die oftmals weltfremd wirkende Begeisterung vieler Deutscher für Tibet und sich die dazu passende Frage stellt, wann und warum dieser Trend um sich griff und ausgerechnet Tibet, nicht aber – beispielsweise – die Inka, das alte Guatemala oder die Voodoo-Religion in Lateinamerika zum Ziel der Sehnsüchte, Interpretationen und Träumereien von einem fernen, unberührten, nicht von »Zivilisation« und »Technik« verseuchten Märchenland machte, so wird auch die Antwort verwundern: Der Tibet-Hype in Deutschland begann – 1942.

Damals wurde ein Film namens »Geheimnis Tibet« zum Kassenschlager der UFA-Filmpaläste, der erstmals das deutsche Publikum mit der Existenz des abgelegenen Landstrichs bekannt machte und bereits viel von den später mit dem »Tibet-Mythos« in Verbindung gebrachten Elementen enthielt: Tibet, ein gänzlich abgeschottetes, schwer bis gar nicht zu erreichendes fernes Wunderland, regiert von religiösen Führern nach uralten Weisheiten, unerschüttert von all den modernen – je nach Lesart – Segnungen oder Flüchen. Zum Film passend überschwemmt eine wahre Flut von Publikationen die deutsche Öffentlichkeit: »Geheimnisvolles Tibet«, »Wikinger der Wissenschaft«, »Wir reiten in die verbotene Stadt des Dalai Lama«, »Im Schatten der Götterburg«, »Mit der Kamera im verbotenen Land«, »Laaloo – die Götter wollen es«, »Ein Hannoveraner in Tibet, dem dunklen Herzen Asiens«, »Das entschleierte Tibet«, »Der Gottkönig empfängt uns«, und dergleichen mehr: in über 400 zentral durch Goebbels’ »Reichsschrifttumskammer« ferngesteuerten Medien wurde die Tibethysterie geschürt.29 Das obsessive Interesse der deutschen Faschisten an Tibet hatte neben abstrusen Rasseideen30 auch einen ganz profanen Hintergrund: den zweiten Weltkrieg. Um die Lage an der Heimatfront ruhig zu halten und der Bevölkerung neue Kriegsbegeisterung einzuhauchen, wurden verschiedenste Register gezogen; eine breite Publikationswelle über nacheifernswerte ostasiatische Kriegerreligionen, die Samurai oder eben die durchaus nicht gewaltlose tibetische Kultur sollten Ablenkung schaffen und zu neuer Aufopferung inspirieren. Der Film entstand aus dem mitgebrachten Filmmaterial einer deutschen Expedition, die unter dem Leiter, SS-Untersturmführer Ernst Schäfer, unter der »Schirmherrschaft der SS« 1938/39 auf das »Dach der Welt« gereist war. Entstanden waren die Pläne zur Expedition im »SS-Ahnenerbe«, der pseudowissenschaftlichen Denkfabrik Heinrich Himmlers. Dementsprechend wurde die Expedition nicht nur mit den nötigen Experten für Geologie, Schürfforschung und Metallurgie ausgestattet, die nach für »Großdeutschland« ausbeutbarem Material suchen sollten, sondern obendrein auch mit Schädelvermessern und »Rassekundlern« bestückt. Der Expeditionsteilnehmer Bruno Beger zum Beispiel, der sich in Nazideutschland als »Experte für Schädelkunde« einen Namen gemacht hatte und für die Expedition folgendes Programm entwarf: »Suche nach fossilen Menschenresten. Suche nach Skelettresten früherer nordischer Einwohner. Erforschung der nordischen Rasse unter der Bevölkerung.« Fündig wurde Beger dann unter der herrschenden Mönchskaste und im tibetischen Adel: »Hoher Wuchs, gepaart mit langem Kopf; schmales Gesicht, Zurücktreten der Backenknochen, … herrisch selbstbewusstes Auftreten«.31

Die Suche nach Bodenschätzen, der Wunsch nach Filmmaterial für die Erbauung der kommenden »Heimatfront« und die Rasseideen Heinrich Himmlers, der im Himalaja auf den Fund gemeinsamer Urahnen der »Arier« hoffte, waren nur die oberflächlichen Gründe für die teure und nicht ungefährliche Expedition in ein Gebiet der Welt, das damals zu den unzugänglichsten des gesamten Planeten gehörte. Tatsächlich waren es in erster Linie geostrategische Planungen, die diese Reise – immerhin durch die Linien der Briten und deren Kronkolonie Indien – ermöglichten: Tibet nahm in den Planungen für ein imperialistisches Roll-Back durch Deutschland eine strategische Position ein. Einmal gegen die Briten, die in Indien saßen und nicht nur durch von den deutschen Faschisten aufgewiegelte indische »antiimperialistische Freiheitskämpfer«,32 sondern auch von der Grenze zu Tibet unter Feuer genommen werden sollten; andererseits auch für einen kommenden Zusammenschluss mit der verbündeten faschistischen »Achsenmacht« Japan in China, die zum Zeitpunkt der Expedition bereits tief im chinesischen Kernland militärisch operierte. Um diese geographische Schlüsselposition zu besetzen, waren zunächst einmal Beziehungen zur tibetischen Herrscherkaste nötig – Tibet unterhielt selbstverständlich keinerlei Botschaften, hatte weder Diplomaten noch Gesandte im Ausland und verfügte weder über Telefon-, noch wenigstens über Postanbindung an den Rest der Welt. Die SS-Männer waren also in vielfacher Mission unterwegs: Neben Bodenschürfungen, Schädelvermessungen und Filmaufnahmen waren sie das diplomatische Corps des deutschen Faschismus auf dem Hochplateau im Himalaja. Die SS-Männer, in Tibet angelangt, waren fasziniert vom Land »unter dem östlichen Hakenkreuz«. Einiges kannten sie aus eigener Anschauung, aus Deutschland, dem Land unter dem »westlichen Hakenkreuz«: Ernst Schäfer, der an den Menschenexperimenten des KZ-Arztes Rascher in Dachau teilnahm, und Bruno Beger, der später wegen Mordes an 86 sowjetischen Kriegsgefangenen vor Gericht gestellt wurde,33 deren Skelette er einer »anthropologischen Sammlung« von »Judenschädeln« einverleibt hatte und dafür extra eine »Entfleischungsmaschine« orderte, fühlten sich im nekrophilen, makabren und düsteren tibetischen Ritualglauben wie zu Hause. Befriedigt konnte Schäfer dann auch feststellen: »Zwecks Beschwichtigung der tantrischen Gottheiten sind anstelle milder Gaben von Blumen und Früchten auch heute noch Blutopfer gebräuchlich.«34 Die SS-Expedition war jedenfalls ein Erfolg auf ganzer Linie: das Treffen mit dem damaligen Regenten Renting Rinpoche, der die Deutschen auf einem mit Hakenkreuzen geschmückten Thron sitzend empfing, löste nicht nur bei Schäfer mythische Gefühle und übersinnliche Erfahrungen aus, sondern brachte auch handfeste Ergebnisse: zwei versiegelte Schreiben, je an Adolf Hitler und Heinrich Himmler: »Dem trefflichen Herrn Hitler (König) der Deutschen, der erlangt hat die Macht über die weite Erde! … Gegenwärtig bemühen Sie sich um das Werden eines dauerhaften Reiches in friedlicher Ruhe und Wohlstand, auf rassischer Grundlage. Deshalb erstrebt jetzt der Leiter der deutschen Tibetexpedition, der Sahib Schäfer (She-par), zumal keine Schwierigkeiten im Wege stehen, bis zu einem unmittelbaren Verkehr mit Tibet nicht nur das Ziel der Festigung des (persönlichen) freundschaftlichen Verkehrs auf (unsere beiderseitigen) Regierungen. Nehmen Sie nun, Eure Exzellenz, Führer (wörtlich König) Herr Hitler, zu diesem Verlangen nach gegenseitiger Freundschaft, wie sie von Ihrer Seite ausgesprochen wurde, unsere Zustimmung.«35

Nach diesem erfreulichen Ausgang der Expedition machte sich das SS-Hauptquartier an die Umsetzung einer zweiten, größeren und weniger friedlichen Mission: die nächsten Deutschen, die im Himalaja kulturelle Gemeinsamkeiten bejubeln würden, sollten Soldaten sein. Ihr Ziel: von Tibet, der uneinnehmbaren Bergfeste, in die britische Kronkolonie, und nach China zu den dort stehenden verbündeten japanischen Truppen. Dass daraus nichts mehr wurde, lag am verloren gegangenen Krieg.

Das jähe Ende auch der zweiten militärischen Expansion des deutschen Imperialismus sollte die deutschen Strategien um Dominanz auch auf diesem Kontinent vorerst zum Erliegen bringen. Der nächste Abgesandte, der im Sinne Deutschlands in China tätig werden sollte, war für die Imperialisten insofern ein »Glückstreffer«, als dass sein Einsatz nirgendwo geplant wurde, aber trotzdem höchst erfolgreich werden sollte: Es handelt sich um den gebürtigen Österreicher Heinrich Harrer, dem man wohl mit Fug und Recht das größte Verdienst um die bis heute sehr engen Beziehungen der BRD zur alten und mittlerweile exilierten tibetischen Feudalelite zusprechen kann.

Heinrich Harrer: Deutschlands inoffizieller Botschafter in Tibet

Wohl keiner dürfte einen solchen prägenden Einfluss zumindest auf die westliche Tibet-Wahrnehmung ausgeübt haben wie eben jener Harrer: der Grazer Extrembergsteiger, bereits seit 1933 (also noch in der Illegalität) SA-Mitglied im (damals unabhängigen) Österreich und später nach der Annexion Österreichs auch im »schwarzen Korps« SS und in der NSdAP (seit 1938), geriet im Jahre 1939 gemeinsam mit seinem Bergsteigerkollegen Peter Aufschnaiter in britische Kriegsgefangenschaft, nachdem sie bei dem Versuch, den Berg Nanga Parbat zu besteigen, in Indien vom Beginn des Zweiten Weltkrieges überrascht wurden. Der damalige Mitgefangene im britischen Internierungslager Fritz Kolb, überzeugter Antifaschist und im Lager in ständiger Todesangst vor den dort offen gewalttätig auftretenden Nazis unter den Häftlingen, schilderte Harrer später als einen der gefährlichsten Obernazis im Lager: Harrer hätte sich mehrfach mit der Teilnahme an der Brandstiftung, die während der »Reichspogromnacht« gegen die Grazer Synagoge verübt wurde, gebrüstet.36 Harrer hielt es nicht lange im Kriegsgefangenenlager in Indien. Gemeinsam mit Aufschnaiter brachen die geübten Alpinisten (Harrer gehörte zu den Erstbesteigern der Eiger Nordwand) aus dem Camp aus und flüchteten über den Himalaja, nach Tibet. Ihr Ziel war, so Harrer in seiner Autobiographie »Sieben Jahre in Tibet«,37 die japanische Front in China. Von den verbündeten Japanern erhofften sie sich die Ermöglichung einer raschen Heimreise nach Deutschland; in Europa tobte der Zweite Weltkrieg, und so weit ab vom Geschehen in Indien festzusitzen entsprach weder Wunsch noch Weltbild der jungen Männer. Tibet war dabei nur als Durchgangsstation ihrer Reise geplant; der Buchtitel verrät jedoch bereits, das aus der Fraternisierung mit den in China kämpfenden japanischen Faschisten nichts wurde: Harrer sollte den gesamten zweiten Weltkrieg und die ersten Nachkriegsjahre auf dem Hochplateau verbringen. Nach einer beschwerlichen und gefahrvollen Reise über die bis zu 6000 Meter hohen Gebirgspässe, mehrfachen Schummeleien mit gefälschten Grenzpapieren und Bestechung von Zollbeamten schaffte Harrer es gemeinsam mit Aufschnaiter bis nach Lhasa – sie waren dort zwar weder die ersten noch die einzigen Ausländer, doch war die Fremdenkolonie der Stadt überschaubar: Ein englischer Diplomat residierte dort.

Nun gehen die Darstellungen der Beteiligten auseinander: Heinrich Harrer selbst schildert in seinem Buch, wie er bis zum Hauslehrer des jungen 14. (des jetzigen) Dalai Lama aufstieg: er will ihn in Englisch, Geographie und Naturwissenschaften sowie anderen Fächern unterrichtet haben; besondere Freude hätte dem unterdessen 15-jährigen Knaben das Betrachten militärischer Bildbände über den Zweiten Weltkrieg bereitet. Obendrein sei er, Harrer, es gewesen, der die vom verstorbenen 13. Dalai Lama hinterlassenen Filmprojektoren zum Laufen gebracht hat und so dem jungen Herrscher ein eigenes Kino einrichtete – der Dalai Lama hätte unwirsch bis beleidigt reagiert, wenn der deutsche Hauslehrer zu spät zum üblichen Termin eingetroffen sei, so wichtig seien ihm die Zusammenkünfte mit dem Ausländer gewesen. Von »Kundün«, dem »Ozean der Weisheit«, war Harrer laut eigener Aussage sehr angetan: »Seine Haut war viel heller als die des Durchschnittstibeters und noch um einige Schattierungen lichter als die der Lhasa-Aristokratie. [Wir erinnern uns an das »arische« Aussehen des Adels, das »Rassenexperte« Beger bereits Jahre vorher festgestellt hatte! Anm. d. Verf.] Seine sprechenden, kaum geschlitzten Augen zogen mich gleich in ihren Bann; sie sprühten vor Leben und hatten nichts von dem lauernden Blick vieler Mongolen«.38 Der Dalai Lama selbst erwähnt den Namen Heinrich Harrer in seinem ersten, 1962 erschienenen Buch »Mein Leben und mein Volk – die Tragödie Tibets«, allerdings mit keiner Silbe, obwohl er durchaus über die in Lhasa anwesenden Ausländer zu berichten weiß, die laut Harrers Selbstauskunft nicht einmal annähernd an die eigene Rolle am Herrscherhof herankamen. Heinrich Harrer verließ Tibet 1950, kehrte 1952 nach Österreich zurück und vermarktete seitdem äußerst gewinnbringend seine Tibet-Erfahrungen: Sein Buch »Sieben Jahre in Tibet« wurde schnell zum Bestseller; bis heute führt es die Rankings der Reise- und Abenteuerliteratur in Deutschland unangefochten an. Jüngst wurde der Stoff verfilmt, mit Brad Pitt in der Hauptrolle: Harrer ließ es sich nicht nehmen, noch als Hochbetagter den Schauspieler persönlich zu instruieren. Auch die Wertschätzung, die Heinrich Harrer durch den Dalai Lama später erfahren sollte, ändert sich auf einmal: Die Wichtigkeit des umtriebigen Abenteurers für das eigene Marketing erkennend, rückt sich der Dalai Lama ab jetzt regelmäßig mit Harrer ins rechte Medienlicht. Der Österreicher wird der beste »Verkäufer« in Sachen »free Tibet«. Auf einmal erinnert sich der Dalai Lama daran zurück, dass er und Harrer seit der ersten Zusammenkunft (auf einer Massenprozession, die keinerlei Möglichkeit des direkten Kontakts bot, bei der Harrer aber bereits nach eigener Aussage »Blickkontakt« mit dem jugendlichen Dalai Lama aufgenommen haben will!) schon »sehr gute Freunde« gewesen seien.39 Auch in späteren Jahren treffen die beiden oft zusammen, und was für einen Mann der Dalai Lama als Chefpropagandisten an der Hand hat, ist ihm vollauf bewusst. In einem Interview 1997, mit den damals im Zuge der geplanten Verfilmung von »Sieben Jahre in Tibet« bekannt gewordenen Naziverstrickungen Harrers konfrontiert, offenbart der »Ozean der Weisheit« sein Geschichtsverständnis: »Natürlich wusste ich, dass Heinrich Harrer deutscher Abstammung war – und zwar zu einer Zeit, als die Deutschen wegen des Zweiten Weltkrieges weltweit als Buhmänner dastanden. Aber wir Tibeter haben traditionsgemäß schon immer für die Underdogs Partei ergriffen und meinten deshalb auch, dass die Deutschen gegen Ende der vierziger Jahre von den Alliierten genug bestraft und gedemütigt worden waren. Wir fanden, man sollte sie in Ruhe lassen und ihnen helfen.«40 Der Bergsteigerkollege Reinhold Messner, ebenfalls bekannt vor allem durch seine Reiseliteratur, hat Harrer ebenfalls kennengelernt. Er schreibt im selben Jahr, 1997: »Immer wieder kam von Heinrich Harrer die Kritik, wir Jungen könnten nicht mehr Seilschaften fürs Leben bilden, uns fehlten Intensität, Treue und Ausdauer. Er hält immer noch für richtig, was die Nazis gepredigt haben.«41

Die zweite Welle der Tibetbegeisterung im Westen wurde initial maßgeblich von Harrer und seinen Publikationen gezündet: Auf einmal rückte das ferne Märchenland wieder ins öffentliche Bewusstsein; diesmal jedoch weniger als geheimnisvolles, abgeschlossenes Reich, sondern vielmehr als Exempel für die grausame Unterdrückungspolitik der Kommunisten. Denn die chinesischen Kommunisten waren der Grund, warum Heinrich Harrer Tibet 1950 überstürzt verlassen musste und sein Freund und Schüler, der Dalai Lama, ihm einige Jahre später folgte.

Xinjiang

Die Autonome Region Xinjiang, teilweise besiedelt von der nationalen Minderheit der überwiegend muslimischen Uiguren, befindet sich innerhalb Chinas ebenfalls unter Minderheitenstatut. Das Minderheitenstatut regelt den Unterricht der nationalen Minderheiten auch in ihrer Muttersprache, die Zweisprachigkeit aller offiziellen und behördlichen Texte sowie den besonderen kulturellen Schutz der nationalen Minderheiten.

Die Autonome Region Xinjiang ist noch unter einem anderen Namen bekannt, nämlich »Ost-Turkistan«, und auch dort gibt es Separatisten, die hier unter islamistischem Gewand versuchen, diese Provinz aus China herauszureißen und einem Phantasie-Großreich aus Turkstaaten einzuverleiben. Der Name »Ost-Turkestan« soll illustrieren, dass es sich hier um den östlichen Teil des Großturkreiches handelt – der westliche wäre die Türkei. Die ostturkestanischen Separatisten streben ein solches Großreich unter islamistischer Herrschaft an und sind bereits lange für ihre Ziele aktiv, auch wenn das islamistische Label für ihre Aktivitäten in letzter Zeit stärker betont wird. Gerade die unmittelbare Nähe zu Afghanistan, wo islamistische Rebellen (hauptsächlich durch die USA) aufgerüstet und bewaffnet wurden, hat der ostturkestanischen Separatismusbewegung deutlichen Auftrieb gegeben. Neben der Unterstützung des tibetischen Separatismus ist dies ein weiterer Versuch des deutschen Imperialismus, durch unmittelbare Unterstützung terroristischer und separatistischer Organisationen einen Hebel an die territoriale Integrität Chinas zu setzen.

Mit dem »World Uyghur Congress« (WUC) wurde eine Dachorganisation über verschiedene separatistische Gruppen geschaffen; zugleich konnte die Exil-Uigurin Rabiya Kadeer als Symbolfigur des uigurischen »Widerstands« aufgebaut werden. Kadeer, in den 1990er Jahren eine der reichsten Privatunternehmerinnen der Volksrepublik China und zu dieser Zeit auch Mitglied des Nationalen Volkskongresses, geriet nach chinesischen Angaben 1999 mit ihren geschäftlichen Unternehmungen in finanzielle und juristische Schwierigkeiten. Eine achtjährige Gefängnisstrafe wegen Unterschlagung und Korruption musste sie allerdings nicht komplett absitzen. 2005 konnte sie – zu medizinischer Behandlung – in die USA ausreisen, wo bereits ihr zweiter Ehemann, ein prominenter uigurischer Separatist, im Exil lebte. Seitdem widmet sich Kadeer der Bündelung der exil-uigurischen Kräfte, fungiert seit 2006 als WUC-Präsidentin und lässt sich medial als »Mutter aller Uiguren« feiern. Wie ihr erklärtes Vorbild, der Dalai Lama, ist auch sie schon mehrfach für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen worden, bislang allerdings ohne Erfolg. Hinter dem »World Uyghur Congress« und seiner Vorsitzenden stehen knallharte Interessen – vor allem das Interesse an einer Abspaltung der Autonomen Region Xinjiang. Die Dachorganisation WUC, an deren Gründung laut Erkenntnissen Beijings unter anderem Terrororganisationen wie das auf der US-Terrorliste verzeichnete »East Turkistan Islamic Movement« (ETIM) beteiligt gewesen sein sollen, hat ihren Hauptsitz in München. Kadeers Vorgänger im Amte des WUC-Vorsitzenden, der Münchner Erkin Alptekin, ist eine Schlüsselfigur des uigurischen Separatismus. Alptekin, seit 1971 mit festem Wohnsitz in Deutschland und im Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft, hütet dabei die Familientradition: Sein Vater Isa Yusuf Alptekin spaltete 1933 Teile der heutigen Autonomen Region Xinjiang von China ab und gründete eine »Türkisch-Islamische Republik Ost-Turkistan«, der allerdings nur rund drei Monate Existenz beschieden waren. Sein Sohn Erkin, der lange Jahre für das CIA-gesteuerte »Radio Free Asia« an einer Schaltstelle antichinesischer Diversionsarbeit tätig war, initiierte 1991 in der bayerischen Landeshauptstadt die »Eastern Turkestan Union in Europe« und 2004 schließlich den »World Uyghur Congress«.

Weder die Wahl Münchens zur heimlichen Hauptstadt »Ost-Turkistans« noch die Nähe zu terroristischen Gruppierungen, denen Verbindungen zu Al-Qaida und islamistischen Untergrundorganisationen nachgesagt werden, sind Grund zur Sorge für die deutsche Politik. Im Gegenteil: Die Protegierung der Exil-Uiguren hat System. Ein guter Teil der WUC-Führungsriege lebt im deutschen Exil, so beispielsweise auch dessen Statthalter in München und einer der Stellvertreter Rabiya Kadeers, Asgar Can. Ihre Kontakte in die Münchner Lokalpolitik wie auch zum Auswärtigen Amt sind eng und werden keineswegs verborgen. So nahm im vergangenen Jahr, als im Westen die Tibet-Kampagne gegen Beijing tobte, der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung an einer WUC-Tagung in Berlin teil. Rabiya Kadeer hielt sich bereits mehrfach zu Gesprächen in Berlin auf. Schützenhilfe gibt – wie stets, wenn es um angeblich unterdrückte Ethnien geht – die »Gesellschaft für bedrohte Völker«, die sich zuletzt für die Aufnahme von 17 in Guantanamo festgehaltenen Uiguren in der Bundesrepublik stark machte.42

Innere Mongolei

Die Autonome Region Innere Mongolei ist die dritte große unter Autonomiestatut stehende Provinz Chinas mit der bevölkerungsmäßig starken Minderheit der Mongolen, die neben der chinesischen Provinz Innere Mongolei vor allem die Äußere Mongolei, einen unabhängigen Staat, der bis 1911 zu China gehört hat, besiedeln. Die Äußere Mongolei war bis 1991 als Mongolische Volksrepublik ein sozialistischer Staat; seit dem Sieg der Konterrevolution gibt es auch dort eine Renaissance völkischen Gedankenguts und »groß-mongolischer« Träumereien: Unter der Flagge des einstigen Großreichs Dschingis Khans wird auch dort von mongolischen Nationalisten eine Neuauflage eines mongolischen Großreichs angestrebt, das selbstverständlich auch die zu China gehörende Innere Mongolei zu umfassen hätte. Der mongolische Separatismus ist ein weiteres Einfallstor imperialistischer Aktivitäten, und auch dort hat der deutsche Imperialismus ganz traditionell seine Finger im Spiel. Schon seit den 20er Jahren gab es Versuche der Kontaktaufnahme zur mongolischen Regierung, die zunächst durch die sozialistische Revolution beendet wurden und nach 1991 eine Neuauflage erlebten.

»Geburt einer Weltmacht?«43: Warum China für das deutsche Kapital interessant – und beängstigend – ist

Die VR China ist ein Land, das noch vor einigen Jahrzehnten in halbfeudalen und halbkolonialen Zuständen gefangen war und das von kaum einer der Katastrophen des 20. Jahrhunderts, von Zerschlagungsversuchen europäischer Kolonialmächte bis hin zu faschistischen Eroberungskriegen, verschont blieb. Durch die Befreiung aus der eigenen Ausbeutung und Unterdrückung wurde sie zu einer Hoffnung der Ärmsten der Erde. Ihre jetzige wirtschaftliche Entwicklung bringt das Kapital weltweit ins Schwitzen. 2007 war der Anteil Chinas am Wachstum der Weltwirtschaft der mit Abstand größte. Je nach Methode (oder auch Betrachtungswinkel)44 entfielen auf China 20 bis 35 Prozent des gesamten Wachstums der Weltwirtschaft, wohingegen zum Beispiel die gesamte EU nur etwa 10 Prozent Wachstumsanteil erreichte.

Die VR China hat zudem zu allem Überfluss in letzter Zeit ihre Anstrengungen intensiviert, in Afrika ökonomisch Fuß zu fassen. Auch dies ein Affront, konnten sich doch die Imperialisten seit Ende der Kolonialzeit mit Krediten, Aufträgen und Bedingungsvorschriften gegenseitig die Klinke in die Hand geben, ohne irgendwelche Konkurrenz von Seiten anderer Länder oder gar der Afrikaner selbst befürchten zu müssen. Bundesfinanzminister Peer Steinbrück beklagt sich denn auch: »Einige Länder Asiens – maßgeblich ein Land – gewähren Kredite auch im Hinblick auf die Absicherung der eigenen Rohstoffinteressen.«45 – was die BRD selbst natürlich niemals täte. Und auch die »Entwicklungshilfeministerin« Heidemarie Wieczorek-Zeul weiß: »Es geht sehr stark um Rohstoffausbeutung in Afrika«. Für Europa müsse dies ein »Weckruf«46 sein. Besonders dreist an den chinesischen Krediten für afrikanische Staaten: Sie kommen ohne die üblichen Bedingungen daher, mit denen die Imperialisten für gewöhnlich schon im Vorfeld regeln, wohin die Gelder wieder verausgabt werden dürfen (in die eigenen Taschen nämlich), und verpflichten die Kreditnehmer nicht zu weiteren Privatisierungen, die ebenfalls – der Markt regelt’s – den Meistbietenden (und damit Meistbesitzenden) begünstigen. Ganz klar: »Peking ignoriert Spielregeln der Geberländer für Kreditvergaben«.47 Den afrikanischen Staaten kommen die chinesischen Kredite, die oftmals noch an größere Infrastrukturprojekte (z. B. Schnellstraßen in Nigeria, ein Telefonnetz in Ghana, Aluminiumwerke in Ägypten oder Dammbauten in Moçambique) gekoppelt sind, jedoch gelegen – diesen Widerspruch fasst die bürgerliche FAZ so zusammen: »Die Kritik [von deutscher Seite] ist brisant, weil der Handel zwischen Afrika und Asien zu blühen beginnt, dies Afrika hilft und deshalb willkommen ist.« So geht es nicht, und deshalb fügt Steinbrück hinzu: »Dem müssen wir einen Riegel vorschieben«.48

Die VR China ist zu einem Faktor geworden, an dem kein Land der Erde vorbeikann, erst recht nicht der aufstrebende deutsche Imperialismus, der in alle Teile der Erde seine Fühler ausstreckt, um sich zum dritten Anlauf auf den sonnigsten Platz auf Erden zu rüsten.

China weckt deutsche Begehrlichkeiten – und macht der herrschenden Klasse zugleich Angst. Wohl kaum ein nichtimperialistisches Land ist für den deutschen Imperialismus derzeit so wichtig und bereitet dabei doch so viele Schwierigkeiten bei der imperialistischen Einflussnahme. China wirtschaftet eigenständig, setzt die Bedingungen für ausländische Investitionen und hat immer noch eine nationale Gesetzgebung, die das ausländische Kapital einschränkt. Gleichzeitig erdreistet sich das Land, mit dem deutschen Imperialismus auf Augenhöhe zu verhandeln, gemischte Besitzformen (sog. »Joint-Ventures«) vorzuschreiben und damit Patentabfluss zu erzwingen. All das erfordert neue und aggressive Methoden des deutschen Imperialismus, um im heiß umkämpften chinesischen Markt nicht den Anschluss zu verlieren, politische Druckmittel und Einflussmöglichkeiten zu gewinnen und sich gleichzeitig gegen die drohende weltweite Konkurrenz zu erwehren. Die deutschen Methoden resultieren aus den Besonderheiten der deutschen Entwicklung – und verdienen gerade unser Augenmerk im Kampf gegen die eigene Bourgeoisie.

Diesem Widerspruch aus kurzfristigem ökonomischem Kalkül nach Profitmaximierung und dem langfristigen imperialistischen Ziel der Hegemonie über China geschuldet sind die ambivalenten Signale, die nach China gesandt werden. Ein aktuelles Beispiel: Zeitgleich zum größten Trommelfeuer deutscher Medien während der im März 2009 gestarteten antichinesischen Hetzkampagne empfing die Bundeskanzlerin den Dalai Lama bei seiner gerade beendeten Deutschland-Tournee diesmal nicht, obwohl sie beim letzten Deutschland-Besuch des »Ozeans der Weisheit« im vorangegangenen Jahr diesen diplomatischen Dammbruch wagte. Es blieb bei einem Stelldichein des Dalai Lama bei Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (Mitglied der SPD – was deutlich macht, dass die Grenzen der unterschiedlichen Kapitalfraktionen durchaus quer durch die Parteien verlaufen können); lediglich zwei Regierungschefs einzelner Bundesländer (Roland Koch, Hessen; Jürgen Rüttgers, Nordrhein-Westfalen) sowie Abgeordnete des Deutschen Bundestags (darunter der Parlamentspräsident) kamen mit dem Dalai Lama zusammen. Dem im Berliner Nobelhotel Adlon residierenden religiösen Oberhaupt der Tibeter blieb die höchste staatliche Anerkennung diesmal versagt.49

Die Unterstützung separatistischer Aktivitäten in den Autonomen Regionen Tibet, Xinjiang und Innere Mongolei sind die drei wesentlichen Hebel, die unter anderem und oft maßgeblich vom deutschen Imperialismus zur territorialen Zersplitterung Chinas angestrengt werden. Dazu kommt, dass deutsche Soldaten unterdessen direkt an der chinesischen Grenze stehen, und zwar im Rahmen der ISAF-Mission in Afghanistan, wo das deutsche Protektorat direkt zu Chinas Provinz Xinjiang benachbart ist. Dies sind jedoch nicht die einzigen »Baustellen« der Imperialisten. Auch über innere Aufweichung, oftmals wieder organisiert durch deutsche NGOs wie die SPD-nahe »Friedrich-Ebert-Stiftung« oder die CDU-nahe »Konrad-Adenauer-Stiftung« oder auch die DGB-Stiftung, die beim »demokratischen Transformationsprozess« in eine chinesische »Zivilgesellschaft« »helfen« sollen, findet Wühltätigkeit statt. All dies braucht unsere Aufmerksamkeit und Wachsamkeit: Tibet ist erst der Anfang.

Um dies deutlich zu sagen: Die Widersprüche verlaufen nicht zwischen »pro-chinesischen« und »anti-chinesischen« Kräften in deutschen Konzern- und Regierungsetagen. Das Ziel aller Imperialisten bleibt das Gleiche, es ist dies die Weltherrschaft. Über die Wege, abhängig von einzelnen Ländern und den unterschiedlichen und oftmals widersprüchlichen ökonomischen Bedürfnissen einzelner Monopole (und selbst innerhalb der einzelnen Monopole!), wird gestritten. Der bürgerliche Staat sei »ideeller Gesamtkapitalist«, schrieb Marx. Der Staat des Monopolkapitalismus ist nicht weniger ideeller Gesamt-Imperialist, der in Form von Kompromissen die Interessen der verschiedenen Kapitalfraktionen zu einen und umzusetzen sucht. Im Falle Chinas sind die Widersprüche mehrfacher Natur und nicht einfach gleichzusetzen mit innerimperialistischen Widersprüchen bspw. zwischen der BRD und den USA oder den Interessen des Imperialismus gegenüber abhängigen kapitalistischen Ländern, wie zum Beispiel gegenüber der Tschechischen Republik oder Indien. China ist nicht imperialistisch, nicht kapitalistisch, sondern sozialistisch.

Ein Widerspruch verläuft also zwischen den Gesellschaftssystemen und manifestiert sich im Zwang des Imperialismus, sozialistische Staaten eliminieren zu müssen. Auf dieser Ebene sind durchaus Kompromisse, Bündnisse und gar strategische Zusammenschlüsse (auf Zeit) zwischen ansonsten rivalisierenden imperialistischen Metropolen möglich.

Auf anderer Ebene hat die BRD ökonomisches Interesse an der VR China. Dieses wird derzeit nur bedingt dadurch behindert, dass in China ein sozialistisches Gesellschaftssystem existiert, denn für den »Exportweltmeister« BRD sind die Profite aus dem China-Handel bei der derzeitigen Stagnation geradezu überlebenswichtig. Auch wenn langfristig der Sozialismus in China die Rendite verdirbt, besteht doch kurzfristiges Interesse an stabilen Beziehungen zu China, bis hin zu Verbrüderungsideen gegen imperialistische Konkurrenten.

Aus beiden Faktoren – überlegenes, weil fortschrittlicheres Gesellschaftssystem und ökonomische Stärke – wird China allerdings zu einem Konkurrenten neuer Qualität, nämlich als starkes, nicht-abhängiges und nicht-imperialistisches Land. Die Strategie des deutschen Imperialismus oszilliert zwischen den möglichen Optionen der Zusammenarbeit und Kooperation mit China auch gegen andere Imperialisten und offener Konfrontation gegen China im Bündnis mit anderen Imperialisten. Welche Fraktion die Oberhand gewinnt, ändert sich oftmals schnell. Ihr Ziel, nämlich auf Kosten aller anderen Länder weltweite Hegemonie zu erringen, bleibt gleich.

Chinas wachsende wirtschaftliche Bedeutung weltweit, die Möglichkeiten des Landes, sich gegen imperialistische Zugriffsversuche zu wehren und die Option auf weiteres friedliches Wachstum sind keine Naturgesetze. Die Furcht der deutschen Ökonomen und Geostrategen, in statischen Wachstumsziffern festgemacht, die lineare Entwicklungen in Dekaden fortschreiben, und ihre ans deutsche oder chinesische Publikum formulierten »Wünsche« für die »Zukunft« Chinas sind immer auch der (zunächst theoretische) Versuch, Chinas Entwicklung zu bremsen, wo sie nicht mehr deutschen Interessen nutzbar gemacht werden kann, und zu zerstören, wo sie mit deutschen Interessen kollidiert.

Die Existenz Chinas als einheitliches, starkes Land legt dem deutschen Imperialismus Fesseln auf und wird allein dadurch (und ungeachtet der verschärfenden Frage der Gesellschaftsordnung) zu einem Hindernis für den deutschen Imperialismus und möglichen globalen Konkurrenten desselben. Aufgrund dieser Relevanz Chinas ist es nach imperialistischer Logik langfristig nötig, das Land unter Kontrolle zu bekommen. Aus demselben Grund – der großen Relevanz Chinas für den deutschen Imperialismus – ist es unsere Aufgabe, den Aktivitäten der deutschen Imperialisten gegenüber China besonderes Augenmerk zu widmen. Unter der bereits historischen Losung, die die damalige KPD in den zwanziger Jahren prägte – »Hände weg von China!« – sollte es auch heute unsere Aufgabe sein, Solidarität mit China zu üben und sich hierbei nicht von der Frage, mit welcher Gesellschaftsordnung wir es in China genau zu tun haben, beirren zu lassen. Ob als sozialistisches Land oder als nicht-sozialistisches, dann abhängiges Land: unsere Solidarität, unsere Unterstützung im Kampf um den Erhalt der territorialen Integrität gegen die Obstruktionsversuche des deutschen Imperialismus verdient China so oder so.

eingeschossen hat, organisierte übrigens am 10. Juli 2009 eine Protestdemonstration vor der chinesischen Botschaft in Berlin – Motto: »Chinesischem Staatsterror gegen die Uiguren Einhalt gebieten«.


  1. Die feudale Wirtschaft unterliegt nicht den Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus; die insbesondere auf agrarischer Produktion basierende Feudalwirtschaft kennt keinen Zwang zur Vergrößerung von Absatzmärkten. 

  2. Der britische Teeanbau insbesondere in Indien begann erst später und war eine direkte Folge der Importabhängigkeit von China – ursprünglich war China das einzige teeproduzierende Land der Erde. 

  3. Der Erste Opiumkrieg (1839-42) zwischen Großbritannien und dem Kaiserreich China der Qing-Dynastie. Als Ergebnis des Krieges wurde China zur Öffnung seiner Märkte und insbesondere zur Duldung des Opiumhandels gezwungen. Der Zweite Opiumkrieg (1856-60) oder »Arrow-Krieg« Großbritanniens und Frankreichs gegen das Kaiserreich China endete mit dem »Vertrag von Tianjin« und der »Pekinger Konvention«, die in dieser Form von Kaiser Xianfeng am 18. Oktober 1860 ratifiziert wurden. Damit ergab sich für Großbritannien, Frankreich, Russland und die USA das Recht, in Beijing (bis dahin eine geschlossene Stadt) Botschaften zu eröffnen. Diese Abkommen öffneten elf weitere Häfen für den Handel mit dem Westen, der Opiumhandel wurde legalisiert und Christen bekamen das Recht, die chinesische Bevölkerung zu missionieren sowie Eigentum zu besitzen. 

  4. Chinesische Geschichte, Verlag für fremdsprachige Literatur, Beijing 2003, S. 164 

  5. Als Warlords werden irreguläre Herrscher bezeichnet, die meist lokal begrenzte Gebiete unter ihre Kontrolle bringen und dort dem Charakter nach unter feudalen Verhältnissen herrschen. 

  6. Die korrekte chinesische Umschrift für Chiang Kai-shek lautet Ji␣ng Jièshí. Wir benutzen im Folgenden ausnahmsweise ausschließlich die beinahe weltweit (und auch in fremdsprachigen chinesischen Medien) gebräuchliche Umschreibung Chiang Kai-shek, die der tatsächlichen Aussprache des Namens jedoch nicht entspricht. 

  7. Die deutschen Delegationsleiter waren allesamt keine unbekannten Gesichter: als kommissarischer Nachfolger des verstorbenen Bauer wurde der Teilnehmer an Hitlers gescheitertem Putschversuch von 1923, Oberstleutnant Kriebel, eingesetzt. 

  8. Vgl. Martin, Bernd: Die deutsche Beraterschaft in China (1927-1938), Militärgeschichte 29 (1990), S. 530-537 

  9. J. B. Seps, General Georg Wetzell, in: Martin, S. 177 ff. 

  10. 8.4.1936, Akten zur deutschen auswärtigen Politik, Serie C, Bd. 5, Dok. Nr. 270 

  11. A. Dirlik, The Ideological Foundations of the ›New Life Movement‹. A Study in Counterrevolution, in: Journal of Asian Studies. 1975. S. 945-980. Zitiert nach: Martin. 

  12. W. C. Kirby, Germany and Republican China, Stanford/Cal. 1984, S. 71 

  13. ebenda, S. 201 ff. 

  14. »China has closer relations with Germany than with any other foreign power and her whole economy – commercial, political and military – is an open book for Germans here.« (The Times, 27.11.1935) 

  15. K. Drechsler, Deutschland – China – Japan. Das Dilemma der deutschen Fernostpolitik. Berlin/DDR, 1964. 

  16. Im sog. »Zwischenfall von Xi’an«, bei dem Chiang Kai-schek 1936 vom Warlord Zhang Xueliang und seinem eigenen General Yang Hucheng gekidnappt, in der Stadt Xi’an gefangen gehalten und zum patriotischen Bündnis mit der Kommunistischen Partei Chinas, der sog. »zweiten Einheitsfront« (nach der ersten Einheitsfront mit der Guomindang unter Dr. Sun Yat-Sen) gegen die japanischen Aggressoren gezwungen wurde, fand diese Entwicklung eine Wende: bis 1945 sollten Guomindang und KP China gemeinsam gegen Japan kämpfen. 

  17. Im von Japan errichteten Phantasiestaat »Manschukuo« wurde der letzte Kaiser Chinas, Pu Yi, als Marionettenherrscher eingesetzt. 

  18. Vgl. Zheng, Shan: A History of Development of Tibet. Foreign Language Press, Beijing 2001. S. 114 ff. 

  19. Vgl. Ying, Chenqing: Tibetan History. China Intercontinental Press, 2003. S. 61ff. 

  20. Vgl. Goldner, Colin: »Ahnungslose Schwärmerei«, Junge Welt, 26.3.2008 

  21. Vgl. hierzu: Ga, Zangjia: »Tibetan Religions«, China Intercontinental Press, 2003 

  22. Siehe Fußnote 3. 

  23. Vgl. hierzu: »Regulations of the Republic of China Concerning Rule Over Tibet«, Compiled by China National Center for Tibetan Studies, China No. 2 History Archives. China Intercontinental Press, 1999. 

  24. Da die Phase der angeblichen »Unabhängigkeit« Tibets zwischen 1913 und 1951 eine wesentliche Rolle in der Argumentation der exiltibetischen Seite darstellt, sei auch darauf verwiesen, dass es keinerlei völkerrechtlich verbindliche Klärung, bspw. seitens der UNO, zu dieser Frage gibt. Das »unabhängige Tibet« ist historisch nicht haltbar. 

  25. Vgl. Historische Koordinaten Tibet-China, China Intercont. Press, 1997 

  26. zitiert nach: Goldner, Colin: Dalai Lama, Fall eines Gottkönigs, Aschaffenburg, 1999, S. 24 

  27. zitiert nach: ebenda, S. 22 f. 

  28. zitiert nach: ebenda, S. 32 ff. 

  29. Vgl. Trimondi, V. & V.: Hitler, Buddha, Krischna, Wien, 2002, S. 156 

  30. Die Basis für die – bis heute – in esoterischen Kreisen höchst populären rassistischen Verschwörungstheorien um das »arische Tibet« legte die Gründerin der »Theosophischen Gesellschaft«, Helena Blavatski. Sie verbreitete in ihrem (gefälschten) Reisebericht über Tibet den Mythos einer arischen Siedlung unter dem Himalaya, die von einer weißen arischen Bruderschaft geführt würde. Der tibetische Klerus wie auch Teile der tibetischen Bevölkerung seien nach Blavatski ebenfalls den »Ariern« zuzurechnen und würden damit als Bundesgenossen der »Germanen« in Frage kommen. Während des deutschen Faschismus versuchten verschiedene Pseudowissenschaftler aus dem Dunstkreis der SS, diesen Unfug mit verschiedenen Mitteln wie Schädelvermessungen und dergleichen zu belegen. 

  31. Trimondi, V. & V.: Hitler, Buddha, Krischna, Wien, 2002, S. 133 f. 

  32. Dazu zählte u. a. eine »Indische Legion« aus 3.000 indischen Kriegsgefangenen, die an der Westfront gegen die Alliierten (britische, amerikanische und kanadische Soldaten) eingesetzt wurde. Der antibritische Kampf an der Seite der deutschen Faschisten wurde im Wesentlichen geführt von Subhas Chandra Bose, von 1937-39 Generalsekretär des Indischen Nationalkongresses, damals noch unterstützt von linken Nationalisten, Sozialisten und Kommunisten. Der Versuch Großbritanniens, mit der Einführung des Kriegsrechts 1939 Indien im innerimperialistischen Krieg an die Seite Großbritanniens zu zwingen und jede Unabhängigkeitsforderung Indiens zu ersticken, trieb ultralinke Kräfte, darunter Bose, in die Arme des japanischen und deutschen Imperialismus. Sie begriffen nicht, im Übrigen ebenso wenig die bürgerlichen Befreiungskräfte um Gandhi, dass der Krieg mit dem Angriff auf die Sowjetunion seinen Charakter geändert hatte und zu einem antifaschistischen, gerechten Krieg der Völker gegen die faschistische Aggression wurde. Damit wurden sie für die faschistischen Kräfte leichte Beute, ebenso für den britischen Imperialismus, den sie damit nicht schwächen konnten, wohl aber die indische Unabhängigkeitsbewegung, die nun auch noch in dem Ruch stand, Faschisten zu unterstützen. (Vgl. Rajani Palme Dutt, »India Today«, 1940) 

  33. Im Auftrag der der SS angegliederten »Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe e.V.« betrieb Beger rassekundliche Forschungen, z. B. »zur Beschaffung von Judenschädeln zur anthropologischen Untersuchung« durch Selektion im KZ Auschwitz. Die u. a. von Beger ausgesuchten Häftlinge wurden vergast. Beger wurde erst 1970 vor dem Landgericht Frankfurt am Main wegen Beihilfe zum Mord angeklagt. Das Gericht verurteilte ihn am 6. April 1974 wegen Beihilfe zu 86-fachem Mord zur Mindeststrafe von drei Jahren. Unter Anrechnung der Internierung nach dem Krieg und der Untersuchungshaft wurde ihm dabei der Strafrest wegen »guter Lebensführung« erlassen. 

  34. zitiert nach: Trimondi, V. & V.: Hitler, Buddha, Krischna, Wien, 2002, S. 150 

  35. zitiert nach: ebenda, S. 130 

  36. vergl. Lehner, Gerald: zwischen Hitler und Himalaya, Wien, 2007, S. 65 

  37. Harrer, Heinrich: Sieben Jahre in Tibet, Berlin 2006 

  38. zitiert nach: ebenda, S. 368 

  39. Goldner, Colin: Dalai Lama, Fall eines Gottkönigs, Aschaffenburg, 1999, S. 83 

  40. zitiert nach: ebenda, S. 83 

  41. Messner, Reinhold: Zeitschrift »Alpin« München, 10.1997 

  42. Die Organisation, die sich seit jeher auf das Feindbild Volksrepublik China 

  43. Titel des »Spiegel« 42/2004 

  44. Grundsätzlich beinhalten solche Statistiken verschiedene Fehleranfälligkeiten und Ungenauigkeiten, auch ist Einiges letztlich von Definitionen abhängig. Daneben wird – zum Glück – nicht alles auf der Welt so genau erfasst wie beim Statistischen Bundesamt in Deutschland. Die hier genannten Daten zum Wachstumsanteil an der Weltwirtschaft gehen so auseinander, weil die Umrechnung eines Produktes in unterschiedlichen Währungen (in Dollar oder in Euro) erfolgen kann oder beim Vergleich unter Anderem große Unterschiede bei der Bewertung der Arbeitskraft erfolgen. Somit ist – auch beim Ausgehen von unstrittiger Produktmenge – das Ergebnis naturgemäß verschieden. Auch wenn dies für die Datenbeurteilung wichtig ist, so bleibt die Tendenz in der chinesischen Entwicklung dabei unstrittig. Siehe dazu auch FAZ vom 15.01.2008. 

  45. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.09.2006 

  46. Financial Times Deutschland/ FTD-Kompakt, 06.11.2006 

  47. Ebenda. 

  48. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.09.2006 

  49. Vgl. hierzu: www.german-foreign-policy.com, »Jederzeit mobilisierbar«, 19.05.2008, www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/57240